1. Kurven

1.0.1. Definition. Es sei \(I\subset \mathbb R\) ein Intervall. Eine parametrisierte Kurve im euklidischen Raum ist eine unendlich oft differenzierbare Abbildung $$c\colon I\to \mathbb R^n,\quad t\mapsto c(t).$$ Eine parametrisierte Kurve heißt regulär, falls ihr Geschwindigkeitsvektor nirgends verschwindet, das heißt es gilt \(\dot{c}(s):=\frac{\mathrm{d}c}{\mathrm{d}t}(s)\not=0\) für alle \(s\in I\).

1.0.2. Beispiele.

  • Sind \(c_0,v\in \mathbb R^n\) Vektoren, so ist die parametrisierte Kurve $$\begin{aligned}c\colon \mathbb R&\to \mathbb R^n\\ t & \mapsto c_0+t\cdot v\end{aligned}$$ regulär und beschreibt eine Gerade, falls \(v\not=0\). Im Falle \(v=0\) ist die Kurve nicht regulär und beschreibt einen Punkt.
  • Eine Kreislinie in der Ebene um den Mittelpunkt \((0,0)\) mit Radius \(r\) sieht folgendermaßen aus: $$\begin{aligned} c\colon \mathbb R &\to\mathbb R^2\\ t&\mapsto {{r\cdot\cos(t)}\choose{r\cdot \sin(t)}}.\end{aligned}$$
  • Sind $r$ und $h$ positive Zahlen, so beschreibt die Formel $$\begin{aligned} c\colon \mathbb R &\to\mathbb R^3\\ t&\mapsto \left(\begin{matrix} r\cdot\cos(t)\\ r\cdot \sin(t)\\ t\cdot h\end{matrix}\right)\end{aligned}$$ eine Schraubenlinie im drei-dimensionalen Raum.
  • Die Neilsche Parabel $$ \begin{aligned} c\colon \mathbb R &\to\mathbb R^2\\ t&\mapsto \left(\begin{matrix} t^2\\ t^3 \end{matrix}\right)\end{aligned}$$ ist klar unendlich oft differenzierbar, aber nicht regulär. Sie besitzt eine Spitze, in der algebraischen Geometrie Kuspe genannt, in Nullpunkt.
  • Die Traktrix oder auch Schleppkurve ist parametrisiert durch $$\begin{aligned} c\colon (0,\pi)&\to \mathbb R^2\\ t&\mapsto {{\cos t+\ln\left(\tan\left(\frac{t}2\right)\right)} \choose {\sin t}}.\end{aligned}$$ Der Geschwindigkeitsvektor \(\dot{c}\) ist Null für $t=\frac\pi2$. Die parametrisierte Kurve $c$ ist somit nur auf den beiden Teilintervallen \(\left(0,\frac\pi2\right)\) und \(\left(\frac\pi2,\pi\right)\) regulär.
  • Die logarithmische Spirale wird beschrieben durch die Formel $$\begin{aligned} c\colon \mathbb R &\to \mathbb R^2\\ t&\mapsto {{\cos t\cdot e^t} \choose {\sin t\cdot e^t}}.\end{aligned}$$

1.0.3. Definition. Es sei \(c\colon I\to \mathbb R^n\) eine parametrisierte Kurve. Eine Parametertransformation von \(c\) ist eine bijektive Abbildung \(\varphi\colon J\to I\) von einem weiteren Intervall \(J\subset \mathbb R\), so dass sowohl \(\varphi\) als auch die Umkehrabbildung \(\varphi^{-1}\colon I\to J\) unendlich oft differenzierbar sind. Die parametrisierte Kurve \(\tilde{c}=c\circ\varphi\colon J\to \mathbb R^n\) heißt Umparametrisierung von \(c\).

1.0.4. Bemerkungen.

  1. Die Ableitung einer Parametertransformation verschwindet nirgends, denn nach der Kettenregel gilt $$\dot{\left(\varphi^{-1}\right)}\left(\varphi(t)\right)\cdot \dot{\varphi}(t)=\dot{\left(\varphi^{-1}\circ\varphi\right)}(t)=1.$$ Insbesondere ist die Umparametrisierung einer regulären Kurve wiederum regulär: $$\dot{\tilde{c}}(t)=\dot{c}(\varphi(t))\cdot\dot{\varphi}(t)\not=0.$$
  2. Parametertransformationen liefern eine Äquivalenzrelation auf der Menge aller regulären parametrisierten Kurven: Zwei reguläre parametrisierte Kurven sind äquivalent, wenn sie durch eine Parametertransformation auseinander hervorgehen.

1.0.5. Definition. Eine Kurve ist eine Äquivalenzklasse von regulären parametrisierten Kurven. Das Bild \(c(I)\) einer von einer regulären parametrisierten Kurve \(c\colon I\to\mathbb R^n\) repräsentierten Kurve nennt man die Spur der Kurve.

