1.1.1. Definition. Kurven in \(\mathbb R^2\) heißen ebene Kurven. Ist \(c\colon I\to \mathbb R^2\) eine nach Bogenlänge parametrisierte, ebene Kurve, so ist das Normalenfeld \(n\colon I\to \mathbb R^2\) definiert durch die Formel $$n(t):=\left(\begin{matrix}0&-1\\1&0\end{matrix}\right)\cdot \dot{c}(t).$$
Die angegebene Matrix beschreibt eine Drehung des \(\mathbb R^2\) um \(90\) Grad in mathematisch positivem Sinne, das heißt entgegen den Uhrzeigersinn. Da eine Parametrisierung nach Bogenlänge bis auf eine additive Konstante eindeutig ist, ist das Normalenfeld definiert für orientierte Kurven. Wechselt man die Orientierung der Kurve, so wird das Normalenfeld durch sein Negatives ersetzt.
Da \(c\) nach Bogenlänge parametrisiert ist, gilt $$\langle\dot{c},\dot{c}\rangle =1.$$ Ableitung dieser Gleichung liefert $$\langle\ddot{c},\dot{c}\rangle +\langle\dot{c},\ddot{c}\rangle =
2\langle\ddot{c},\dot{c}\rangle = 0.$$ Also stehen die beiden Vektoren \(\dot{c}\) und \(\ddot{c}\) zueinander senkrecht und der Beschleunigungsvektor \(\ddot{c}(t)\) ist ein Vielfaches des Normalenvektors \(n(t)\), $$\ddot{c}(t)=\kappa(t)\cdot n(t).$$
1.1.2. Definition. Die Funktion \(\kappa\colon I\to\mathbb R\) heißt Krümmung von \(c\).
1.1.3. Beispiel. Die nach Bogenlänge parametrisierte Kreislinie ist von der Form $$
c(t)= { {r\cdot \cos\left(\frac{t}r\right)} \choose {r\cdot \sin\left(\frac{t}r\right)} }.
$$ Es gilt damit $$
\begin{aligned}
\dot{c}(t) &= {{-\sin\left(\frac{t}r\right)}\choose {\cos\left(\frac{t}r\right)}} \\
\ddot{c}(t) &= \frac1r{{- \cos\left(\frac{t}r\right)}\choose {- \sin\left(\frac{t}r\right)}}\\
&=\frac1r n(t).
\end{aligned}
$$ Also ist die Krümmung des Kreises gleich dem Kehrwert des Radius $$\kappa=\frac1r.$$
1.1.4. Vorsicht. Die nach Bogenlänge parametrisierte, im mathematisch negativen Sinne durchlaufene Kreislinie ist von der Form $$
c(t)= { {r\cdot \cos\left(\frac{-t}r\right)} \choose {r\cdot \sin\left(\frac{-t}r\right)} }.
$$ Es gilt damit $$
\begin{aligned}
\dot{c}(t) &= {{\sin\left(\frac{-t}r\right)}\choose {-\cos\left(\frac{-t}r\right)}} \\
\ddot{c}(t) &= \frac1r{{- \cos\left(\frac{-t}r\right)}\choose {- \sin\left(\frac{-t}r\right)}}\\
&= - \frac1r n(t).
\end{aligned}
$$ Also ist die Krümmung des im mathematisch negativen Sinne durchlaufenenKreises gleich minus dem Kehrwert des Radius $$\kappa=-\frac1r.$$
1.1.5. Frenet-Gleichung. Es sei \(c\colon I\to \mathbb R^2\) eine ebene, nach Bogenlänge parametrisierte Kurve. Dann gilt $$
\left(\ddot{c}(t),\dot{n}(t)\right) = \left(\dot{c}(t),n(t)\right) \left(\begin{matrix}0&-\kappa(t)\\ \kappa(t)&0\end{matrix}\right).$$
Beweis. Die Gleichung \(\ddot{c}=\kappa\cdot n\) ist die Definition der Krümmung. Ableitung der Gleichung \(\langle n,n\rangle=1\) zeigt wie zuvor, dass \(n\) und \(\dot{n}\) zueinander senkrecht stehen. Der Vektor \(\dot{n}\) ist also ein Vielfaches des Geschwindigkeitsvektors \(\dot{c}\), das heißt \(\dot{n}(t)=\alpha(t)\cdot\dot{c}\). Ableitung der Gleichung \(\langle n,\dot{c}\rangle=0\) liefert $$\begin{aligned}
0&= \langle \dot{n},\dot{c}\rangle +\langle n,\ddot{c}\rangle \\
&= \langle \alpha\cdot \dot{c},\dot{c}\rangle +\langle n,\kappa\cdot \dot{c}\rangle\\
&= \alpha +\kappa,
\end{aligned}$$ und damit die behauptete Gleichung.
