5.2.1. Definition. Eine offene Abbildung \(p\colon E\to X\) heißt étale, falls sie lokal homöomorph ist, d.h. wenn jeder Punkt \(e\in E\) eine offene Umgebung \(U\subset E\) besitzt, welche durch \(p\) homöomorph auf die offene Teilmenge \(p(U)\subset X\) abgebildet wird. Man nennt \((E,p)\) dann einen étalen Raum über \(X\). Ein Morphismus \(f\colon (E,p)\to (E',p')\) von étalen Räumen über \(X\) ist eine mit den étalen Abbildungen verträgliche Abbildung, also eine stetige Abbildung \(f\colon E\to E'\), für die gilt \(p'\circ f=p\).
Das französische Verb étaler übersetzt sich in ausbreiten. Auf dem Marktstand (frz. étal) werden zum Beispiel die Waren zum Verkauf ausgebreitet. Anschaulich wird die Abbildung des Punktes \(e\in E\) auf den Punkt \(p(e)\) ausgebreitet zu einem Homöomorphismus der Umgebung \(U\) von \(e\) mit der Umgebung \(p(U)\) von \(p(e)\).
5.2.2. Beispiele.
- Jede offene Einbettung ist étale.
- Ist \(D\) ein diskreter Raum, so ist die Projektion auf den ersten Faktor \(\pi\colon X\times D\to X\) étale.
- Eine stetige reellwertige Funktion \(f\colon J\to \mathbb R\) auf einem offenen Intervall \(J\subset \mathbb R\) ist genau dann étale, wenn sie streng monoton ist.
- Es sei \(U\subset \mathbb C\) offen und \(h\colon U\to \mathbb C\) eine komplex stetig differenzierbare Funktion, d.h. für jedes \(z_0\in U\) existiert der Grenzwert \[h'(z_0):=\lim_{z\to z_0}\frac{h(z)-h(z_0)}{z-z_0}\] und die dadurch definierte Funktion \(h'\colon U\to \mathbb C\) ist stetig (man nennt solch eine Funktion auch holomorph). Die Einschränkung von \(h\) auf die offene Teilmenge \(U':=U\setminus\{z\mid h'(z)=0\}\), in der die Ableitung nicht verschwindet, ist dann étale. Dies folgt sofort aus dem Satz über die Umkehrfunktion: Zerlegen wir für \(z=x+iy\) die Funktion \(h(x+iy)=f(x,y)+ig(x,y)\) in Real- und Imaginärteil, so folgt unmittelbar aus der komplexen Differenzierbarkeit, dass die Ableitung mit der Multiplikation mit \(i\) kommutiert, d.h. für die Jacobische gilt die Gleichung \[\begin{pmatrix}\frac{\partial f}{\partial x}&\frac{\partial f}{\partial y}\\ \frac{\partial g}{\partial x}&\frac{\partial g}{\partial y}\end{pmatrix}\begin{pmatrix}0&-1\\1&0\end{pmatrix}=\begin{pmatrix}0&-1\\1&0\end{pmatrix}\begin{pmatrix}\frac{\partial f}{\partial x}&\frac{\partial f}{\partial y}\\ \frac{\partial g}{\partial x}&\frac{\partial g}{\partial y}\end{pmatrix},\] oder äquivalent die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen \[\frac{\partial f}{\partial x}=\frac{\partial g}{\partial y},\quad\text{und}\quad \frac{\partial f}{\partial y}=-\frac{\partial g}{\partial x}.\] Setzen wir diese Gleichung ein in die Determinante der Jacobischen \[\det\begin{pmatrix}\frac{\partial f}{\partial x}&\frac{\partial f}{\partial y}\\ \frac{\partial g}{\partial x}&\frac{\partial g}{\partial y}\end{pmatrix}=\left(\frac{\partial f}{\partial x}\right)^2+\left(\frac{\partial f}{\partial y}\right)^2=\left(\frac{\partial g}{\partial x}\right)^2+\left(\frac{\partial g}{\partial y}\right)^2,\] so erkennen wir, dass die Jacobische invertierbar ist, sobald sie nicht verschwindet. In diesem Fall, so besagt der Satz über die Umkehrfunktion aus der Analysis 2, ist die Funktion \(h\) ein lokaler Homöomorphismus auf eine offene Umgebung des Bildpunktes.
