Einführung alt

In wenigen Worten zu erklären, was Topologie oder Geometrie ausmacht, ist wohl nicht möglich. Zur Einführung will ich stattdessen zwei Phänomene besprechen, die der mathematischen Intuition, die Sie in den ersten Studiensemestern erworben haben, auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen. Ein Ziel der Vorlesung wird sein, das mathematische Rüstzeug für das Verständnis derartiger Phänomene und den Umgang damit bereitzustellen.

Grenzwerte konvergenter Folgen sind nicht immer eindeutig. In der linearen Algebra haben Sie gelernt, dass lineare geometrische Operationen wie Spiegelungen, Streckungen, Drehungen, Scherungen in der Ebene $\mathbb R^2$ oder im Raum $\mathbb R^3$ jeweils durch lineare Abbildungen beschrieben werden. Die Wahl einer Basis verwandelt eine solche lineare Abbildung in eine Matrix mit reellen Einträgen. Die Geometrie der Operation jedoch ist unabhängig von der Wahl einer Basis. Wird ein Endomorphismus $\phi\in\mathrm{End}(V)$ des Vektorraums $V$ bezüglich verschiedener Basen durch Matrizen $A$ und $A'$ dargestellt, so gibt es eine invertierbare Matrix $T$, die Basiswechsel-Matrix, mit $$A'=TAT^{-1}.$$ Jede invertierbare Matrix $T$ taucht auf diese Weise als Basiswechsel-Matrix auf.
Die Menge $Geo(\mathbb R^2)$ der linearen geometrischen Operationen der Ebene $\mathbb R^2$ wird folglich beschrieben durch eine Menge von Äquivalenzklassen von $2\times 2$-Matrizen, wobei zwei solche Matrizen $A$ und $A'$ genau dann äquivalent sind, wenn es eine invertierbare $2\times 2$-Matrizen $T$ gibt mit $A'=TAT^{-1}$.
Wir betrachten nun eine Folge $\phi_n$ von Elementen in $Geo(\mathbb R^2)$. Diese Folge konvergiert gleichzeitig gegen zwei verschiedene Grenzwerte: Wählen wir geeignete Basen für jedes $n$, so werde $\phi_n$ dargestellt durch die Matrix $$A_n=\left(\begin{array}{cc}
1 & 1\\
0 & \frac{n+1}{n}
\end{array}\right).$$ Die Folge der $\phi_n$ konvergiert offensichtlich gegen die Scherung, die repräsentiert wird durch die Matrix $$A_\infty=\left(\begin{array}{cc}
1 & 1\\
0 & 1
\end{array}\right).$$ Die Folge $\phi_n$ wird ebenso repräsentiert durch die Folge der Matrizen $$A_n'=\left(\begin{array}{cc}
1 & 0\\
0 & \frac{n+1}{n}
\end{array}\right),$$ die aus der Folge der $A_n$ vermittels der Basiswechsel-Matrizen $$T_n=\left(\begin{array}{cc}
1 & -n\\
0 & n
\end{array}\right)$$ hervorgeht. Die Folge $\phi_n$ konvergiert also ebenso offensichtlich gegen die Identität, repräsentiert durch die Matrix $$A_\infty'=\left(\begin{array}{cc}
1 & 0\\
0 & 1
\end{array}\right).$$
Gestalterkennung und topologische Invarianz der Dimension. Teilmengen $X\subset \mathbb R^m$ und $Y\subset \mathbb R^n$ heißen topologisch äquivalent oder homöomorph, wenn es zueinander inverse stetige Abbildungen $f:X\to Y$ und $g:Y\to X$, das heißt, es gilt $f\circ g=\mathrm{id}_Y$ und $g\circ f=\mathrm{id}_X$.

In der Regel ist die Aussage, $X$ und $Y$ seien topologisch äquivalent, nicht sonderlich aufregend. Es reicht im Allgemeinen, entsprechende Abbildungen anzugeben:

  1. Das offene Intervall $(-1,1)$ und die Gerade $\mathbb R$ sind topologisch äquivalent vermöge der Abbildungen $$
    x\mapsto\tan\left(\frac{\pi x}{2}\right)\;\;\text{ und }\;\;y\mapsto\frac{2}{\pi}\arctan\left(x\right).$$
  2. Die $n$-dimensionale Einheitssphäre $$S^n=\{x\mid \|x\|_2=1\}\subset \mathbb R^{n+1}$$ und der $n$-dimensionale Rand des Einheitswürfels $$W^n=\{x\mid \|x\|_\infty=1\}\subset \mathbb R^{n+1}$$ sind topologisch äquivalent. Hier können wir die Normen $$\|x\|_2=\sqrt{\Sigma_{i=0}^nx^2_i}\;\;\text{ und }\;\;\|x\|_\infty =\mathrm{max}_i\left|x_i\right|$$ für $x=\left(x_0,x_1,\ldots,x_n\right)\in \mathbb R^{n+1}$ sowohl zur Beschreibung der geometrischen Objekte benutzen, wie auch zur Beschreibung der Äquivalenzen $$s\mapsto \frac{s}{\|s\|_\infty} \;\;\text{ sowie }\;\; w\mapsto \frac{w}{\|w\|_2}.$$

Anders verhält es sich mit der Aussage, $X$ und $Y$ seien topologisch nicht äquivalent. Im Allgemeinen ist es nicht möglich, alle möglichen Abbildungen daraufhin zu inspizieren, ob sich eine topologische Äquivalenz darunter befindet. Man muss sich einen Grund ausdenken, warum es keine topologische Äquivalenz geben kann. Das ist oft schwierig.

Hier sind zwei Beispiele, die offensichtlich topologisch nicht äquivalent sind. Dies zu beweisen erfordert aber jeweils einigen Aufwand:

  1. Die zwei-dimensionale Sphäre, d.h. die Kugeloberfläche, ist nicht topologisch äquivalent zum zwei-dimensionalen Torus, d.h. einer Reifenoberfläche, oder einer Brezeloberfläche.
  2. Der Satz von der topologischen Invarianz der Dimension besagt: Die euklidischen Räume $\mathbb R^m$ und $\mathbb R^n$ sind topologisch nicht äquivalent, wenn $m\not= n$.

Dieser Satz wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bewiesen. Zuvor war der Satz ein berühmtes Problem, das als sehr beunruhigend empfunden wurde. Der Grund lag in einem Phänomen, das der italienische Mathematiker Giuseppe Peano gegen Ende des 19. Jahrhunderts entdeckte:

Satz. Für jedes $n$ existiert eine surjektive Abbildung $\mathbb R^1\to \mathbb R^n$.

Beweis. Ein Beweis wird im Laufe der Vorlesung gegeben werden. Wer sich vorab informieren will, kann in ersten Seiten des sehr lesenswerten Skriptes von Friedhelm Waldhausen schmökern.

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