qed
1.1.6. Lemma. Es sei \(c\colon [a,b]\to \mathbb R^2\) eine ebene, nach Bogenlänge parametrisierte Kurve. Dann gibt es eine unendlich oft differenzierbare Funktion \(\vartheta\colon [a,b]\to \mathbb R\), so dass $$\dot{c}(t)={ {\cos(\vartheta(t))} \choose {\sin(\vartheta(t))}}.$$ Je zwei solche Funktionen unterscheiden sich um ein ganzzahliges Vielfaches von \(2\pi\). Insbesondere ist \(\vartheta(b)-\vartheta(a)\in \mathbb R\) eindeutig durch \(c\) bestimmt.
1.1.7. Definition. Man nennt \(\vartheta\) eine Argumentfunktion zu \(c\).
Beweis von 1.1.6. Das Bild der Abbildung \(\dot{c}\) ist enthalten im Einheitskreis. Die Exponentialfunktion \(\exp\) ist eine universelle Überlagerung und insbesondere ein lokaler Diffeomorphismus. Es folgt die unendliche Differenzierbarkeit von \(\vartheta \) aus der von \(\dot{c}\). Die Existenz der Argumentfunktion \(\vartheta\) mit \(\dot{c}=\exp\circ\vartheta\) folgt aus dem Hochhebungssatz der Topologie, zumal jedes Intervall einfach zusammenhängend ist. Die Wahl einer reellen Zahl \(\vartheta(a)\) mit \(\exp(\vartheta(a))=\dot{c}(a)\) ist bis auf Vielfache von \(2\pi\) bestimmt und fixiert die Funktion \(\vartheta\) eindeutig.
qed
1.1.8. Definition. Es sei \(c\colon \mathbb R\to \mathbb R^2\) eine ebene, nach Bogenlänge parametrisierte Kurve, periodisch mit Periode \(L\). Ist \(\vartheta\colon\mathbb R\to \mathbb R\) eine Argumentfunktion zu \(c\), so heißt $$n_c:=\frac1{2\pi}\left(\vartheta(L)-\vartheta(0)\right)$$ die Windungszahl von \(c\).
Wegen \(c(0)=c(L)\) ist die Windungszahl eine ganze Zahl. Da sich zwei Argumentfunktionen jeweils nur um eine Konstante unterscheiden, ist die Windungszahl unabhängig von der gewählten Argumentfunktion. Für einen Kreis ist die Windungszahl entweder \(1\) oder \(-1\), je nachdem, ob der Kreis im mathematisch positiven oder negativen Sinne durchlaufen wird.
1.1.9. Satz. Es sei \(c\colon \mathbb R\to \mathbb R^2\) eine ebene, nach Bogenlänge parametrisierte Kurve, periodisch mit Periode \(L\). Ist \(\kappa\colon\mathbb R\to \mathbb R\) die Krümmung von \(c\), so lässt sich die Windungszahl als Integral über die Krümmung berechnen $$n_c=\frac1{2\pi} \int_0^L \kappa(t)\;\mathrm{d}t.$$
Beweis. Mit $$\dot{c}(t)={ {\cos(\vartheta(t))} \choose {\sin(\vartheta(t))}}$$ folgt $$
\kappa(t)\cdot n(t)=\dot{c}(t)={ {-\sin(\vartheta(t))\cdot \dot\vartheta(t)} \choose {\cos(\vartheta(t))}\cdot\dot\vartheta(t)}= \dot\vartheta(t)\cdot n(t)$$ und damit $$\kappa(t)=\dot\vartheta(t).$$ Die Krümmung beschreibt also die Winkeländerung des Geschwindigkeitsvektors bezüglich einer festen Achse. Nach dem Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung gilt dann $$\begin{aligned}
n_c&= \frac1{2\pi}\left(\vartheta(L)-\vartheta(0)\right)\\
&= \frac1{2\pi} \int_0^L \dot\vartheta(t)\;\mathrm{d}t\\
&=\frac1{2\pi} \int_0^L \kappa(t)\;\mathrm{d}t.
