Anders als in der orientierten Ebene, gibt es keinen ausgezeichneten normierten Vektor, der senkrecht zum Geschwindigkeitsvektor einer Raumkurve steht, sondern eine ganze Schar derselben. Der Normalenvektor kann folglich nur an den gekrümmten Stellen einer Kurve definiert werden.
1.2.1. Definitionen. Die Krümmung einer nach Bogenlänge parametrisierten Raumkurve \(c\colon I\to \mathbb R^3\) ist definiert als die nicht-negative Funktion $$\kappa\colon I\to\mathbb{R},\quad\kappa(t):=\|\ddot{c}(t)\|.$$ Gilt \(\kappa(t_{0})\not=0\) für \( t_{0}\in I\), so definiert man darüber hinaus
Verschwindet die Krümmung der nach Bogenlänge parametrisierten Raumkurve \(c\colon I\to \mathbb R^3\) an der Stelle \(t_0\in I\) nicht, so erhält man analog zum ebenen Fall die
1.2.2. Frenet-Gleichung. Das lokal um \(t_{0}\in I\) definierte begleitende Dreibein \(\left(\dot{c}(t),n(t),b(t)\right)\) erfüllt die Gleichung $$\frac{d}{dt}\left(\dot{c},{n},{b}\right)=\left(\dot{c},n,b\right)\left(\begin{array}{ccc}
0 & -\kappa & 0\\
\kappa & 0 & -\tau\\
0 & \tau & 0
\end{array}\right).$$
Beweis. Die Gleichung folgt aus der Orthonormalitätsbedingung, der Leibniz-Regel, sowie der Definitionen von Krümmung und Torsion:
- Sind \(a,b\in \{\dot{c},n,b\}\), so ist das Skalarprodukt \(\langle a,b\rangle\) konstant. Aus dem Verschwinden der Ableitung folgt wegen der Leibniz-Regel $$0=\frac{d}{dt}\langle a,b\rangle = \left\langle\frac{d}{dt}a,b\right\rangle + \left\langle a,\frac{d}{dt}b\right\rangle$$ die Schiefsymmetrie der Matrix.
- Die Definition der Krümmung \(\ddot{c}=\kappa\cdot n\) bestimmt die erste Spalte der Matrix.
- Die Definition der Torsion ergibt den untersten Eintrag der zweiten Spalte und damit die Matrix.
qed
1.2.3. Beispiel. Wir berechnen Krümmung und Torsion einer nach Bogenlänge parametrisierten Schraubenlinie \(c\colon\mathbb{R}\to\mathbb{R}^{3}\). Aus den Ableitungen $$\left(c,\dot{c},\ddot{c}\right)(t)=\left(\begin{array}{ccc}
\cos\left(\frac{t}{\sqrt{2}}\right) & \frac{-1}{\sqrt{2}}\sin\left(\frac{t}{\sqrt{2}}\right) & \frac{-1}{2}\cos\left(\frac{t}{\sqrt{2}}\right)\\
\sin\left(\frac{t}{\sqrt{2}}\right) & \frac{1}{\sqrt{2}}\cos\left(\frac{t}{\sqrt{2}}\right) & \frac{-1}{2}\sin\left(\frac{t}{\sqrt{2}}\right)\\
\frac{t}{\sqrt{2}} & \frac{1}{\sqrt{2}} & 0
\end{array}\right)$$ erhalten wir $$\|\dot{c}(1)\|=1, \kappa(t)=\|\ddot{c}(t)\|=\frac{1}{2}\quad \text{ und }\quad n(t)=2\ddot{c}(t).$$ Für \(b(t)=\dot{c}(t)\times n(t)\) und \(\tau(t)=\langle\dot{n}(t),b(t)\rangle\) folgt $$b(t)=\frac{1}{\sqrt{2}}\left(\begin{array}{c}
\sin\left(\frac{1}{\sqrt{2}}\right)\\
-\cos\left(\frac{1}{\sqrt{2}}\right)\\
1
\end{array}\right),\quad\tau(t)=\frac{1}{2}.$$
1.2.4. Hauptsatz der Raumkurventheorie. Sei \(I\) ein Intervall, \(\kappa,\tau\colon I\to\mathbb{R}\) glatte Funktionen, und \(\kappa>0\). Dann existiert eine nach Bogenlänge parametrisierte Kurve \(c\colon I\to\mathbb{R}^{3}\) mit Krümmung \(\kappa\) und Torsion \(\tau\). Diese ist bis auf orientierungserhaltende euklidische Bewegungen eindeutig bestimmt.
