Zählen, Ziffern und Zahlen

Zählen kann man in vielen Sprachen. Allein die Art des Zählens unterscheidet sich. Oft werden die Finger zu Hilfe genommen, gelegentlich wohl auch Zehen. Dies spiegelt sich wider in den Bündelungen, mit der die Sprachen die Zählreihe ordnen: Die meisten Kulturkreise bündeln in Zehnerpotenzen. Azteken, Maya, aber auch die Kelten, bündelten gern in Vielfachen von Zwanzig, Babylonier sogar in Vielfachen von Sechzig. Selbst das Dutzend taucht ab und an als Basis auf. Obwohl sich das Dezimalsystem inzwischen weltweit mehr und mehr durchsetzt [1], sind andere Zählbündelungen allgegenwärtig: Schauen Sie nur auf eine Karte, den Kalender, die Uhr oder sprechen Sie die Zahl 80 auf französisch!

Um das Ergebnis einer Zählung schriftlich fixieren, benutzt man, selbst in Lautschriften wie der unseren, eigene Symbole, die Ziffern. Die Systematik, in der diese Ziffern zusammengesetzt werden, unterscheidet sich im Allgemeinen von der semantischen Zählweise. Die Ägypter, wie auch die Römer, hatten für die Zehnerpotenzen verschiedene Symbole [2]. Diese Art der Darstellung hat Nachteile: Zum Einen ist das Universum der so darstellbaren Zahlen a priori beschränkt. Zum Anderen ist das Rechnen relativ umständlich. Beide Nachteile werden im Stellensystem vermieden, dessen Wirkungsweise uns seit früher Kindheit geläufig ist. Wir benutzen dabei die sogenannten arabischen Ziffern, die eigentlich aus Indien stammen. Die Chinesen, Babylonier und Maya entwickelten jeweils analoge Stellensysteme. Ein Nebeneffekt dieser Stellensysteme ist übrigens die Notwendigkeit eines Lückenfüllers, der sich dann im Laufe der Jahrhunderte zu einer eigenständigen Zahl, der Null, mauserte.

Was ist nun eine Zahl? Diese Frage kann ich Ihnen, ehrlich gesagt, letztlich nicht beantworten. Aber ich will Ihnen dazu einige Aussprüche bekannter Mathematiker vorstellen:

Die ganzen Zahlen hat der liebe Gott gemacht, alles andere ist Menschenwerk.
(Leopold Kronecker, 1823-1891)

Die Zahlen sind freie Schöpfungen des menschlichen Geistes, sie dienen als Mittel, um die Verschiedenheit der Dinge leichter und schärfer aufzufassen. Durch den rein logischen Aufbau der Zahlenwissenschaft und durch das in ihr gewonnene stetige Zahlen-Reich sind wir erst in den Stand gesetzt, unsere Vorstellungen von Raum und Zeit genau zu untersuchen, indem wir dieselben auf dieses in unserem Geiste geschaffene Zahlenreich beziehen.
(Richard Dedekind, 1831-1916)

Ob und wie diese Aussagen miteinander vereinbar sind, das möge jeder für sich entscheiden. Eine prägnante Formulierung, eher die Dedekindsche Vorstellung widerspiegelnd, stammt von Friedhelm Waldhausen, einem inzwischen emeritierten Kollegen hier in Bielefeld:

Die Zahlen, wie alle mathematischen Gegenstände, existieren nur in unserer Phantasie. Sie sind ein Mittel, mit denen wir unsere Gedanken ordnen.

Diesen Spruch will ich noch etwas erläutern. Die in der Natur vorkommenden Zahlen und das, was wir natürliche Zahlen nennen, sind zwei verschiedene Dinge. In der Natur kommen tatsächlich nur endlich viele Zahlen vor. Ein Kandidat für eine größte solche Zahl ist wohl die Anzahl der im beobachtbaren Universum existierenden Elementarteilchen. Grobe Abschätzungen dafür, welche Größenordnung diese Zahl hat, erhält man wie folgt: Die Astronomen erzählen uns , das Weltall habe einen Durchmesser von etwa 100 Milliarden Lichtjahren, das ist in Metern eine 27-stellige Dezimalzahl [3]. Gemessen in der Einheit Durchmesser eines Nukleons (d.h. etwa $10^{-15}$ Meter), ist das eine 42-stellige Dezimalzahl. Mehr als 126-stellig sollte die Zahl der Elementarteilchen also nicht sein.

