9.1 Geodäten

9.1.1. Definition. Es sei $X$ eine Untermannigfaltigkeit von $\mathbb{R}^{N}$ und $I$ ein Intervall. Eine Geodäte $c:I\to X$ ist eine parametrisierte Kurve, für die das Beschleunigungsvektorfeld $\ddot{c}\left(t\right)$ normal zur Untermannigfaltigkeit $X\subset\mathbb{R}^{N}$ ist, also $\ddot{c}\left(t\right)\in N_{c\left(t\right)}X$ für alle $t\in I$ gilt.

Es seien $x_{0}$ und $x_{1}$ Punkte in einer Untermannigfaltigkeit $X$ des euklidischen Raumes $\mathbb{R}^{N}$. Wir betrachten die Menge $$\Omega\left(X;x_{0},x_{1}\right):=\left\{ c:[0,1]\to X\;|\; c\text{ ist glatt, }c(0)=x_{0},c\left(1\right)=x_{1}\right\}$$ glatter Wege von $x_{0}$ nach

9.1.2. Definition. Energie und Länge eines Weges $c\in\Omega\left(X;x_{0},x_{1}\right)$ sind als Integrale definiert: $$E(c)=\int_{0}^{1}\|\dot{c}\left(t\right)\|^{2}dt,\;\;L\left(c\right)=\int_{0}^{1}\|\dot{c}\left(t\right)\|dt.$$

Die Definition der Energie kommt ohne Wurzel aus. Das macht die Energie analytisch wesentlich einfacher zu handhaben. Mittels der Schwarzschen Ungleichung $$\left(\int_{0}^{1}fgdt\right)^{2}\leq\left(\int_{0}^{1}f^{2}dt\right)\cdot\left(\int_{0}^{1}g^{2}dt\right)$$ lassen sich die beiden Begriffe miteinander vergleichen. In dieser Ungleichung gilt das Gleichheitszeichen genau dann, wenn die Funktionen $f$ und $g$ reelle Vielfache voneinander sind. Wendet man die Schwarzsche Ungleichung an auf den Fall der konstanten Funktion $f=1$ und $g=\|\dot{c}\left(t\right)\|$, so erhält man für Wege $c\in\Omega\left(X;x_{0},x_{1}\right)$ die Abschätzung $$L\left(c\right)^{2}\leq E\left(c\right).$$ In dieser Abschätzung gilt das Gleichheitszeichen genau dann, wenn $c$ proportional zur Bogenlänge parametrisiert ist.

9.1.3. Lemma. Angenommen, es gibt einen Weg $c_{0}\in\Omega\left(X;x_{0},x_{1}\right)$ minimaler Länge. Dieser sei proportional zur Bogenlänge parametrisiert. Dann gilt für alle $c\in\Omega\left(X;x_{0},x_{1}\right)$ die Abschätzung $$E\left(c_{0}\right)\leq E\left(c\right).$$Gleichheit gilt genau dann, wenn $c$ auch ein proportional zur Bogenlänge parametrisierter Weg minimaler Länge ist.

Beweis.. Da $c_{0}$ proportional zur Bogenlänge parametrisiert ist, gilt in der Ungleichungskette $$E\left(c_{0}\right)=L\left(c_{0}\right)^{2}\leq L\left(c\right)^{2}\leq E\left(c\right)$$ links das Gleichheitszeichen. Die Ungleichung in der Mitte folgt aus der Minimalität, die Ungleichung rechts folgt aus der Schwarzschen Ungleichung.
qed

Wie interessieren uns für das Minimum der Energiefunktion $$E\colon\Omega\left(X;x_{0},x_{1}\right)\to\mathbb{R};\;\;c\mapsto E\left(c\right).$$ Im Minimum sollte das Differential der Energiefunktion verschwinden.

9.1.4. Definition. Eine glatte Variation $\overline{\alpha}:\left(-\varepsilon,\varepsilon\right)\to\Omega\left(X;x_{0},x_{1}\right)$ eines Weges $c\in\Omega\left(X;x_{0},x_{1}\right)$ ist eine glatte Abbildung $\alpha:\left(-\varepsilon,\varepsilon\right)\times[0,1]\to X$ mit $\alpha\left(0,t\right)=c\left(t\right)$ für $t\in[0,1]$ und $\alpha\left(u,0\right)=x_{0}$, $\alpha\left(u,1\right)=x_{1}$ für $u\in\left(-\varepsilon,\varepsilon\right).$

Wir interessierten uns für die Ableitung der glatten Funktion $E\circ\overline{\alpha}:\left(-\varepsilon,\varepsilon\right)\to\mathbb{R}$ an der Stelle $0$. Dazu bezeichne $ w(t)=\frac{\partial\alpha}{\partial u}\left(0,t\right)$ das zu $\overline{\alpha}$ assoziierte Variationsvektorfeld. An jedem Punkt des Weges beschreibt $w\left(t\right)$ die Richtung, in die die Kurve $c$ variiert wird. Da die Kurve nur innerhalb der Untermannigfaltigkeit $X$ variiert, gilt $w(t)\in T_{c(t)}X$.