- Interessant ist der Spezialfall der komplexen Exponentialfunktion \(\exp\colon \mathbb C\to \mathbb C\). Die Formel \[\exp(x+iy)=\exp(x)\left(\cos(x)+i\sin(x)\right)\] erlaubt es, diese étale Abbildung zu veranschaulichen. Ein Streifen der Form \(\mathbb R + (\lambda,\lambda+2i\pi)\subset \mathbb C\) für ein \(\lambda\in i\mathbb R\) wird homöomorph abgebildet auf das Komplement \(\mathbb C\setminus \left(\mathbb R_{\ge 0}\cdot v\right)\) des Strahles, der vom Nullpunkt ausgeht und durch den Punkt \(v=\exp({\lambda})\) des Einheitskreises läuft. Sich den Graphen der Exponentialfunktion als Teilmenge des reell vierdimensionalen Raumes \(\mathbb C^2\) vorzustellen, mag etwas schwerfallen. Einen ersten Eindruck gewinnt man jedoch schon vom Graphen der Einschränkung \[\exp\colon i\mathbb R\to \mathbb C\] auf die imaginäre Achse: Betrachtet man den Bildbereich als eine horizontal liegende Ebene und den Definitionsbereich als dazu senkrecht nach oben verlaufende Gerade, so hat der Graph dieser Funktion die Gestalt einer sich unendlich nach oben windenden Spirale, auch Helix genannt, die bei senkrecht von oben leuchtender Sonne einen kreisförmigen Schatten auf der Ebene hinterlässt. Parallelverschiebung der imaginären Achse ändert den Radius der Spirale, nicht den vertikalen Abstand übereinander liegender Abschnitte der Spirale. Es drängt sich das Bild einer unendlich nach oben steigenden Wendeltreppe auf.
- In der Quotientenabbildung \(q\colon S^n\to \mathbb RP^n\) werden Antipoden in der Sphäre identifiziert. Die offene Halbsphäre \[U_x:=\{v\in S^n\subset \mathbb R^{n+1}\mid \langle v,x\rangle\gt 0\}\] eines gegebenenen Punktes \(x\in S^n\) wird durch \(q\) homöomorph auf eine offene Umgebung des Bildpunktes abgebildet. Die Quotientenabbildung \(q\) ist also étale.
- Auf \(\mathbb R^\pm:=\mathbb R\times\{\pm1\}\) betrachten wir die Äquivalenzrelation \[(r,1)\sim (r,-1) \quad\iff\quad r\not=0.\] Die Projektion \(\mathbb R^\pm\to \mathbb R\) auf den ersten Faktor des Produktes faktorisiert über eine stetige Funktion \[\pi\colon \mathcal R\to \mathbb R\] auf dem Raum \(\mathcal R=\mathbb R^\pm/\sim\) der Äquivalenzklassen. Das Urbild \(\pi^{-1}(r)\) einer Zahl \(r\in \mathbb R\setminus \{0\}\) besteht aus genau einem Punkt. Das Urbild \(\pi^{-1}(0)\) besteht aus den beiden nicht äquivalenten Punkte \((0,+1)\) und \((0,-1)\). Die Abbildung \(\pi\) ist étale: Das Bild der offenen Menge \(\mathbb R^{\pm}\setminus \{(0,+1)\}\) ist eine offene Umgebung des Punktes \((0,-1)\) in \(\mathcal R\), welche durch \(\pi\) homoömorph auf \(\mathbb R\) abgebildet wird. Ebenso ist das Bild der offenen Menge \(\mathbb R^{\pm}\setminus \{(0,-1)\}\) eine offene Umgebung des Punktes \((0,+1)\) in \(\mathcal R\), welche durch \(\pi\) homoömorph auf \(\mathbb R\) abgebildet wird.
Wir beginnen die Diskussion étaler Abbildungen mit einer alternativen Charakterisierung.
5.2.3. Satz. Eine stetige Abbildung \(f\colon E\to X\) ist genau dann étale, wenn sie offen ist und außerdem die Diagonale \[
\Delta_E=\{(e,e)\mid e\in E\}\subset E\times_XE\] ein offener Unterraum des Faserproduktes \(E\times_XE\) ist.
Beweis. Ist die Abbildung \(f\) étale, so ist sie offen und jeder Punkt in \(E\) besitzt eine offene Umgebung \(V\), auf der \(f|_V\) injektiv ist. Mit anderen Worten gilt \[\left(V\times V\right)\cap \left(E\times_XE\right) \subset \Delta_E.\] Damit ist \(\Delta_E\) offen in \(E\times_XE\).
