In diesem Semester konzentrieren wir uns auf die Differentialrechnung in mehreren Variablen. Gedacht ist dabei hauptsächlich an Abbildungen $f\colon U\to W$ von einer Teilmenge $U$ eines reellen Vektorraums $V$ in einen anderen Vektorraum $W$. Wir entlassen damit die bislang betrachteten Konzepte Konvergenz, Stetigkeit, Differential, Integral aus ihrem ein-dimensionalen Gefängnis und studieren sie fortan in freier Wildbahn. Grund dazu gibt es mehr als genug. Schließlich wollen wir die Mathematik auf real exisitierende Probleme anwenden. Und die Welt, in der wir leben, ist mehr als nur ein-dimensional.
Wieviele Dimensionen wollen wir uns zutrauen? Ich will nun argumentieren, dass es keinen Sinn macht, sich auf irgendwelche Dimensionsbeschränkungen einzulassen. Betrachten wir dazu den einfachsten Fall einer reellwertigen Funktion $f\colon V\to \mathbb R$ auf einem reellen Vektorraum $V$. Ist die Dimension von $V$ größer als 1, so fixieren wir eine Hyperebene $H\subset V$ und einen Vektor $v\in V$, der nicht parallel zu $H$ verläuft. Jedem Punkt $h\in H$ können wir nun die reellwertige Funktion $$f_h\colon t\mapsto f(h+tv)$$ zuordnen. Insgesamt erhalten wir eine Abbildung \begin{aligned}F\colon H&\to Abb(\mathbb R,\mathbb R)\\ h&\mapsto f_h.\end{aligned} Diese Zuordnung ist umkehrbar; jede Abbildung der Form $F$ liefert eine reellwertige Funktion $f\colon V\to \mathbb R$. Ist die Ausgangsfunktion $f\colon V\to \mathbb R$ stetig, so sollte die Abbildung $F$ Werte in den Raum $\mathcal C^0(\mathbb R)$ der stetigen Funktionen annehmen. Dieser ist a priori unendlich dimensional.
Ob wir nun die Abbildung $f$ zwischen endlich dimensionalen Räumen betrachten, oder die Abbildung $F$ mit Werten in einem unendlich dimensionalen Vektorraum, ist im Grunde genommen völlig gleichwertig. Eine prinzipielle Unterscheidung zwischen endlich- und unendlich dimensionalen Vektorräumen macht folglich wenig Sinn.
Trotzdem sollten wir die Kraft des räumlichen Vorstellungsvermögens nutzen und unsere Intuition an Beispielen schulen, die wir uns bildlich vorstellen können. Die Vorgehensweise in dieser Vorlesung wird folglich sein, dass wir endlich dimensionale Urbild- und Bildbereiche, oft der Dimension kleiner oder gleich $3$, bevorzugen, aber vor gelegentlichen Ausflügen in die Unendlichkeit nicht zurückschrecken. Oft wählen wir uns sogar, explizit oder implizit, auch Basen der Vektorräume $V$ und $W$ und identifizieren sie auf diese Weise mit Standard-Vektorräumen $\mathbb R^n$ und $\mathbb R^m$.