9.1.5. Variationsformel. Die Ableitung der Energie einer glatten Variation $\overline{\alpha}$ eines Weges $c$ berechnet sich nach der Formel $$\tfrac{1}{2}\tfrac{d\,E\left(\overline{\alpha}\left(u\right)\right)}{du}|_{u=0}=-\int_{0}^{1}\langle w(t),\ddot{c}\left(t\right)\rangle dt.$$

Beweis. Wir benutzen die Ableitung des Skalarproduktes $$\tfrac{\partial}{\partial u}\left\langle \tfrac{\partial\alpha}{\partial t},\tfrac{\partial\alpha}{\partial t}\right\rangle =2\left\langle \tfrac{\partial^{2}\alpha}{\partial u\partial t},\tfrac{\partial\alpha}{\partial t}\right\rangle$$ und erhalten $$\tfrac{1}{2}\tfrac{d\,E\left(\overline{\alpha}\left(u\right)\right)}{du} = \begin{aligned}\tfrac{1}{2}\tfrac{d}{du}\left(\int_{0}^{1}\left\langle \tfrac{\partial\alpha}{\partial t},\tfrac{\partial\alpha}{\partial t}\right\rangle dt\right)\end{aligned}
= \tfrac{1}{2}\int_{0}^{1}\tfrac{\partial}{\partial u}\left\langle \tfrac{\partial\alpha}{\partial t},\tfrac{\partial\alpha}{\partial t}\right\rangle dt
= \int_{0}^{1}\left\langle \tfrac{\partial^{2}\alpha}{\partial u\partial t},\tfrac{\partial\alpha}{\partial t}\right\rangle dt.$$ Andererseits liefert partielle Ableitung nach $t$ $$\tfrac{\partial}{\partial t}\left\langle \tfrac{\partial\alpha}{\partial u},\tfrac{\partial\alpha}{\partial t}\right\rangle =\left\langle \tfrac{\partial^{2}\alpha}{\partial u\partial t},\tfrac{\partial\alpha}{\partial t}\right\rangle +\left\langle \tfrac{\partial\alpha}{\partial u},\tfrac{\partial^{2}\alpha}{\partial t\partial t}\right\rangle .$$ Berücksichtigt man das Verschwinden $\tfrac{\partial\alpha}{\partial u}=0$ für $t=0$ oder $1$, ergibt das $$\tfrac{1}{2} \tfrac{d\,E\left(\overline{\alpha}\left(u\right)\right)}{du} = \left\langle \tfrac{\partial\alpha}{\partial u},\tfrac{\partial\alpha}{\partial t}\right\rangle \vert_{0}^{1}-\int_{0}^{1}\left\langle \tfrac{\partial\alpha}{\partial u},\tfrac{\partial^{2}\alpha}{\partial t\partial t}\right\rangle dt.
= -\int_{0}^{1}\left\langle \tfrac{\partial\alpha}{\partial u},\tfrac{\partial^{2}\alpha}{\partial t\partial t}\right\rangle dt.$$ Für den Wert $u=0$ erhält man schließlich die behauptete Formel.
qed

Aus der Variationsformel erhalten wir, dass die kritischen Punkte des Energiefunktionals Geodäten sind. Insbesondere sind Längen minimierende glatte Kurven also Geodäten. Die Umkehrung gilt nicht.

9.1.6. Existenzsatz. Geodäten existieren lokal. Genauer gilt: Es sei $x\in X$ ein Punkt auf einer glatten Mannigfaltigkeit $X\subset\mathbb{R}^{N}$. Zu jedem Tangentialvektor $\xi\in T_{x}X$ existiert ein Intervall $I$, das die Null enthält, und eine Geodäte $c:I\to X$ zu den Anfangswerten $c\left(0\right)=x$ und $\dot{c}\left(0\right)=\xi$.

Dies ist eine Konsequenz des Satzes von Picard-Lindelöf über die Existenz und Eindeutigkeit von Lösungen von Differentialgleichungen. Wir wollen die Differentialgleichung nur im Spezialfall einer Fläche explizit angeben. Folglich wird der Satz nur im Falle einer Fläche im Raum beweisen. Da die zu beweisende Aussage lokal ist, können wir annehmen, dass $S=\Gamma_{f}$ Graph einer Funktion $f:U\to\mathbb{R}$ ist mit $U\subset\mathbb{R}^{2}$ offen.

