0. Einleitung

In dieser Vorlesung geht es im Wesentlichen darum, den aus dem ersten Semester bekannten Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung in höhere Dimensionen zu verallgemeinern, das heißt, den in der Formel von Stokes $$\int_M\mathrm{d}\omega =\int_{\partial M}\omega$$ prägnant dargestellten Sachverhalt in mathematisch fundierter Weise zu beschreiben und zu beweisen.
Die Stokessche Gleichung lässt sich im Falle einer stetig differenzierbaren Funktion $$f\colon [a,b]\to \mathbb R$$ auf $(M,\omega)=\left([a,b],f\right)$ anwenden, und bekommt in dieser Situation wegen der Identität $$\mathrm{d}f=\frac{\mathrm{d}f}{\mathrm{d}x}\mathrm{d}x=f'{\mathrm{d}x}$$ die vertraute Gestalt $$\int_{[a,b]}\mathrm{d}f =\int_a^bf'\mathrm{d}x=f(b)-f(a)=\int_{\partial [a,b]}f.$$ Der Buchstabe $M$ in der Stokesschen Gleichung steht für eine Mannigfaltigkeit mit Rand $\partial M$, der Buchstabe $\omega$ bezeichnet eine Differentialform, der Buchstabe $\mathrm{d}$ schließlich kennzeichnet die sogenannte äußere Ableitung. All diese Begriffe werden im zweiten Teil der Vorlesung eingeführt und ausführlich besprochen werden. Diese Begriffe mögen anfänglich, ähnlich wie zu Anfang Ihres Studiums die Begriffe Gruppe, Ring, Körper oder Vektorraum als abstrakt und unanschaulich erscheinen. Tatsächlich haben sie sich im Laufe des letzten Jahrhunderts als nützliche Konzepte herauskristallisiert, die den mit dem Satz von Stokes zusammenhängenden analytischen, algebraischen und geometrischen Phänomenen ein natürliches Habitat bieten.
Der erste Teil der Vorlesung behandelt die mit dem Symbol $$\int$$ gekennzeichnete Operation des Integrierens. Die Vorgehensweise ist im Prinzip aus dem ersten Semester bekannt: Gegeben eine Teilmenge $X\subset \mathbb R^n$ und eine Funktion $f\colon X\to \mathbb R$, so approximieren wir $f$ durch Treppenfunktionen und erhalten das Integral als Grenzwert der Integrale der approximierenden Treppenfunktionen. Wir könnten das also schnell abhaken, gäbe es da nicht ein kleines Problem, das ich im Folgenden erklären will. Wir starten, wie es sich gehört, mit einer Definition.

Definition. Es sei $X$ eine Menge und $A\subset X$ eine Teilmenge. Die Funktion $\chi_A\colon X\to\mathbb R$, $$\chi_A(x):=\begin{cases}1&\text{für}&x\in A\\ 0&\text{für}&x\notin A\end{cases}$$ heißt charakteristische Funktion oder Indikatorfunktion von $A$. Der von den Indikatorfunktionen aufgespannten Untervektorraum des Raums $\mathcal F(X,\mathbb R)$ aller reellwertigen Funktionen auf $X$ heißt Raum der Treppenfunktionen.

Die Linearität des Integrals liefert für eine Treppenfunktion $f=\sum_{j=1}^n \lambda_j\chi_{A_j}\colon X\to \mathbb R$ mit $\lambda_j\in \mathbb R$ die Formel $$\int_X f=\sum_{j=1}^n \lambda_j \int_X \chi_{A_j},$$ wobei $\int_X\chi_A$ anschaulich das Volumen der Teilmenge $A\subset X$ beschreibt. Auf diese Weise haben wir das Problem der Definition eines Integrals zurückgeführt auf das Problem des Messens von Volumen.

Aus unserer Alltagserfahrung leiten wir ab, dass ein Volumen idealerweise folgende Eigenschaften besitzt:

Inhaltsproblem: Gesucht ist eine Inhaltsfunktion $$m\colon\mathfrak P(\mathbb R^n)\to [0,\infty],$$ auf der Potenzmenge des $\mathbb R^n$ mit folgenden Eigenschaften:

  • Für disjunkte Teilmengen $A,B\subset \mathbb R^n$ gelte $m(A\sqcup B)=m(A)+m(B)$.
  • Für jede Bewegung $\beta\colon\mathbb R^n\to\mathbb R^n$ und alle $A\subset \mathbb R^n$ gelte $m(\beta(A))=m(A)$.
  • $m\left([0,1]^n\right)=1$.