\end{aligned}$$qed
1.1.10. Windungssatz. Die Windungszahl einer einfach geschlossenen, orientierten, ebenen Kurve ist \(\pm 1\).
Beweis. Sei \(c\) eine periodische Parametrisierung mit Periode \(L\). Die beiden Koordinaten des Punktes \(c(t)\) werden mit \(c^1(t)\) und \(c^2(t)\) bezeichnet. Es sei \(x_0 =\max\{c^1(t)\mid t\in \mathbb R\}\). Da die Spur von \(c\) kompakt ist, wird das Maximum auch tatsächlich angenommen. Die zur \(y\)-Achse parallele Gerade mit \(x=x_0\) schneidet die Spur von \(c\) in einem Punkt \(p\). Durch eine Parametertransformation der Form \(t\mapsto t+t_0\) können wir \(c(0)=p\) erreichen.
Sei \(G\) die durch \(s\mapsto p+s\cdot {1\choose 0}\) parametrisierte Gerade. Auf dem Halbstrahl zu \(s \gt 0\) liegen dann keine Punkte von \(c\) mehr. Falls erforderlich, führen wir die Parametertransformation \(t\mapsto -t\) durch, um \(\dot{c}(0)={0\choose 1}\) zu erreichen. Diese Transformation kehrt die Orientierung um und verändert daher das Vorzeichen der Umlaufzahl, was für die Behauptung jedoch ohne Belang ist.
Wir betrachten die stetige Abbildung \(e\colon [0,L]\times [0,L]\to S^1,\) $$e(t_1,t_2) =\begin{cases}
\frac{c(t_2)-c(t_1)}{\|c(t_2)-c(t_1)\|}& \text{ falls } t_2\gt t_1 \text{ und } (t_1,t_2)\not= (0,L)\\
\dot{c}(t_1)& \text{ falls } t_2\le t_1\\
-\dot{c}(0) & \text{ falls } (t_1,t_2) = (0,L).
\end{cases}$$ Man beachte, dass \(e\) nur deshalb wohldefiniert ist, weil \(c\) als einfach geschlossen vorausgesetzt wurde. Sonst hätte im ersten Zweig der Definition \(c(t_1)=c(t_2)\) vorkommen können.
Wir wählen nun zu \(e\) eine Funktion \(\vartheta\colon [0,1]\times[0,1]\to \mathbb R\) durch zweimaliges Anwenden des Hochhebungssatzes, zuerst auf den Fall \(X\) einpunktig und Anfangswert \(\frac\pi2\), und dann auf den Fall \(X=[0,L]\). Wegen \(e(t,t)=\dot{c}(t)\) ist \(t\mapsto \vartheta(t,t)\) eine Argumentfunktion zu \(c\). Für die Windungszahl gilt somit $$
2\pi \,n_c =\vartheta(L,L)-\vartheta(0,0).$$ Da die erste Koordinate des Punktes \(p=c(0)\) maximal gewählt war, liegt der Vektor \(e(0,t)\) in der Halbebene \(\left\{ {x\choose y}\mid x\le 0\right\}\) und folglich \(\vartheta(0,t)\in \left[\frac\pi2,\frac{3\pi}2\right]\). Insbesondere ist \(\vartheta(0,0)=\frac\pi2\) und \(\vartheta(0,L)=\frac{3\pi}2\). Analog liegt der Vektor \(e(t,L)\) in der Halbebene \(\left\{ {x\choose y}\mid x\ge 0\right\}\) und folglich \(\vartheta(0,t)\in \left[\frac{3\pi}2,\frac{5\pi}2\right]\). Insbesondere ist \(\vartheta(L,L)=\frac{5\pi}2\) und damit \[2\pi \,n_c = \vartheta(L,L)-\vartheta(0,0)=\frac{5\pi}2-\frac\pi2=2\pi .\] qed
1.1.11. Definition. Eine ebene Kurve heißt konvex, falls für jeden ihrer Punkte gilt: Die Kurve liegt ganz auf einer Seite ihrer Tangente durch diesen Punkt.