Ein weiteres Problem mit den in der Natur vorkommenden Zahlen ist, dass sie sich im Allgemeinen nicht feststellen lassen. So beschreibt die Loschmidtsche Zahl 6,0221415$\cdot10^{23}$ die Anzahl von Atomen in 12 Gramm Kohlenstoff-12-Isotop. Das wäre ein Diamant mit 60 Karat, kaum größer ist als ein Stück Würfelzucker. Genauer als bis zur zehnten Stelle ist diese Zahl aber nicht bekannt und wohl auch nicht definiert. Selbst wenn ich Ihnen einen konkreten Diamanten mit 60 Karat präsentierte, so könnte niemand die exakte Anzahl seiner Atome bestimmen.

Und zum Zählen selbst: Wie weit kann ein Mensch wohl zählen, wenn seine Lebensspanne weniger als drei Milliarden Sekunden beträgt?

Wenn wir akzeptieren, dass die natürlichen Zahlen Konstrukte unserer Phantasie sind, so führt das sofort zu einem neuen Problem: Wie können wir entscheiden, ob eine Aussage, die wir über die Zahlen treffen, richtig oder falsch ist? Die Naturwissenschaften haben die Natur als obersten Schiedsrichter. Theoretische Physiker mögen sich Modelle ausdenken. Ob die Modelle taugen, darüber entscheiden Experimente. In der Mathematik haben wir keinen solchen obersten Schiedsrichter zur Verfügung. Unsere Vorgehensweise muss also anders sein. Um uns nicht in phantastischer Beliebigkeit zu verlieren, müssen wir sorgfältig und nach festen Spielregeln vorgehen. An Stelle von Experimenten benutzen wir in der Mathematik Beweise, um die Richtigkeit einer Aussage zu begründen.

Wenn ich Ihnen eine mathematische Aussage beweisen will, so führe ich Tatsachen an, von denen ich meine, dass diese von Ihnen ohne weitere Begründung sofort akzeptiert werden. Ferner benutze ich Schlussweisen, von denen ich meine, dass auch diese von Ihnen akzeptiert werden. Aufgrund solcher Schlussweisen folgere ich aus den bereits akzeptierten Tatsachen, dass die von mir behauptete Aussage tatsächlich gilt. Hierbei liegt die Betonung immer auf dem Wort akzeptiert. Um überhaupt beginnen zu können, müssen wir uns auf Grundtatsachen einigen, die wir nicht - zumindest nicht ohne Not - weiter hinterfragen wollen. Die Grundtatsachen nennt man Axiome. Um Axiome zu formulieren, benutzen wir Grundbegriffe, wie zum Beispiel Zahl oder Menge, die bestenfalls eine Vorstellung suggerieren mögen, letztlich aber nicht weiter definiert sind.

Nachdem wir also, dem Zitat von Herrn Waldhausen folgend, alle Objekte, die wir in der Mathematik betrachten, in das Reich der Phantasie verbannt haben, wo gibt es da noch einen realen Grund, sich mit diesen Fiktionen zu beschäftigen? Die Antwort liegt im zweiten Teil des Zitats: Die Mathematik erlaubt es uns, Gedankenmodelle der Realität zu bilden. Diese erlauben Vorhersagen über reale Vorgänge, die sich als erstaunlich präzise erweisen.

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[1] Immerhin war noch im Jahre 1970 das britische Pound Sterling zwanzig Shilling zu je zwölf Pence wert und selbst heute wird das Körpergewicht in Großbritannien in stones zu je 14 pound avoirdupois angegeben.

[2] Strich, Schulter, aufgerolltes Seil, Lotusblume bzw. I, X, C, M für 1, 10, 100, 1000.

[3] Darüber, ob ein Jenseits des Beobachtungshorizonts existiert und wie es beschaffen sein könnte, gibt es selbstverständlich vielerlei Spekulation.

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