Kompositionen von Translationen und orthogonalen linearen Transformationen werden, so sei an dieser Stelle erinnert, in der linearen Algebra auch euklidische Bewegungen genannt.
Beweis. Sei \(\left(c(t),v(t),n(t),b(t)\right)\) die eindeutig bestimmte Lösung der linearen DGL $$\frac{d}{dt}\left(c,v,n,b\right)=(c,v,n,b)\left(\begin{array}{cccc}
0 & 0 & 0 & 0\\
1 & 0 & -\kappa & 0\\
0 & \kappa & 0 & -\tau\\
0 & 0 & \tau & 0
\end{array}\right)$$ zum Anfangswert \(\left(c_0,f_{1}, f_{2},f_{3}\right)\) mit \(c_0\in \mathbb R^3\) beliebig und \(f_1,f_2,f_3\) eine orientierte Orthonormalbasis des \(\mathbb R^3\). Die Schiefsymmetrie der rechten unteren \(3\times 3\)-Matrix bewirkt, mit dem Argument aus dem Beweis der Frenet-Gleichung, die Erhaltung der Orthonormalität der entsprechenden Vektoren in der eindeutig bestimmten Lösung. Mögliche Anfangswerte gehen durch eindeutig bestimmte orientierungserhaltende euklidische Bewegungen auseinander hervor.
qed
1.2.5. Definition. Für eine nach Bogenlänge parametrisierte, geschlossene periodische Raumkurve \(c\colon \mathbb R\to \mathbb R^3\) mit Periode \(L\) wird das Integral $$K(c):=\int_0^L\kappa(t)\,dt$$ die Totalkrümmung genannt.
An dieser Stelle ein Wort der Vorsicht: Im \(2\)-dimensionalen Zusammenhang trägt die Krümmung \(\kappa\) einer Kurve ein Vorzeichen. In \(3\) Dimensionen ist die Krümmung dagegen nicht negativ. Für eine in einer orientierten Ebene im \(\mathbb R^3\) verlaufenden Kurve, z.B. für eine Kurve \(c\colon \mathbb R\to \mathbb R^2=\mathbb R^2\times \{0\}\subset \mathbb R^3\) ist die Schreibweise \(\kappa\) somit ambivalent. Es gilt \(\kappa^{(3)}=|\kappa^{(2)}|\). Die mit Vorzeichen kommende Krümmung in zwei Dimensionen liefert im Integral \(\int_0^L\kappa^{(2)}\,dt\) eine topologische Invariante, nämlich die Windungszahl mal \(2\pi\). Die Totalkrümmung ist dann das Integral \(\int_0^L|\kappa^{(2)}|\,dt\) über den Betrag des Integranden. Diese Totalkrümmung trägt dann keine topologische Information. Umgekehrt liefert die Topologie zumindest noch eine Abschätzung: Für ebene Kurven kann die Totalkrümmung nach unten durch \(2\pi\) mal den Betrag der Windungszahl abgeschätzt werden.
Das eindimensionale riemannsche Integral wird durch Treppenfunktionen nach oben und unten abgeschätzt. Ein ähnliches Phänomen tritt auch bei der Totalkrümmung einer Raumkurve auf, wenn man eine Kurve duch Polygone approximiert.
1.2.6. Definition. Ein geschlossenes Polygon im \(\mathbb R^n\) ist ein Tupel \(P=(a_1,\ldots,a_m)\) von Elementen \(a_i\in \mathbb R^n\), so dass für alle \(i\lt m\) gilt \(a_{i+1}\not=a_i\) und außerdem \(a_m\not=a_1\). Wir bezeichnen die Elemente \(a_i\) als Ecken es Polygons.
Setzt man \(a_{i+m}:=a_i\), so entledigt man sich der Mühe, die Bedingung \(a_m\not=a_1\) jedesmal gesondert zu erwähnen.
1.2.7. Definition. Es sei \(P\) ein geschlossenes Polygon. Der Winkel \(\alpha_i\) an der Ecke \(a_i\) ist definiert als $$\alpha_i:=\arccos\left\langle\tfrac{a_{i+1}-a_i}{\|a_{i+1}-a_i\|},\tfrac{a_{i-1}-a_i}{\|a_{i-1}-a_i\|}\right\rangle.$$ Der Totalwinkel von \(P\) ist $$\mathcal K(P):=\sum_{i=1}^m\alpha_i.$$
1.2.8. Lemma. Das geschlossene Polygon \(P_2\) entstehe aus dem geschlossenen Polygon \(P_1\) durch Hinzunahme einer Ecke. Dann gilt für die Totalwinkel der Polygone $$\mathcal K(P_1)\le\mathcal K(P_2).$$