1.1.12. Lemma. Sei \(c\colon I\to\mathbb R^2\) eine nach Bogenlänge parametrisierte ebene Kurve mit Normalenfeld \(n\). Dann ist \(c\) genau dann konvex, wenn entweder für alle \(s,t\in I\) gilt $$\langle c(t)-c(s),n(s)\rangle\ge 0$$ oder aber für alle \(s,t\in I\) gilt $$\langle c(t)-c(s),n(s)\rangle\le 0.$$
Beweis. Ist \(c\) eine Parametrisierung nach der Bogenlänge und \(n\) das Normalenfeld längs \(c\), so sagt die Konvexitätsbedingung für den Punkt \(c(s_0)\): $$\big(\langle c(t)-c(s_0),n(s_0)\rangle
\ge 0 \quad \forall t\big)\quad \text{oder} \quad \big(\langle c(t)-c(s_0),n(s_0)\rangle
\le 0 \quad \forall t\big).$$ A priori könnte man bei einer konvexen Kurve für ein \(s_1\) die erste Bedingung benötigen, für ein anderes \(s_2\) dagegen die zweite. Tatsächlich tritt das aber nicht auf. Gilt nämlich \(\langle c(t)-c(s_1),n(s_1)\rangle\ge 0\) für alle \(t\) und gilt \(\langle c(t)-c(s_2),n(s_2)\rangle\ge 0\) für alle \(t\), so so existiert aus Stetigkeitsgründen ein \(s_3\) zwischen \(s_1\) und \(s_2\) derart, dass \(\langle c(t)-c(s_3),n(s_3)\rangle= 0\) für alle\( t\) gilt. Dann aber muss \(c\) eine Gerade sein.
Wie sieht dies Stetigkeitsargument explizit aus? Die Abbildung \((s,t)\mapsto \langle c(t)-c(s),n(s)\rangle\) ist stetig. Daraus bilden wir eine stetige Funktion \(\alpha\colon I\to \mathbb [-1,1]\) vermöge der Vorschrift
\[ s\mapsto \max_{t\in I}\big(\min\left(1, \langle c(t)-c(s),n(s)\rangle\right)\big) + \min_{t\in I}\big(\max\left(-1, \langle c(t)-c(s),n(s)\rangle\right)\big).\] Ist \(c\) konvex, so ist für ein gegebenes \(s\in I\) zumindest einer der beiden Summanden Null. Nimmt \(\alpha\) beide Vorzeichen an, so nach dem Zwischenwertsatz auch die Null für ein \(s_3\). Wegen der Konvexität sind im Punkte \(s_3\) beide Summanden Null. Nach Konstruktion von \(\alpha\) liegt der Kurvenpunkt \(c(t)\) dann für alle \(t\in I\) auf der zu \(n(s_3)\) senkrechten Geraden durch den Punkt \(c(s_3)\).
qed
1.1.13. Satz. Sei \(c\) eine nach Bogenlänge parametrisierte, ebene Kurve mit Krümmung \(\kappa\). Ist die Kurve konvex, so wechselt sie auf dem Definitionintervall das Vorzeichen nicht. Ist die Kurve umgekehrt einfach geschlossen und \(\kappa\) wechsle auf dem Definitionsintervall nicht das Vorzeichen, so ist die Kurve konvex.
