Es sei $K$ ein Körper und es bezeichne $I$ eine Menge (die Indexmenge). Im Folgenden sei für jedes $i\in I$ ein $K$-Vektorraum $V_i$ vorgegeben. Wir werden die direkte Summe und das direkte Produkt solcher Vektorräume definieren und mit universellen Eigenschaften charakterisieren. Ist die Indexmenge endlich, so stimmen direkte Summe und direktes Produkt überein.
Definition. Das direkte Produkt $\prod_{i\in I}V_i$ der Vektorräume $V_i$ besteht aus all denjenigen Zuordnungen, die einem Indexelement $i\in I$ ein Element in dem Vektorraum $V_i$ zuordnen. Elemente des direkten Produkts sind also $I$-Tupel $(v_i)_{i\in I}$ von Vektoren $v_i\in V_i$. Man nennt $v_j$ für einen gegebenen Index $j\in I$ die $j$-te Komponente von $v=(v_i)_{i\in I}$. Der Vektorraum $V_i$ heißt $i$-ter Faktor.
Eine in der Literatur gebräuchliche alternative Bezeichnung für das direkte Produkt ist $\times_{i\in I}V_i$. Es sei $X=\cup_{i\in I} V_i$ die Vereinigung (als Menge) der Vektorräume $V_i$. Ein Element $v=(v_i)_{i\in I}$ des direkten Produktes ist dann nichts Anderes als eine Abbildung $v:I\to W$, mit der Maßgabe, dass für jedes $i\in I$ das Bild $v(i)=v_i$ in der Teilmenge $V_i\subset X$ liegt.
Das direkte Produkt $\prod_I V_i$ ist ein $K$-Vektorraum vermöge der komponentenweisen Summe
\[(v_i)_{i\in I} + (v'_i)_{i\in I}=(v_i+v'_i)_{i\in I}\] und der komponentenweisen Multiplikation mit Skalaren
\[k\cdot(v_i)_{i\in I}=(k v_i)_{i\in I}.\]
Beispiele.
- Ist $I=\{1,\ldots,n\}$ endlich, so lassen sich die Elemente von $\prod_{i=1}^nV_i$ als geordnete $n$--Tupel $(v_1, \ldots, v_n)$ mit $v_i\in V_i$ darstellen. Eine gebräuchliche Bezeichnung für ein endliches Produkt ist auch \[V_1\times\ldots\times V_n.\]
- Sind alle Vektorräume $V_i$ gleich, also $V_i=V$ für alle $i\in I$, so ist das direkte Produkt nichts Anderes als die Menge $Abb(I,V)$ aller Abbildungen von $I$ nach $V$ (man schreibt dafür auch $V^I$). Zum Beispiel ist $\prod_{r\in \mathbb{R}}\mathbb{R}$ die Menge $Abb(\mathbb{R},\mathbb{R})=\mathbb{R}^\mathbb{R}$ aller reellwertiger Funktionen auf den reellen Zahlen.
- Formale Potenzreihen mit Koeffizienten in $K$: Ist $I=\mathbb N_0$ die Menge der nicht-negativen ganzen Zahlen und $V_i=K$, so erhalten wir die Menge $K\,[ [ X ] ]$ der Folgen $(k_0,k_1,k_2,\ldots)$ in $K$. Wir geben, wie schon einmal, bestimmten solchen Folgen einen Namen:
\begin{align*}
X^0&:=(1,0,0,0,\ldots)\\
X^1&:=(0,1,0,0,\ldots)\\
X^2&:=(0,0,1,0,\ldots)\\
& \vdots
\end{align*} Jedes Element $f\in K\,[ [ X ] ]$ lässt sich eindeutig darstellen als unendliche Summe
$$f=\sum_{i\ge0}a_iX^i,$$ wenn $f=(a_0,a_1,a_2,\ldots)$ ist. Die Menge $K\,[ [ X ] ]$ ist ein $K$-Vektorraum. Addition und Multiplikation mit Skalaren sind gegeben durch
\begin{align*}
\left(\sum a_iX^i\right)+\left(\sum b_iX^i\right)&:= \sum (a_i+b_i)X^i\\
k\cdot \left(\sum a_iX^i\right)&:= \sum (ka_i)X^i.