Umgekehrt sei die Abbildung \(f\) offen und \(\Delta_E\) sei ein offener Unterraum von \(E\times_XE\). Zu einem gegebenem \(e\in E\) gibt es eine offene Umgebung \(V \subset E\), so dass die Menge \(\left(V\times V\right)\cap \left(E\times_XE\right)\) noch ganz in \(\Delta_E\) enthalten ist. Dann ist aber \(f|_V\) injektiv. Somit ist \(f\) étale.
qed
5.2.4. Satz. Es seien \(f\colon Y\to X\) und \(g\colon Z\to Y\) stetige Abbildungen und es bezeichne \(h\colon Z\to X\) die Komposition \(h=f\circ g\).
Beweis.
- Kompositionen offener Abbildungen sind offen. Die offene Umgebung \(W\) des Punktes \(z\in Z\) werde homöomorph auf die offene Umgebung \(g(W)\subset Y\) des Punktes \(g(z)\) abgebildet und die offene Umgebung \(V\) des Punktes \(g(z)\in Y\) homöomorph auf die offene Umgebung \(f(V)\) des Punktes \(h(z)=f\left(g(z)\right)\). Dann bildet \(g\) die offene Umgebung \(W':=W\cap g^{-1}(V)\) von \(z\) homöomorph auf die offene Umgebung \(g(W')=g(W)\cap V\) ab, welche wiederum von \(f\) homöomorph auf die offene Umgebung \(h(W')=f\left(g(W)\cap V\right)=h(W)\cap f(V)\) von \(h(z)\in X\) abgebildet wird.
- Es sei \(z\in Z\) gegeben und \(V\subset Y\) eine offene Umgebung des Punktes \(g(z)\), welche durch \(f\) homöomorph auf eine offene Umgebung \(f(V)\subset X\) des Punktes \(h(z)\) abgebildet wird, und sei \(W\) eine offene Umgebung von \(z\), welche durch \(h\) homöomorph auf eine offene Umgebung \(h(W)\subset f(V)\) des Punktes \(h(z)\) abgebildet wird. Dann bildet \(g\) die offene Umgebung \(W\) von \(z\) homöomorph ab auf die offene Umgebung \(g(W)=f^{-1}\left(h(W)\right)\) von \(g(z)\). Die Abbildung \(g\) ist somit offen und ein lokaler Homöomorphismus.
- Es sei \(y\in Y\) und \(z\in g^{-1}(y)\subset Z\). Die Abbildung \(h\) induziere einen Homöomorphismus der offenen Umgebung \(W\subset Z\) des Punktes \(z\) mit der offenen Umgebung \(h(W)\subset X\) von \(h(z)\). Wegen der Offenheit der Abbildung \(g\) ist \(g|_W\colon W\to g(W)\subset Y\) eine offene, stetige und bijektive Abbildung auf eine Umgebung von \(y\). Darüber hinaus induziert \(f\) einen Homöomorphismus der offenen Umgebung \(g(W)\) von \(y\) mit der offenen Umgebung \( \;f\left(g(W)\right)=h(W)\) von \(f(y)=h(z)\). Die Abbildung \(f\) ist somit étale.
qed
5.2.5. Étalraum zu einer Prägarbe. Es sei eine Prägarbe \(\mathcal F\colon \mathcal B\to \mathcal{Sets}\) bezüglich einer Basis \(\mathcal B\) der Topologie auf \(X\) gegeben. Wir konstruieren daraus einen étalen Raum \((E_\mathcal F,p)\) über \(X\). Für jede offene Menge \(U\in \mathcal B\) betrachten wir den topologischen Raum \(\mathcal F(U)\times U \), wobei wir \(U\) mit der Teilraumtopologie versehen und \(\mathcal F(U)\) mit der diskreten Topologie. Ein Element der disjunkten Vereinigung \[
\widetilde{E(\mathcal F)}:=\coprod_{U\in \mathcal B}\left(\mathcal F(U)\times U\right)
\] wird also beschrieben durch ein Tripel \((U,s,x)\) mit \(U\in \mathcal B\), \(s\in\mathcal F(U)\) und \(x\in U\). Die Abbildung \[\pi\colon \widetilde{E(\mathcal F)}\to X,\quad (U,s,x)\mapsto x\] ist étale (vgl. 5.2.2.i und ii). Auf \(\widetilde{E(\mathcal F)}\) ist eine Äquivalenzrelation \(\sim\) definiert: Es gilt \((U,s,x) \sim (U',s',x')\) genau dann, wenn
- \(x=x'\) und
- es existiert ein \( W\in \mathcal B\) mit \(x\in W\subset U\cap U'\) und \(\rho_{UW}(s)=\rho_{U'W}(s')\).