Beweis. Sei \(c\) konvex, nach Bogenlänge parametrisiert, und es gelte für alle \( t,t_{0}\in\mathbb{R}\) oBdA die Ungleichung \(\langle c(t)-c(t_{0}),n(t_{0})\rangle\ge0\). Die Taylorentwicklung liefert $$\begin{aligned} 0 &\le\langle c(t)-c(t_{0}),n(t_{0})\rangle\\
&=\langle\dot{c}(t_{0})(t-t_{0})+\frac{1}{2}\ddot{c}(t_{0})(t-t_{0})^{2}+O(|t-t_{0}|^{3}),n(t_{0})\rangle\\
&=\frac{\kappa(t_{0})}{2}(t-t_{0})^{2}+O(|t-t_{0}|^{3}).\end{aligned}$$ Teilen durch den positiven Faktor \((t-t_0)^2\) und Grenzwertbildung \(t\to t_{0}\) zeigt \( \kappa(t_{0})\ge0\).
Für die umgekehrte Richtung nehmen wir an, die Kurve \(c\colon \mathbb R\to \mathbb R^2\) sei einfach geschlossen und es gelte \(\kappa(t)\ge 0\) für alle \(t\). Wir nehmen an, \(\varphi(t):=\langle c(t)-c(t_{0}),n(t_{0})\rangle\) wechsle für fixiertes \(t_{0}\) und \(t\in \mathbb R\) das Vorzeichen. Kompaktheit der Spur liefert \(t_{1},t_{2}\) mit \(\varphi(t_{1})\) minimal, \(\varphi(t_{2})\) maximal. Aus \(\dot{\varphi}(t_{1})=\dot{\varphi}(t_{2})=0\) folgt $$\langle\dot{c}(t_{1}),n(t_{0})\rangle=\langle\dot{c}(t_{2}),n(t_{0})\rangle=0$$ und damit stimmen zwei der drei Vektoren \(\dot{c}(t_{1})=\pm\dot{c}(t_{0})=\dot{c}(t_{2})\) überein, sagen wir mal \(\dot{c}(s_{1})=\dot{c}(s_{2})\) für \(s_{1}\lt s_{2}\in\left\{ t_{0},t_{1},t_{2}\right\}\). Die Argumentfunktion \(\vartheta\colon\mathbb{R}\to\mathbb{R}\) ist wegen \(\dot{\vartheta}=\kappa\ge0\) monoton steigend und für die Periode \(L\) gilt nach 1.1.10 $$1=\frac1{2\pi}\left(\vartheta(s_{1}+L)-\vartheta(s_{1})\right)=\frac1{2\pi}\left(\vartheta(s_{1}+L)-\vartheta(s_{2})\right)+\frac1{2\pi}\left(\vartheta(s_{2})-\vartheta(s_{1})\right).$$ Dies ist Summe zweier nicht-negativer ganzer Zahlen. Eine davon ist notwendig Null. Wegen der Monotonie ist folglich \(\vartheta\) auf einem der Intervalle \([s_{1},s_{2}]\) oder \([s_{2},s_{1}+L]\) konstant, \(c\) auf diesem Intervall ein Geradenstück, und \(\varphi\) konstant. Dies steht aber im Widerspruch zur Wahl von \(s_{1}\) und \(s_{2}\).
qed
1.1.14. Definition. Eine nach Bogenlänge parametrisierte ebene Kurve \(c\colon I\to\mathbb{R}\) hat einen Scheitel in \(t_{0}\in I\), falls gilt \(\dot{\kappa}(t_{0})=0\).
1.1.15. Beispiel. Jeder Punkt auf einer Gerade und jeder Punkt auf einem Kreis ist Scheitelpunkt. Besitzt die Krümmung der Kurve eine lokales Extremum in einem Punkt, so ist dies ebenfalls ein Scheitelpunkt. Im Falle der Ellipse $$c(t)=\left(\begin{array}{c}
a\,\cos t\\
b\,\sin t
\end{array}\right)$$ mit \(0\lt a\lt b\) gibt es vier Scheitelpunkte in \(\left\{ 0,\frac{\pi}{2},\pi,\frac{3\pi}{2}\right\}\).
Es sei im Folgenden \(c\) eine periodisch nach Bogenlänge parametrisierte, einfach geschlossene, konvexe ebene Kurve.
1.1.16. Vierscheitelsatz. Im Periodenintervall \([0,L)\) besitzt \(c\) mindestens vier Scheitel.
Mit dem folgenden Lemma trennen wir die Diskussion von Sonderfällen ab vom Hauptargument.
