Vektorräume

Wir kommen nun zum zentralen Konzept der Vorlesung, dem Vektorraum. Um einen Vektorraum definieren zu können, müssen wir uns erst einmal einen Körper vorgeben. Beispiele für Körper haben wir bereits kennengelernt: Die rationalen Zahlen $\mathbb{Q}$, die reellen und komplexen Zahlen $\mathbb{R}$ und $\mathbb{C}$, sowie die Restklassenkörper ${\mathbb F}_p:=\mathbb{Z}/p\mathbb{Z}$ für Primzahlen $p$.

Definition. Sei $K$ ein Körper. Ein Vektorraum über $K$ besteht aus einer abelschen Gruppe $(V,+)$, sowie einer Verknüpfung $\cdot\,\colon K\times V\to V$, genannt Multiplikation mit Skalaren, die den folgenden Bedingungen genügen: Für $k,k'\in K$ und $v,v'\in V$ gelten

  • das Assoziativgesetz $k\cdot(k'\cdot v)=(kk')\cdot v$,
  • die Unitarität $1\cdot v=v$,
  • und die Distributivgesetze $k\cdot(v+v')= (k\cdot v)+(k\cdot v')$ und $(k+k')\cdot v= (k\cdot v)+(k'\cdot v)$.

Elemente von $V$ heißen Vektoren, Elemente von $K$ Skalare. Ein Vektorraum über $K$ heißt auch $K$-Vektorraum oder einfach Vektorraum, wenn klar ist, über welchem Körper er definiert ist.

Beispiele.

  1. Der Null-Vektorraum besteht aus der trivialen Gruppe $\{0\}$.
  2. Der Körper $K$ ist Vektorraum über sich selbst, wenn man die Körperaddition als Vektoraddition und die Körpermultiplikation als Multiplikation mit Skalaren auffasst.
  3. Ist $K\subset L$ Unterkörper eines Körpers $L$, so ist $L$ ein $K$-Vektorraum. Zum Beispiel sind $\mathbb{R}$ und $\mathbb{C}$ jeweils $\mathbb{Q}$-Vektorräume und $\mathbb{C}$ ist ein $\mathbb{R}$-Vektorraum.
  4. Die Menge $K^n=\{(a_1,\ldots,a_n)\;\vert \;a_i\in K\}$ geordneter $n$-Tupel von Elementen von $K$ ist Vektorraum vermöge der komponentenweise Addition $$ (a_1,\ldots,a_n)+(b_1,\ldots,b_n):= (a_1 +b_1,\ldots,a_n+b_n) $$ und der Multiplikation mit Skalaren $$ k\cdot (a_1,\ldots,a_n):=(ka_1,\ldots,ka_n). $$
  5. Die Menge $Mat_K(m,n)$ der $m\times n$-Matrizen $A=(a_{ij})$ mit Einträgen $a_{ij}\in K$ aus einem Körper $K$ bilden einen Vektorraum, wobei die Addition von Matrizen bereits definiert wurde. Bei der Skalar-Multiplikation $k\cdot A$ mit einem Skalar $k\in K$ wird jeder Eintrag in $A$ mit $k$ multipliziert. Addition und Multiplikation mit Skalaren sind also wie folgt darstellbar: \[(a_{ij})+(b_{ij})=(a_{ij}+b_{ij}),\hspace{12pt}
    k\cdot(a_{ij})=(k a_{ij}).\]
  6. Für eine Menge $M$ bezeichne $Abb(M,K)$ die Menge aller Abbildungen $f:M\to K$. Auf $Abb(M,K)$ sind Vektoraddition und Multiplikation mit Skalaren punktweise definiert, d.h. \begin{align*}
    (f+g)(m)&:= f(m)+g(m)\\
    (k\cdot f)(m)&:= k\cdot f(m).
    \end{align*} Derart wird $Abb(M,K)$ ein $K$-Vektorraum. Das vierte Beispiel ist im Prinzip nichts anderes als $Abb(\{1,\ldots,n\},K)$. Wir können eine bijektive Abbildung $$ Abb(\{1,\ldots,n\},K)\to K^n$$ definieren, indem wir einer Funktion $f\colon\{1,\ldots,n\}\to K$ das $n$-Tupel $(f(1),\ldots,f(n))\in K^n$ zuordnen.
  7. In der Analysis werden Sie reelle Funktionen mit zusätzlichen Eigenschaften kennenlernen: Stetig, differenzierbar, analytisch und so weiter. Meist werden Summen solcher Funktionen wieder die gleiche Eigenschaften besitzen, reelle Vielfache $r\cdot f$ (mit $r\in\mathbb{R}$) solcher Funktionen ebenfalls. Die Menge $${\mathcal C}^0(I):=\{f:I\to\mathbb{R}\;\vert\;\text{$f$ ist stetig}\}$$ der stetigen Funktionen auf einem Intervall $I\subset \mathbb R$ bildet zum Beispiel einen reellen Vektorraum.
  8. Polynome mit Koeffizienten in $K$. Es bezeichne $$
    K[X]:=\{\text{Folgen }(a_0,a_1,a_2,\ldots)\;\vert\; a_i\in K
    \text{ und $a_i\not=0$ nur für endlich viele $i$ }\}
    $$ die Menge der Folgen von Elementen in $K$, die schließlich Null werden. Wir geben bestimmten solchen Folgen einen Namen: \begin{align*}
    X^0&:=(1,0,0,0,\ldots)\\
    X^1&:=(0,1,0,0,\ldots)\\
    X^2&:=(0,0,1,0,\ldots)\\
    & \vdots
    \end{align*} Jedes Element $f\in K[X]$ läßt sich also eindeutig darstellen als endliche Summe $$
    f=\sum_{i\ge0}a_iX^i,$$ wenn $f=(a_0,a_1,a_2,\ldots)$ ist. Die Menge $K[X]$ ist ein $K$-Vektorraum. Addition und Multiplikation mit Skalaren sind gegeben durch \begin{align*}
    \left(\sum a_iX^i\right)+\left(\sum b_iX^i\right)&:= \sum (a_i+b_i)X^i\\
    k\cdot \left(\sum a_iX^i\right)&:= \sum (ka_i)X^i.
    \end{align*}.