\end{align*} Wie bei Polynomen mit Koeffizienten in $K$, lässt sich auf $K\,[ [ X ] ]$ eine Multiplikation definieren durch
$$
(a_0,a_1,a_2,\ldots)\cdot (b_0,b_1,b_2,\ldots ):=
(c_0,c_1,c_2,\ldots)
$$ mit $$c_n= \sum_{i=0}^n a_ib_{n-i},$$ oder äquivalent
$$
\left(\sum_{i\ge0}a_iX^i\right)\cdot\left(\sum_{j\ge0}b_jX^j\right)=\sum_{i,j\ge0}a_ib_jX^{i+j}.
$$ Diese Multiplikation macht $K\,[ [ X ] ]$ zu einem kommutativen Ring mit $X^0$ als Eins. Anders als bei Polynomen, können wir in formale Potenzreihen im Allgemeinen nicht Zahlen einsetzen. Wie aus der Analysis bekannt, machen unendliche Summen von Zahlen nur dann Sinn, wenn es einen Konvergenzbegriff gibt. Somit beschreibt eine Potenzreihe nur in Ausnahmefällen eine Funktion $K\to K$. Nichtsdestotrotz spielen formalen Potenzreihen überraschend oft eine wichtige Rolle bei mathematischen Fragestellungen.
Ist $\prod_I V_i$ ein direktes Produkt, so gibt es für jedes $j\in I$ eine natürliche Abbildung
\begin{eqnarray*}\pi_j\colon\prod_{i\in I} V_i&\to& V_j\\(v_i)_{i\in I}&\mapsto&
v_j,\end{eqnarray*} die einem $I$-Tupel die $j$-te Komponente zuordnet. Diese Abbildung ist $K$-linear und heißt Projektion auf den $j$-ten Faktor.
Universelle Eigenschaft des Produkts. Ist $W$ ein $K$-Vektorraum und ist für jedes $i\in I$ eine lineare Abbildung $\phi_i\colon W\to V_i$ gegeben, so existiert genau eine lineare Abbildung $\Phi\colon W\to \prod_I V_i$ mit $\pi_i\circ\Phi=\phi_i$ für alle $i\in I$. Man sagt in dieser Situation auch, das folgende Diagramm kommutiere
\[\begin{array}[t]{ccc}
\begin{array}[t]{c}
\\
W\\
\\
\end{array} & \begin{array}[t]{c}
\Phi\\
\dashrightarrow\\
\\
\end{array} & \begin{array}[t]{c}
\\
\prod_{i\in I}V_{i}\\
\\
\end{array}\\
& \phi_{i}\searrow & \downarrow\pi_{i}\\
& & \begin{array}[t]{c}
\\
V_{i}
\end{array}
\end{array}
\]
Beweis. Die Abbildung $\Phi$ ist notwendig von der Gestalt $\Phi\colon w\mapsto (\phi_i(w))_{i\in I}$. Umgekehrt ist die derart definierte Abbildung linear und erfüllt die geforderte Eigenschaft.
qed
Definition. Die direkte Summe $\coprod_{i\in I}V_i$ (oder das Koprodukt) der Vektorräume $V_i$ besteht aus $I$-Tupeln $(v_i)_{i\in I}$ von Vektoren $v_i\in V_i$, wobei höchstens endlich viele der $v_i$ nicht Null sind. Man nennt $v_j$ für einen gegebenen Index $j\in I$ die $j$-te Komponente von $(v_i)_{i\in I}$. Der Vektorraum $V_i$ heißt $i$-ter Summand.
In der Literatur wird die direkte Summe oft auch symbolisch mit $\bigoplus_{i\in I}V_i$ gekennzeichnet. Die direkte Summe von Vektorräumen kann als Untervektorraum des direkten Produktes derselben Vektorräume aufgefaßt werden, zumal die Vektoraddition und die Multiplikation mit Skalaren den Unterraum erhält.
Beispiele.
- Ist $I=\{1,\ldots,n\}$ endlich, so lassen sich die Elemente von $\coprod_{i=1}^nV_i$ als geordnete $n$-Tupel $(v_1, \ldots, v_n)$ mit $v_i\in V_i$ darstellen. Insbesondere sind endliche direkte Summen und endliche direkte Produkte von Vektorräumen dasselbe. Gebräuchliche Bezeichnungen für eine endliche direkte Summe sind auch $V_1\oplus\ldots\oplus V_n$ oder $V_1\amalg\ldots\amalg V_n$.
- Sind alle Vektorräume $V_i$ gleich, also $V_i=V$ für alle $i\in I$, so besteht die direkte Summe aus solchen Abbildungen in $Abb(I,V)$, die nur für endlich viele $i\in I$ einen Wert ungleich Null annehmen. Zum Beispiel ist $\coprod_{r\in \mathbb{R}}\mathbb{R}$ die Menge derjenigen reellwertigen Funktionen auf den reellen Zahlen, die nur an endlich vielen Stellen einen Wert ungleich Null annehmen.