1.1.17. Lemma. Schneidet \(c\) eine Gerade \(G\) in mehr als \(2\) Punkten oder berührt sie die Gerade in mehr als einem Punkt tangential, so enthält \(c\) ein Geradensegment.
Unter der Annahme von 1.1.17 beweisen wir zuerst den Satz zuerst und kümmern uns danach um die Sonderfälle.
Beweis von 1.1.16. Die periodische Funktion \(\kappa\colon \mathbb R\to \mathbb R\) besitzt kompaktes Bild, nimmt also Maximum und Minimum an. Nimmt die Funktion \(\kappa\) an den Stellen \(t_1\lt t_2\) jeweils lokale Maxima (oder Minima) an, so nimmt \(\kappa\) notwendig ein lokales Minimum (oder ein lokales Maximum) für ein \(t_3\in [t_1,t_2]\) an. Ist die Anzahl lokaler Extrema von \(\kappa\) endlich, so werden genauso viele Maxima wie Minima im Periodenintervall angemommen. Die Anzahl lokaler Extrema von \(\kappa\) ist also gerade. Nach einer Parameter-Translation können wir annehmen, \(\kappa\) besitze ein Minimum in \(t=0\) und ein Maximum in \(t_0\in (0,L)\). Folgende Fälle sind zu bedenken:
- Schneidet die Gerade \(G\) durch \( c(0)\) und \(c(t_{0})\) die Kurve \(c\) in einem weiteren Punkt, so enthält die Kurve nach 1.1.17 ein Geradensegment und folglich unendlich viele Scheitelpunkte.
- Liegt die Kurve auf einer Seite von \(G\), so ist diese Gerade tangential in beiden Punkten \( c(0)\) und \(c(t_{0})\). Wieder folgt aus 1.1.17 die Existenz von unendlich vielen Scheitelpunkten.
- Nimmt die Funktion \(\kappa\) in einem offenen Intervallen \((0,t_0)\) und \((t_0,L)\) ein lokales Extremum an, so gibt es mindestens drei lokale Extrema in der Periode. Da die Anzahl der lokalen Extrema gerade sein muss, folgt die Existenz von mindestens vier Scheitelpunkten.
- Es bleibt der Fall auszuschließen, dass die Funktion \(\kappa\) in den offenen Intervallen \((0,t_0)\) und \((t_0,L)\) keine lokalen Extrema besitzt und insbesondere auch nicht lokal konstant ist. In diesem Fall wäre \(\kappa\) in \((0,t_0)\) streng monoton steigend und in \((t_0,L)\) streng monoton fallend. Sei dazu \(g\) ein normierter, senkrecht zur Geraden \(G\) stehender Vektor, d.h. \(\langle c(t_0)-c(0),g\rangle =0\). Indem man eventuell \(g\) durch \(-g\) ersetzt, gilt \(\dot{\kappa}(t)\ge 0\), \(\langle c(t)-c(0),g\rangle\gt 0\) für \(t\in\left(0,t_{0}\right)\) und \(\dot{\kappa}(t)\le 0\), \(\langle c(t)-c(0),g\rangle\lt 0\) für \(t\in\left(t_{0},L\right)\) und insbesondere gibt es in beiden Intervallen Stellen mit \(\dot\kappa\not=0\). Folglich erhalten wir eine echte Ungleichung $$\int_{0}^{L}\dot{\kappa}(t)\langle c(t)-c(0),g\rangle\,dt\gneqq0. $$ Wir erhalten einen Widerspruch, indem wir dieses Integral auf andere Weise berechnen: Partielle Integration, die Frenet-Gleichung und der Hauptsatz der Differential- und Integrationsrechung liefern die Identität \begin{aligned}\int_{0}^{L}\dot{\kappa}(t)c(t)\,dt &=-\int_{0}^{L}\kappa(t)\dot{c}(t)\,dt\\
&=\int_{0}^{L}\dot{n}(t)\,dt\\
&=n(L)-n(0)=0. \end{aligned} Aus den Identitäten $$\int_{0}^{L}\dot{\kappa}(t)\langle c(t)-c(0),g\rangle\,dt=\left\langle \int_{0}^{L}\dot{\kappa}(t) c(t)\,dt,g\right\rangle-\int_{0}^{L}\dot{\kappa}(t)\,dt \cdot\langle c(0),g\rangle =0-0=0 $$ folgt der gesuchte Widerspruch.