Beweis. Wir konstruieren ein zur Fläche normales Einheitsvektorfeld, das heißt eine Abbildung $n\colon S\to \mathbb R^3$ mit $n(s)\in N_sS$ und $\|n(s)\|=1$. Gegeben solch ein Vektorfeld, lautet die Geodätenbedingung $$\ddot{c}=\langle\ddot{c},n\rangle n.$$ Der Tangentialraum $T_sS\subset T_s\mathbb R^3=\mathbb R^3$ an die Fläche $S=\Gamma_{f}$ im Punkt $s=\left(x,y,f\left(x,y\right)\right)$ wird aufgespannt von den beiden Vektoren $$\frac{\partial}{\partial x}:=\left(\begin{matrix}1\\0\\f_{x}\end{matrix}\right)\quad \text{ und }\quad \frac{\partial}{\partial y}:=\left(\begin{matrix}0\\1\\f_{y}\end{matrix}\right),$$ wo wir abkürzend schreiben $f_{x}=\tfrac{\partial f}{\partial x}\left(x,y\right),$ und $f_{y}=\tfrac{\partial f}{\partial y}\left(x,y\right).$ Der Einheitsnormalenvektor $n(s)\in N_sS\subset T_s\mathbb R^3=\mathbb R^3$ berechnet sich mittels des Kreuzproduktes $$n(s)=\frac{\left(\frac{\partial}{\partial x}\times\frac{\partial}{\partial y}\right)}{\|\frac{\partial}{\partial x}\times\frac{\partial}{\partial y}\|}=\tfrac{1}{\sqrt{1+f_{x}^{2}+f_{y}^{2}}}\;\left(\begin{matrix}-f_{x}\\-f_{y}\\1\end{matrix}\right).$$

Eine parametrisierte Kurve in $S$ lässt sich darstellen in der Form $$\begin{align}
c:I&\to S=\Gamma_{f}\\
t&\mapsto \Big( x(t), y(t), f \big(x(t),y(t)\big) \Big).
\end{align}$$ Der Beschleunigungsvektor ist von der Form $$\ddot{c}=\left(\begin{matrix}\ddot{x}\\ \ddot{y}\\ \ddot{f}\end{matrix} \right) =\left(\begin{matrix}\ddot{x}\\ \ddot{y}\\ f_{xx}\dot{x}\dot{x}+f_{xy}\dot{x}\dot{y}+f_{yx}\dot{y}\dot{x}+f_{yy}\dot{y}\dot{y}+f_{x}\ddot{x}+f_{y}\ddot{y}\end{matrix}\right).$$ Eingesetzt in die Geodätenbedingung $\ddot{c}=\langle\ddot{c},n\rangle n$ ergibt sich ein Gleichungssystem $$\left(\begin{array}{c}
\ddot{x}\\
\ddot{y}\\
\ddot{f}
\end{array}\right)=\frac{f_{xx}\dot{x}\dot{x}+f_{xy}\dot{x}\dot{y}+f_{yx}\dot{y}\dot{x}+f_{yy}\dot{y}\dot{y}}{1+f_{x}^{2}+f_{y}^{2}}\,\,\,\left(\begin{array}{c}
-f_{x}\\
-f_{y}\\
1
\end{array}\right).$$ Die Gleichung in der dritten Zeile ist redundant. Sie folgt aus den ersten beiden Zeilen. Wir konzentrieren uns deshalb auf die ersten beiden Gleichungen. Dazu betrachten wir auf der offenen Teilmenge $V=U\times\mathbb{R}^{2}$ des $\mathbb{R}^{4}$ die Differentialgleichung $$\dot{\left(\begin{array}{c}
x\\
y\\
a\\
b
\end{array}\right) }=\left(\begin{array}{c}
a\\
b\\
\frac{f_{xx}a^{2}+f_{xy}ab+f_{yx}ba+f_{yy}b^{2}}{1+f_{x}^{2}+f_{y}^{2}}\left(-f_{x}\right)\\
\frac{f_{xx}a^{2}+f_{xy}ab+f_{yx}ba+f_{yy}b^{2}}{1+f_{x}^{2}+f_{y}^{2}}\left(-f_{y}\right)
\end{array}\right).$$ Die einzelnen Terme $f_{xx}, f_{x}$ usw. sind glatte Funktionen in den ersten beiden Variablen und insbesondere ist der Ausdruck auf der rechten Seite Lipschitz-stetig in den Ausgangsvariablen. Der Satz von Picard-Lindelöf garantiert nun zu einem gegebenen Anfangswert $(x_0,y_0, \xi_1,\xi_2)\in V$ eine in einer Umgebung $I\subset \mathbb R$ der $0$ definierte, eindeutig bestimmte Lösung $t\mapsto \big(x(t),y(t),a(t),b(t)\big)$ dieser Differentialgleichung. Daraus gewinnen wir die gesuchte Geodäte $$c\colon I\to S, \quad t\mapsto \Big( x(t), y(t), f \big(x(t),y(t)\big) \Big)$$ mit $$\begin{align} c(0)&=s_0=\big(x_0,y_0,f(x_0,y_0)\big)\in S\\ \dot{c}(0)&=\xi_1\tfrac{\partial}{\partial x}+\xi_2\tfrac{\partial}{\partial y}\in T_{s_0}S.\end{align}$$ qed

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