Wir bezeichnen den Quotientenraum \(\widetilde{E(\mathcal F)}/\sim\) mit \(E_\mathcal F\). Das Element \((U,s,x)\in \widetilde{E(\mathcal F)}\) wird durch die Quotientenabbildung \(q\) auf seine Äquivalenzklasse \([U,s,x]\in E_\mathcal F\) abgebildet. Die universelle Eigenschaft der Quotiententopologie liefert die Stetigkeit der Abbildung \[p\colon E_\mathcal F\to X,\quad [U,s,x]\mapsto x.\] In dem kommutierenden Diagramm \[\begin{matrix}\widetilde{E(\mathcal F)}&\xrightarrow{\quad q\quad}&E_\mathcal F\\
{\phantom{Platzda}\scriptstyle\pi}\searrow&&\swarrow \scriptstyle{p}\phantom{Platzda}\\&X&\end{matrix}\] ist die Abbildung \(\pi\) étale und die Quotientenabbildung \(q\) surjektiv. Zum Nachweis der Offenheit von \(q\) sei an die Quotiententopologie erinnert: Eine Menge \(Y\subset E_\mathcal F\) ist genau dann offen, wenn \(q^{-1}(Y)\) offen in \(\widetilde{E(\mathcal F)}\) ist. Für \(U\in\mathcal B\) und eine offene Teilmenge \(U'\subset U\) bezeichne \((U,s,U')\) die offene Teilmenge \[(U,s,U'):=\{(U,s,u')\mid u'\in U'\subset U, U'\text{ offen}\}\] von \(\widetilde{E(\mathcal F)}\). Dann ist die Sättigungsmenge \[q^{-1}\left(q\left(U,s,U'\right)\right)=
\coprod_{V\in\mathcal B}
\Bigg(
\bigcup_{W\in\mathcal B,W\subset U\cap V}
\bigg(
\bigcup_{t\in \rho_{VW}^{-1}\left(\rho_{UW}^{\phantom{-1}}(s)\right)}
\big(V,t,W\cap U'\big)
\bigg)
\Bigg)
\] wiederum offen in \(\widetilde{E(\mathcal F)}\). Da die offenen Mengen der Form \((U,s,U')\) eine Basis der Topologie von \(\widetilde{E(\mathcal F)}\) bilden, erhalten wir die behauptete Offenheit der Quotientenabbildung \(q\), und mit (5.2.3.iii), dass \(p\) étale ist.
5.2.6. Definition. Der étale Raum \((E_\mathcal F,p)\) über \(X\) heißt der zur Prägarbe \(\mathcal F\colon \mathcal B\to\mathcal{Sets}\) assoziierte Étalraum. Das Urbild \(p^{-1}(x)\) eines Punktes \(x\in X\) heißt Halm der Prägarbe \(\mathcal F\) über \(x\) und wird mit \(\mathcal F_x\) bezeichnet. Für jede offene Menge \(U\in \mathcal B\), jedes \(s\in\mathcal F(U)\) und jedes \(x\in U\) wird das Element \([U,s,x]\) im Halm \(\mathcal F_x\) über \(x\) der Keim des Schnittes \(s\) im Punkte \(x\) genannt.
5.2.7. Funktorialität. Die Konstruktion des Étalraumes ist funktoriell: Ist \(X\) ein topologischer Raum, so induziert ein Morphismus \(\phi\colon \mathcal F\to\mathcal F'\) von Prägarben bezüglich Topologiebasen \(\mathcal B\subset \mathcal B'\subset \mathcal T_X\) eine stetige Abbildung \[E\phi\colon E_\mathcal F\to E_{\mathcal F'}, \quad [U,s,x]\mapsto [U,\phi_U(s),x]\] von Étalräumen über \(X\). Satz 5.2.4.ii zeigt, dass die Abbildung \(E\phi\) selbst wieder étale ist.
5.2.8. Definition. Ist \(f\colon Y\to X\) eine stetige Abbildung zwischen topologischen Räumen und \(A\subset X\) ein Unterraum, so nennt man eine stetige Abbildung \(s\colon A\to Y\) mit \(f\circ s=\mathrm{id}_A\) einen Schnitt von \(f\) über \(A\).
5.2.9. Bemerkungen.
- Ein Schnitt \(s\) einer stetigen Abbildung beschreibt einen Homöomorphismus von \(A\) mit dem Bild \(s(A)\subset Y\), da \(s\) notwendig bijektiv ist und die Umkehrabbildung \(f|_{s(A)}\) stetig ist.