1.0.6. Definition. Eine Parametertransformation heißt orientierungserhaltend oder orientierungsumkehrend, falls \(\dot{\varphi}(t)\gt 0\) oder \(\dot{\varphi}(t)\lt 0\) gilt für ein und damit alle \(t\in I\). Eine orientierte Kurve ist eine Äquivalenzklasse von regulären parametrisierten Kurven, wobei diese als äquivalent angesehen werden, wenn sie durch orientierungserhaltende Parametertransformationen auseinander hervorgehen.

Eine orientierte Kurve besitzt also eine ausgezeichnete Durchlaufrichtung.

1.0.7. Definition. Eine nach Bogenlänge parametrisierte Kurve ist eine reguläre parametrisierte Kurve \(c\colon I\to \mathbb R^n\) mit \(\|\dot{c}(t)\|=1 \) für alle \(t\in I\).

1.0.8. Proposition. Jede orientierte Kurve besitzt eine Parametrisierung nach Bogenlänge. Je zwei solche unterscheiden sich durch eine Verschiebung des Definitionsintervalls, d.h. um eine Umparametrisierung der Form \(t\mapsto t+t_0\).

Beweis. Es sei \(c\colon I\to\mathbb R\) eine reguläre Parametrisierung der Kurve, sei \(t_0\in I\), und sei $$\psi(s):=\int_{t_0}^s\|\dot{c}(t)\|\;\mathrm{d}t.$$ Wegen \(\psi'(s)=\|\dot{c}(s)\|\gt 0\) ist \(\psi\) streng monoton wachsend und folglich injektiv. Außerdem ist \(\psi\), wie auch \(c\), unendlich oft differenzierbar. Damit ist \(\psi\colon I\to J:=\psi(I)\) eine orientierungserhaltende Parametertransformation. Für die Umkehrabbildung \(\varphi:=\psi^{-1}\) gilt $$\dot{\varphi}(t)=\frac1{\psi'(\varphi(t))}=\frac1{\|\dot{c}(\varphi(t))\|}.$$ Nach der Kettenregel folgt $$\|\dot{(c\circ\varphi)}(t)\|=\|\dot{c}(\varphi(t))\cdot\dot{\varphi}(t)\|=\left\|\frac{\dot{c}(\varphi(t))}{\|\dot{c}(\varphi(t))\|}\right\|=1.$$ Somit ist \(c\circ\varphi\) nach Bogenlänge parametrisiert.
Sind \(c_i\colon I_i\to \mathbb R^n\) für \(I\in \{1,2\}\) jeweils Parametrisierungen einer Kurve nach Bogenlänge und als solche gleich orientiert, so sei \(\varphi\colon I_1\to I_2\) die zugehörige Parametertransformation. Dann gilt $$1=\|\dot{c}_2(t)\|=\|\dot{c}_1(\varphi(t))\|\cdot|\varphi(t)|=|\varphi(t)|.$$ Also ist \(\varphi\) von der Form \(t\mapsto t+t_0\).
qed

1.0.9. Definition. Die Länge einer parametrisierten Kurve \(c\colon [a,b]\to \mathbb R^n\) ist definiert als das Integral $$L[c]:=\int_a^b\|\dot{c}(t)\|\;\mathrm{d}t.$$

1.0.10. Proposition. Die Länge einer parametrisierten Kurve ändert sich nicht bei Umparametrisierten. Die Länge ist eine Invariante der Kurve.

Beweis. Dies folgt aus der Substitutionsregel. Ist nämlich \(\tilde{c}=c\circ \varphi\) eine Umparametrisierung mit \(\varphi\colon [a',b']\to [a,b]\), so gilt $$
\begin{aligned}
L[\tilde{c}]
&=\int_{a'}^{b'} \| \dot{( c\circ \varphi)}(t) \|\, \mathrm{d}t \\
&=\int_{a'}^{b'} \| \dot{c}(\varphi(t)) \| \cdot |\dot{\varphi}(t)| \, \mathrm{d}t \\
&=\int_{a}^{b} \| \dot{c}(s) \|\, \mathrm{d}s \\
&=L[c]
\end{aligned} $$ qed

1.0.11. Definition. Eine parametrisierte Kurve \(c\colon I\to \mathbb R^n\) heißt periodisch mit Periode \(L\), wenn für alle \(t\in \mathbb R\) gilt \(c(t+L)=c(t)\), und \(L\) die kleinste positive Zahl ist, für welche diese Identität gilt. Eine Kurve heißt geschlossen, falls sie eine periodische reguläre Parametrisierung besitzt. Sie heißt einfach geschlossen, falls die Einschränkung \(c|_{[0,L)}\) auf das halboffene Intervall \([0,L)\) injektiv ist.

Der Kreis ist eine einfach geschlossene Kurve, die Figur \(8\) ist geschlossen, jedoch nicht einfach geschlossen.

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