qed
Beweis von 1.1.17. Ohne Beschränkung der Allgemeinheit können wir auf Grund der Konvexität der Kurve \(\kappa\ge0\) annehmen. Sei \(\vartheta\colon \mathbb R\to \mathbb R\) eine Argumentfunktion mit \(\exp\left(\vartheta(t)\right)=\dot{c}(t)\). Wegen \(\dot{\vartheta}=\kappa\ge0\) ist \(\vartheta\) eine monoton wachsende Funktion. Jeder Wert \(\theta\in[\vartheta(0),\vartheta(L))\) wird auf Grund der Monotonie in genau einem Punkt oder in einem Teilintervall von \([0,L)\) angenommen. Der Windungssatz impliziert \(\vartheta(L)-\vartheta(0)=2\pi\). Folglich wird jedes \(v\in S^{1}\) als Geschwindigkeitsvektor \(\dot{c}(t)\) für genau ein \(t\in [0,L)\) oder auf einem Teilintervall von \([0,L)\) angenommen. Im letzteren Fall enthält die Kurve \(c\) ein Segment einer Geraden.
Die Kurve \( c\) schneide die Gerade \(G\) in den Punkten \(t_0, t_1\) und \(t_2\) mit \(0\le t_{0}\lt t_{1}\lt t_2 \lt L\). Wie im Beweis von 1.1.16 sei \(g\) ein zu \(G\) senkrechter, normierter Vektor. Dann existiert ein \(s_0\in[t_{0},t_{1}]\), ein \(s_1\in[t_{1},t_{2}]\) und ein \(s_2\in[t_{2},t_{0}+L]\), so dass die Funktion \(\langle g,c(t)-c(t_0)\rangle\) für \(t\in \{s_0,s_1,s_2\} \) jeweils extremal ist. An diesen Extremalstellen ist der Geschwindigkeitsvektor senkrecht zu \(g\) und damit gleich $$\dot{c}(s_k)=\pm \frac{c(t_0)-c(t_1)}{\|c(t_0)-c(t_1)\|}.$$ Mindestens zwei dieser drei Vektoren \(\dot{c}(s_k)\) müssen also übereinstimmen. Folglich sind die beiden \(s_k\) in einem Teilintervall der Periode enthalten, auf dem der Geschwindigkeitsvektor \(\dot{c}\) konstant ist. Ein solches Teilintervall enthält nach Konstruktion einen der drei Schnittpunkte mit \(G\). Bei der Geraden handelt es sich folglich um \(G\). Insbesondere folgt die erste Aussage des Lemmas.
Berührt die Kurve \(c\) die Gerade \(G\) in den Punkten \(c(t_0)\) und \(c(t_1)\) mit \(0\le t_{0}\lt t_{1} \lt L\), so gilt für \(k\in\{0,1\}\) jeweils $$\dot{c}(t_k)=\pm \frac{c(t_0)-c(t_1)}{\|c(t_0)-c(t_1)\|}.$$ Verläuft die Kurve \(c\) für \(t\in [t_0,t_1]\) nicht entlang der Geraden \(G\), so gilt zum einen \(\dot{c}(t_0)=-\dot{c}(t_1)\), da jeder Vektor in \(S^1\) nur einmal oder auf einem Teilintervall von \([0,L)\) angenommen wird. Zum anderen erhalten wir wie oben ein \(s_0\in(t_{0},t_{1})\) mit \(\dot{c}(s_0)=\pm \frac{c(t_0)-c(t_1)}{\|c(t_0)-c(t_1)\|}=\pm \dot{c}(t_0)\) und insbesondere ein \(k\in\{0,1\}\) mit \(\dot{c}(s_0)=\dot{c}(t_k)\). Dann sind aber \(s_0\) und \(t_k\) in einem Teilintervall von \([0,L)\) enthalten, auf dem \(\dot{c}\) konstant ist. Es folgt, dass auf diesem Teilintervall die Kurve entlang der Geraden \(G\) verläuft.
qed