Seit ungefähr 1550 war bekannt, dass man mit imaginären Zahlen ganz reale Probleme lösen konnte. Mit dem Namen des Italieners Girolamo Cardano wird die Lösung der kubischen Gleichung verbunden. Die Gleichung $$
x^3=p x + q
$$ hat höchstens drei Lösungen. Eine davon ist beschrieben durch den Ausdruck $$
\begin{align*}
x_1&=\sqrt[3]{\frac{q}{2} +\sqrt{d}} + \sqrt[3] {\frac{q}{2}-
\sqrt{d}}\\\\
\text{mit} \qquad d&=\left(\frac{q}{2}\right )^2 - \left(\frac{p}{3}\right)^3.
\end{align*}
$$ Im Beispiel $x^3=20 x + 25$ besitzt die Gleichung die drei Lösungen $5$ und $\frac{-5\pm \sqrt{5}}{2}.$ Jedoch gilt $$d=\frac{625}{4}-\frac{8000}{27} < 0,$$ die obige Lösung ist also unmöglich.
Seit den Zeiten von Cardano waren die imaginären Zahlen in Insiderkreisen bekannt und wurden auch benutzt, von Newton, Euler, Leibniz. Aber irgendwie waren die imaginären Zahlen immer anrüchtig. Erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschaffte C.-F. Gauß den komplexen Zahlen die ihnen gebührenden Ehren. Aus dem Schmuddelkind wurde ein Superstar. Heute sind komplexe Zahlen aus Naturwissenschaft und Technik nicht mehr wegzudenken.
Konstruktion. Auf $\mathbb{R} \times \mathbb{R}$ sind durch$$
\begin{align*}
(a,b)+(a', b')&\colon = (a+a', b+b')\\
\text{und}\qquad(a,b)\cdot (a', b') &\colon = (aa'-bb', ab'+ ba')
\end{align*}
$$ Addition und Multiplikation definiert. $(\mathbb{R}\times \mathbb{R},+,\cdot)$ ist ein Körper mit $(0,0)$ als additiven neutralen Element, $(1,0)$ als multiplikativen neutralen Element und $$\left(\frac{a}{a^2+b^2},
\frac{-b}{a^2+b^2}\right)$$ als multiplikativen Inversen zu $(a,b)$. Dieser Körper wird mit
$\mathbb{C}$ bezeichnet. Man hat eine injektive Abbildung $$\begin{align*} \mathbb{R} &\to \mathbb{C}\\ a &\mapsto (a,0). \end{align*}$$ Üblich ist die Konvention $ i:=(0,1) $ für die imaginäre Einheit. Man schreibt dann statt $(a,b)=(a,0)+(0,1)\cdot(b,0)$ auch $a+ib$. In dieser Schreibweise gilt dann $i^2=-1$. Die Zahl
$\overline{\lambda}\colon:=a-ib$ heißt die zu $\lambda=a+ib$ konjugierte Zahl. Es gilt $\lambda\overline{\lambda}=a^2+b^2$.
Komplexe Zahlen können als Punkte der Ebene veranschaulicht werden. Die reelle Achse $\mathbb{R}\subset\mathbb{C}$ steht dabei senkrecht zur imaginären Achse $i\mathbb{R}=\{ir\;\vert\; r\in\mathbb{R}\}$. Der Abstand der komplexen Zahl $\lambda=a+bi$ vom Nullpunkt wird nach Pythagoras durch den Betrag $|\lambda|= \sqrt{a^2+b^2}$ beschrieben. Beschreibt $\alpha$ den Winkel zwischen der reellen Achse und der durch $\lambda $ vom Nullpunkt aus laufenden Halbgerade, so gilt $a=|\lambda|\cos{\alpha}$ und $b=|\lambda|\sin{\alpha}$.
In der komplexen Ebene lassen sich Addition und Multiplikation geometrisch beschreiben: Sind $\lambda$ und $\mu$ komplexe Zahlen, so ist $\lambda+\mu$ die vierte Ecke in dem Parallelogramm, das vom Nullpunkt und den Punkten $\lambda$ und $\mu$ aufgespannt wird. Der Betrag des Produkts $\lambda\mu$ ist gleich dem Produkt der Beträge der Faktoren
$$|\lambda\mu|=\sqrt{(\lambda\mu)\overline{(\lambda\mu)}}=
\sqrt{(\lambda\overline{\lambda})(\mu\overline{\mu})}=
\sqrt{\lambda\overline{\lambda}}\cdot\sqrt{\mu\overline{\mu}}=
|\lambda|\cdot|\mu|.$$
Addiert man die Winkel der von $\lambda$ und $\mu$ bestimmten Halbgeraden zur reellen Achse, so erhält man den entsprechenden Winkel für das Produkt. Dies folgt aus den bis vor wenigen Jahren noch an den Schulen gelehrten Additionstheoremen für Sinus und Cosinus.
Additionstheoreme für Sinus und Cosinus.
- $\cos(\alpha+\beta)=\cos(\alpha)\cos(\beta)-\sin(\alpha)\sin(\beta)$
- $\sin(\alpha+\beta)=\cos(\alpha)\sin(\beta)+\sin(\alpha)\cos(\beta)$
Ein Beweis für die Additionstheoreme mittels der komplexen Exponentialfunktion werden Sie im Laufe der Analysis-Vorlesung kennenlernen.
Aus diesen Additionstheoremen folgt die gehauptete geometrische Interpretation der Multiplikation komplexer Zahlen. Ist nämlich $\lambda=|\lambda|(\cos{\alpha}+i\sin{\alpha})$ und $\mu=|\mu|(\cos{\beta}+ \sin{\beta})$, so rechnen wir $$
\begin{align*}
\lambda\mu&=
|\lambda|(\cos{\alpha}+i\sin{\alpha})
\cdot|\mu|(\cos{\beta}+i\sin{\beta})\\
&=|\lambda\mu|\big((\cos{\alpha}\cos{\beta}-\sin{\alpha}\sin{\beta})
+i(\sin{\alpha}\cos{\beta}+\cos{\alpha}\sin{\beta})\big)\\
&=|\lambda\mu|(\cos{(\alpha+\beta)}+i\sin{(\alpha+\beta)}).
\end{align*}$$
Zum Schluß möchte ich Ihnen noch den Fundamentalsatz der Algebra vorstellen. Einen Beweis kann ich an dieser Stelle noch nicht geben; sie werden im Laufe Ihres Studiums noch Gelegenheit finden, einen solchen kennenzulernen.
Fundamentalsatz der Algebra. Es sei $P(X)=\sum_{k=0}^n a_kX^k$ ein Polynom vom Grad $n\gt 0$ mit komplexen Koeffizienten $a_k\in \mathbb{C}$ und $a_n\not=0$. Dann besitzt $P$ eine komplexe Nullstelle $\lambda$, d.h. es gilt $P(\lambda)=0$.
Mittels Polynomdivision folgt man leicht aus dem Fundamentalsatz der Algebra, dass sich jedes Polynom vom Grad $n\gt 0$ in ein Produkt $$c\cdot \prod_{k=1}^n (X-a_k)$$ von Linearfaktoren mit $c,a_k\in\mathbb C$ zerlegen lässt. Die Ähnlichkeit mit der Primzahlzerlegung in $\mathbb Z$ ist nicht zufällig: Die Linearformen $(X-a)$ für $a\in\mathbb C$ sind die Primelemente im Ring der Polynome mit komplexen Koeffizienten.