Die Isometrien des $\mathbb R^n$ werden Bewegungen genannt. Jede solche Bewegung lässt sich darstellen als Komposition einer Translation und einer orthogonalen linearen Abbildung.

Um eine lange Geschichte kurz zu machen: Das Inhaltsproblem besitzt eine Lösung, falls $n\in \{1,2\}$. Eine solche ist jedoch nicht eindeutig. Das Inhaltsproblem besitzt keine Lösung für $n\ge 3$. Dies liegt an einer auf den ersten Blick absurden Tatsache:

Das Banach-Tarski Paradox. Für $n\ge 3$ seien $A,B\subset \mathbb R^n$ beschränkte Mengen mit nicht-leerem Inneren. Dann gibt es endlich viele Mengen $C_1,\ldots, C_k\subset \mathbb R^n$ und Bewegungen $\beta_1,\ldots,\beta_k$, so dass $A$ die disjunkte Vereinigung der Mengen $C_1,\ldots,C_k$ ist und $B$ die disjunkte Vereinigung der Mengen $\beta_1(C_1),\ldots,\beta_k(C_k)$.

Interessant ist bereits der Spezialfall, in dem $A$ eine dreidimensionale Vollkugel vom Radius 1 ist, und $B$ die disjunkte Vereinigung zweier solcher Vollkugeln, jeweils vom Radius 1. Der Beweis dieses Spezialfalls ist gar nicht mal so schwer. Er benutzt relativ elementare Erkenntnisse aus der Gruppentheorie und das Auswahlaxiom der Mengentheorie. Wesentlich ist, dass die Gruppe $SO(3)$ endlich erzeugte freie Untergruppen besitzt. Es würde zu weit und außerdem in die falsche Richtung führen, diese Konstruktion Ihnen jetzt vorzuführen. Schließlich sind wir ja daran interessiert, unter Vermeidung derartiger abstruser Gegenbeispiele eine in sich stimmige Theorie der Integration aufzubauen. Dies Paradox soll einzig aufzeigen, dass unser Weg durch vermintes Gelände verläuft.

Wir wissen nun, dass es keine Funktion auf der Potenzmenge $\mathfrak P(\mathbb R^n)$ gibt, die unsere Vorstellung von einem Volumen oder Inhalt erfüllt. Andererseits können wir von sehr vielen Objekten ein Volumen bestimmen, wie zum Beispiel von Quadern, Kegel, Kugeln, Ellipsoiden und vielen anderen geometrisch beschriebenen Objekten. Das Volumen einer disjunkten Vereinigung sollte die Summe der Volumina sein. Es stellt sich also die Frage, welchen Teilmengen von $\mathbb R^n$ wir sinnvoll ein Volumen zuordnen können, oder in anderen Worten, welche Teilmengen von $\mathbb R^n$ messbar sind.

Einen Hinweis, auf was wir achten müssen, liefert die folgende Überlegung: Es sei $I$ eine Indexmenge. Es gebe für jede Teilmenge $J\subset I$ eine reelle Zahl $m_J\ge 0$ mit

  • $m_J\le m_{J'}$ für $J\subset J'$
  • $m_{J}=\sum_{i\in J}m_{\{i\}}$, für $J$ endlich.

Wir stellen uns vor, für jedes $i\in I$ sei eine Teilmenge $A_i\subset \mathbb R^n$ gegeben mit paarweise disjunkten $A_i$ und $A_{i'}$ für $i\not= i'$. Für $J\subset I$ sollte $m_J$ eine Art Volumen der Menge $A_J=\sqcup_{j\in J}A_j$ beschreiben.

Behauptung. Die Menge $I'=\{i\in I\mid m_{\{i\}}\gt 0\}$ ist abzählbar.

Beweis. Es gilt für jede endliche Teilmenge $J\subset I$ die Abschätzung $m_J\le m_I$. Wir definieren nun $I_0:=\{i\in I\mid m_{\{i\}}\ge 1\}$ und $I_k:=\{i\in I\mid \frac1k \gt m_{\{i\}}\ge \frac1{k+1}\}$ für $k\in \mathbb N$. Dann ist offensichtlich $I'$ die disjunkte Vereinigung der Mengen $I_k$. Ist $J\subset I_k$ endlich, so folgt $$\frac{|J|}{k+1}\le \sum_{i\in J}m_{\{i\}}=m_J \le m_I$$ und damit $$|J|\le m_I(k+1).$$ Da aber $J$ eine beliebige endliche Teilmenge von $I_k$ war, muss jede der Mengen $I_k,k\in \mathbb N_0$ endlich sein. Damit ist $I'$ eine abzählbare Vereinigung endlicher Mengen und somit selbst abzählbar.
qed

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