Der lateinische Name Theorema egregium bedeutet soviel wie herausragender Satz. Die Bezeichnung stammt von Gauß, der im Rahmen der kartographischen Vermessung des Königreiches Hannover Flächen schon über viele Jahre studiert hatte, bevor er dieses Resultat entdeckte:
[ ... ] Formula itaque art[iculi] praec[edentis] sponte perducit ad egregium
Theorema. Si superficies curva in quamcunque aliam superficiem explicatur, mensura curvaturae in singulis punctis invariata manet.
Übersetzt:
Die Formel im vorhergehenden Absatz leitet somit unmittelbar zu dem außerordentlichen Satz: Wenn eine gekrümmte Oberfläche auf irgendeine andere Oberfläche ausgebreitet wird, bleibt das Maß der Krümmung in den einzelnen Punkten unverändert.
Eine heutzutage gängige Formulierung dieser Aussage lautet:
9.0.1. Theorema Egregium. Die Gaußsche Krümmung $K$ einer Fläche ist eine Größe der inneren Geometrie.
Dieser Satz ist insoweit überraschend, als die Hauptkrümmungen $k_{1}$ und $k_{2}$ Größen der äußeren Geometrie der Fläche sind, also abhängig davon, auf welche Weise die Fläche in den $\mathbb{R}^{3}$ eingebettet ist. Das Produkt $K=k_1k_2$ der beiden Größen jedoch ist unabhängig von der Weise, wie die Fläche eingebettet ist.
Wir folgen im Beweis nicht der Argumentation von Gauß aus seinem Aufsatz vom 08. Oktober 1827, in dem er die Differentialgeometrie von Flächen entwickelt, wie sie heute noch im Wesentlichen gelehrt wird. Statt dessen folgern wir das Theorema egregium aus einem Satz von Bertrand und Puiseux aus dem Jahre 1848, den wir dann mit Hilfe der Ihnen im 2. Semester bereits vorgestellten Methoden von Picard und Lindelöf aus den 1890-er Jahren beweisen. Quick and dirty.
9.0.2. Satz von Bertrand und Puiseux. Es sei $C_t(s)$ die Kurve der Punkte in $S$ mit Abstand $t$ von $s$. Dann gilt für die Länge der Kurve die asymptotische Entwicklung $$L\left(C_t(s)\right)= 2\pi t-\tfrac\pi3 K(s)\;t^3+O(t^4).$$
Der Flächeninhalt des Balles $B_t(s)$ mit Radius $t$ um den Punkt $s\in S$ berechnet sich als Integral $$Ar\left(B_t(s)\right)=\int_0^tL\left(C_\rho(s)\right)\,d\rho.$$ Daraus folgt das Korollar
9.0.3. Korollar. Der Flächeninhalt des Balls $B_{t}(s)$ um den Punkt $s$ lässt sich nach dem Radius $t$ entwickeln: $$Ar(B_{t}(s))=\pi t^{2}-\tfrac{\pi}{12}K(s)\;t^{4}+O\left(t^{5}\right).$$
Bevor wir uns an den Beweis der Aussage 9.0.2 machen, müssen wir uns mit dem Abstandsbegriff auf einer Untermannigfaltigkeit $X\subset \mathbb R^N$ befassen. Der Abstand zweier Punkte wird dabei definiert als die Länge des kürzesten Weges auf $X$ zwischen diesen Punkten.