Bemerkungen.

  • Auf $K[X]$ selbst läßt sich eine Multiplikation definieren durch $$
    (a_0,a_1,a_2,\ldots)\cdot (b_0,b_1,b_2,\ldots ):=
    (c_0,c_1,c_2,\ldots)
    $$ mit $$c_n= \sum_{i=0}^n a_ib_{n-i},$$ oder äquivalent $$
    \left(\sum_{i\ge0}a_iX^i\right)\cdot\left(\sum_{j\ge0}b_jX^j\right)=\sum_{i,j\ge0}a_ib_jX^{i+j}.
    $$ Diese Multiplikation macht $K[X]$ zu einem kommutativen Ring mit $X^0$ als Eins.
  • Durch Einsetzen von Zahlen können wir jedem Polynom $p\in K[X]$ eine Abbildung $\tilde p\in Abb(K,K)$ zuordnen:
    \begin{align*} K[X]&\to Abb(K,K)\\
    p=\sum a_iX^i&\mapsto \left(\tilde p\colon t\mapsto\sum a_it^i\right).
    \end{align*} Sie haben reelle Polynome als spezielle reellwertige Funktionen auf $\mathbb R$ kennengelernt. Diese Sichtweise ist legitim, solange man reelle Polynome betrachtet. Ersetzen wir die reellen Zahlen aber durch den Körper ${\mathbb F}_2$, so müssen wir Polynome und Funktionen auseinanderhalten: Der Polynomring ${\mathbb F}_2[X]$ besitzt unendlich viele Elemente. Es gibt aber nur vier Funktionen ${\mathbb F}_2\to{\mathbb F}_2$, also nur vier Elemente in $Abb({\mathbb F}_2,{\mathbb F}_2)$. Zum Beispiel liefern die Polynome $p=1+X+X^2$ und $q=1$ die gleichen Funktionen $\tilde p=\tilde q$.

Definition. Sei $V$ ein Vektorraum über dem Körper $K$. Eine nichtleere Teilmenge $U\subset V$ nennt man Untervektorraum oder kurz Unterraum, falls sie gegenüber Vektoraddition und Skalarmultiplikation abgeschlossen ist, d. h. für $u,u'\in U$ und $k\in K$ gilt $u+u'\in U$ und $ku\in U$.

Ist $U$ ein Untervektorraum von $V$, so sind auch der Nullvektor von $V$ und mit jedem $u\in U$ auch $- u$
in $U$ enthalten. Insbesondere ist $U$, zusammen mit der durch $V$ gegebenen Vektoraddition und Skalarmultiplikation ein $K$-Vektorraum.

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