- Oben haben wir gesehen, dass dem Potenzreihenring $K\,[ [ X ] ]$ der Vektorraum $\prod_{\mathbb N_0}K$ zugrunde liegt. Der Untervektorraum $\coprod_{\mathbb N_0}K$ ist dann der Unterring $K[X]\subset K\,[ [ X ] ]$ der Polynome.
Es gibt für jedes $j\in I$ eine kanonische Inklusion
$$
{\iota_j} \colon V_j\longrightarrow \coprod_{i\in I}V_i.
$$ Diese bildet ein Element $v_j\in V_j$ ab auf das $I$-Tupel, dessen Komponente an der $j$-ten Stelle gleich $v_j$ ist und dessen sonstige Komponenten alle Null sind. Es fällt einem schwer, für dieses $I$-Tupel einen besseren Namen zu finden als wiederum $v_j$.
Universelle Eigenschaft der Summe. Ist $W$ ein $K$-Vektorraum und sind $\psi_i\colon V_i\to W$ für $i\in I$ lineare Abbildungen, so gibt es genau eine lineare Abbildung $
\Psi\colon \coprod_{i\in I}V_i\to W,
$ so dass gilt $\Psi\circ \iota_i=\psi_i$. Man sagt in dieser Situation auch, das folgende Diagramm kommutiere
\[\begin{array}[t]{ccc}
\begin{array}[t]{c}
\\
W\\
\\
\end{array} & \begin{array}[t]{c}
\Psi\\
\dashleftarrow\\
\\
\end{array} & \begin{array}[t]{c}
\\
\coprod_{i\in I}V_{i}\\
\\
\end{array}\\
& \psi_{i}\nwarrow & \uparrow\iota_{i}\\
& & \begin{array}[t]{c}
\\
V_{i}
\end{array}
\end{array}\]
Beweis. Die Abbildung $\Psi$ ist definiert durch $
\Psi((v_i)_{i\in I})\colon=\sum_{i\in I} \psi_i(v_i),
$ wobei die Summe auf der rechten Seite Sinn macht, da nur endlich viele Terme ungleich Null sind.
qed
Beispiel. Sind $U_i, i\in I$ Untervektorräume eines Vektorraums $V$, so definieren die Inklusionen $U_i\hookrightarrow V$ eine lineare Abbildung $\iota\colon \coprod_I U_i\to V$. Das Bild dieser Abbildung wird mit $\sum_I U_i$ bezeichnet und ist der von den Untervektorräumen $U_i$ aufgespannte Untervektorraum. Man sagt, $V$ sei die direkte Summe der Unterräume $U_i$, falls die Abbildung $\iota$ bijektiv ist. Für die Injektivität von $\iota$ gibt es ein Kriterium: $\iota$ ist genau dann injektiv, wenn für jedes $j\in I$ der Durchschnitt $U_j \cap \sum_{i\in I\setminus\{j\}}U_i =0$ ist.
Beweis. Ist $\iota$ injektiv und $u\in U_j \cap \sum_{i\in I\setminus\{j\}}U_i$, so ist $\iota(u,-u)=u-u=0$, also ist $(u,-u)=(0,0)$. Ist $\iota$ nicht injektiv, so gibt es ein $I$-Tupel $(u_i)_{i\in I}\in \bigoplus_IU_i$ im Kern von $\iota$ mit einer nichtverschwindenden Komponente $u_j$. Es gilt $\iota((u_i)_{i\in I})=\sum_Iu_i=0$. Insbesondere ist $u_j=-\sum_{i\in I\setminus\{j\}}u_i$ im Durchschnitt $U_j \cap \sum_{i\in I\setminus\{j\}}U_i$.
qed
Die universellen Eigenschaften von Summe und Produkt lassen sich auch anders formulieren:
Satz. Ist $W$ ein $K$-Vektorraum, so wird durch $\Phi\mapsto (\phi_i=\pi_i\circ\Phi)_{i\in I}$ ein kanonischer Isomorphismus
\[\hom_K\left(W,\prod_IV_i\right)\to \prod_I\hom_K(W,V_i)\] beschrieben. Analog liefert die Zuordnung $\Psi\mapsto(\psi_i=\Psi\circ \iota_i)_{i\in I}$ einen kanonischen Isomorphismus
\[\hom_K\left(\coprod_IV_i,W\right)\to \prod_I\hom_K(V_i,W).\]
Setzen wir insbesondere $W=K$, so erhalten wir aus der zweiten Aussage das Korollar:
Korollar. Der Dualraum einer direkten Summe ist kanonisch isomorph zum direkten Produkt der Dualräume der Summanden, das heißt
\[\left(\coprod_IV_i\right)^*\cong \prod_I V_i^*.\]