Die Zahlen, wie alle mathematischen Gegenstände, existieren nur in unserer Phantasie. Sie sind ein Mittel, mit denen wir unsere Gedanken ordnen.
Diesen Spruch habe ich von Friedhelm Waldhausen. einem inzwischen emeritierten Kollegen hier in Bielefeld, übernommen. Den Gedanken will ich noch etwas näher ausführen: Die in der Natur vorkommenden Zahlen und das, was wir natürliche Zahlen nennen, sind zwei verschiedene Dinge. Aus der Schule wissen Sie, dass es unendlich viele natürliche Zahlen gibt in dem Sinne, dass, egal welche Zahl Sie mir nennen, ich Ihnen eine größere präsentieren kann.
In der Natur dagegen kommen, nach allem was wir wissen, tatsächlich nur endlich viele Zahlen vor. Ein Kandidat für eine größte solche Zahl ist etwa die Anzahl der im beobachtbaren Universum existierenden Elementarteilchen. Grobe Abschätzungen dafür, welche Größenordnung diese Zahl hat, erhält man wie folgt: Die Astronomen erzählen uns, das Weltall habe einen Durchmesser von größenordnungsmäßig 100 Milliarden Lichtjahren, das ist in Metern eine 27-stellige Dezimalzahl [1]. Gemessen in der Einheit Durchmesser eines Nukleons (d.h. etwa \(10^{-15}\) Meter), ist das eine 42-stellige Dezimalzahl. Mehr als 126-stellig sollte die Zahl der Elementarteilchen also nicht sein.
Ein weiteres Problem mit den in der Natur vorkommenden Zahlen ist, dass sie sich im Allgemeinen nicht feststellen lassen. So bezeichnet die aus der Chemie bekannte Loschmidtsche Zahl 6,0221415\( \cdot10^{23}\) die Anzahl von Atomen in 12 Gramm Kohlenstoff-12-Isotop [2]. Das wäre ein Diamant mit 60 Karat, kaum größer ist als ein Stück Würfelzucker. Genauer als bis zur zehnten Stelle ist diese Zahl aber nicht bekannt und wohl auch nicht definiert. Selbst wenn ich Ihnen einen konkreten Diamanten mit 60 Karat präsentierte, so könnte niemand die exakte Anzahl seiner Atome bestimmen. Geht man etwas weiter zurück in die Geschichte, so stand der aus dem Altgriechischen stammende Begriff der Myriade sowohl für die Zahl Zehntausend, wie auch für eine unzählbare Menge.
Und zum Zählen selbst: Wie weit kann ein Mensch wohl zählen, wenn seine Lebensspanne weniger als drei Milliarden Sekunden beträgt?
Wenn wir akzeptieren, dass die natürlichen Zahlen Konstrukte unserer Phantasie sind, so führt das sofort zu einem neuen Problem: Wie können wir entscheiden, ob eine Aussage, die wir über die Zahlen treffen, richtig oder falsch ist? Die Naturwissenschaften haben die Natur als obersten Schiedsrichter. Theoretische Physiker mögen sich Modelle ausdenken. Ob die Modelle taugen, darüber entscheiden Experimente. In der Mathematik haben wir keinen solchen obersten Schiedsrichter zur Verfügung. Unsere Vorgehensweise muss also anders sein. Um uns nicht in phantastischer Beliebigkeit zu verlieren, müssen wir sorgfältig und nach festen Spielregeln vorgehen. An Stelle von Experimenten benutzen wir in der Mathematik Beweise, um die Richtigkeit einer Aussage zu begründen.
Wenn ich Ihnen eine mathematische Aussage beweisen will, so führe ich Tatsachen an, von denen ich meine, dass diese von Ihnen ohne weitere Begründung sofort akzeptiert werden. Ferner benutze ich Schlussweisen, von denen ich meine, dass auch diese von Ihnen akzeptiert werden. Aufgrund solcher Schlussweisen folgere ich aus den bereits akzeptierten Tatsachen, dass die von mir behauptete Aussage tatsächlich gilt. Hierbei liegt die Betonung immer auf dem Wort akzeptiert. Um überhaupt beginnen zu können, müssen wir uns auf Grundtatsachen einigen, die wir nicht - zumindest nicht ohne Not - weiter hinterfragen wollen. Die Grundtatsachen nennt man Axiome. Um Axiome zu formulieren, benutzen wir Grundbegriffe, wie zum Beispiel Zahl oder Menge, die bestenfalls eine Vorstellung suggerieren mögen, letztlich aber nicht weiter definiert sind.
Nachdem wir also, dem Zitat von Herrn Waldhausen folgend, alle Objekte, die wir in der Mathematik betrachten, in das Reich der Phantasie verbannt haben, wo gibt es da noch einen realen Grund, sich mit diesen Fiktionen zu beschäftigen? Die Antwort liegt im zweiten Teil des Zitats: Die Mathematik erlaubt es uns, Gedankenmodelle der Realität zu bilden. Diese erlauben Vorhersagen über reale Vorgänge, die sich als erstaunlich präzise erweisen.
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[1] Darüber, ob ein Jenseits des Beobachtungshorizonts existiert und wie es beschaffen sein könnte, gibt es selbstverständlich vielerlei Spekulation.
[2] Der Name im internationalen Einheitensystem (SI) lautet Avogadro-Zahl. Die angegebene Zahl ist der international empfohlene CODATA-Wert von 2002. Der empfohlene Zahlenwert ab der 6. Nachkommastelle änderte sich seitdem mehrmals; ab dem 20. Mai 2019 wird die Avogadro-Zahl per Definition auf exakt 6,02214076\( \cdot10^{23}\) festgelegt.