- Ist \(f\colon Y\to X\) stetig, so können wir jeder offenen Teilmenge \(U\subset X\) die Menge \[\Gamma(U;f):=\{s\colon U\to Y\mid f\circ s=\mathrm{id}_U\}\] der Schnitte von \(f\) über \(U\) zuordnen. Zusammen mit den Einschränkungsabbildungen \[\mathrm{res}_{U,V}\colon \Gamma(U;f)\to \Gamma(V;f);\quad s\mapsto s|_V\] beschreibt der kontravariante Funktor \(\Gamma(\;\_\;;f)\colon \mathcal T_X\to \mathcal{Sets}\) eine Garbe.
- Es sei \(\mathcal F\) eine Prägarbe bezüglich einer Topologiebasis \(\mathcal B\) des Raumes \(X\) und \(\mathcal F^+:=\Gamma(\;\_\;;p)\) die Schnittgarbe des zu der Prägarbe assoziierten Étalraumes \((E(\mathcal F),p)\). Es gibt einen kanonischen Morphismus \[\sigma\colon\mathcal F\to \mathcal F^+\] von Prägarben über \(\mathcal B\): Für \(U\in \mathcal B\) und \(s\in \mathcal F(U)\) gegeben, ist \(\sigma_U(s)\in \Gamma(U;p)\) gegeben durch \[
\sigma_U(s)\colon x\mapsto [U,s,x]
.\]
5.2.10. Definition. Die Schnittgarbe \(\mathcal F^+:=\Gamma(\;\_\;;p)\) des zu der Prägarbe assoziierten Étalraumes \((E(\mathcal F),p)\), zusammen mit dem kanonischen Morphismus \[\sigma\colon \mathcal F\to \mathcal F^+\] von Prägarben, nennt man die Garbifizierung der Prägarbe \(\mathcal F\).
5.2.11. Satz. Der von der Garbifizierung \(\sigma\colon \mathcal F\to \mathcal F^+\) induzierte Morphismus \(E\sigma\colon E_\mathcal F\to E_{\mathcal F^+}\) von Étalräumen ist ein Homöomorphismus. Insbesondere ist die Garbifizierung einer Garbe ein Garbenisomorphismus.
Beweis. Wegen 5.2.4.ii ist die stetige Abbildung \(E\sigma\) étale und folglich offen. Es reicht also zu zeigen, dass sie halmweise bijektiv ist. Zur Injektivität: Seien \([U,s,x],[V,t,x]\in\mathcal F_x\) gegeben, und die Keime der Schnitte \(\sigma_U(s)\) und \(\sigma_V(t)\) im Punkte \(x\) gleich. Dann sind insbesondere die Werte dieser Schnitte im Punkte \(x\) gleich, d.h. \[
[U,s,x]=\sigma_U(s)(x)=\sigma_V(t)(x)=[V,t,x].
\] Zur Surjektivität: Sei \(\tau\colon V\to E_\mathcal F\) ein in einer Umgebung \(V\) von \(x\) definierter Schnitt gegeben und \(\tau(x)
=[U,s,x]\). Das Urbild der nach 5.2.3. offenen Diagonalen \(\Delta_{E_\mathcal F}\) unter der stetigen Abbildung \[\sigma_U(s)|_{U\cap V}\times_X \tau|_{U\cap V}\colon U\cap V\to E_{\mathcal F}\times_XE_{\mathcal F} \] ist dann eine offene Umgebung \(W\) von \(x\). Insbesondere stimmen die Keime von \(\tau\) und \(\sigma_U(s)\) im Punkte \(x\) überein. Das liefert die Surjektivität.
qed
5.2.12. Bemerkungen.
- Wir können zu einem gegebenen topologischen Raum \(X\) zwei Kategorien betrachten: Die Kategorie \(\mathcal{Étal}_X\) der Étalräume über \(X\) und die Kategorie \(\mathcal{Garb}_X\) der mengenwertigen Garben über \(X\), wohlverstanden jeweils mit den zugehörigen Morphismen. Zwischen diesen beiden Kategorien haben wir Funktoren definiert: Zum Einen den Funktor \[E\colon \mathcal{Garb}_X\to \mathcal{Étal}_X,\] der einer Garbe \(\mathcal G\) den zugehörigen Étalraum \(E_\mathcal G\) zuordnet, zum Anderen den Schnittfunktor \[\Gamma\colon \mathcal{Étal}_X\to \mathcal{Garb}_X,\] der einem Étalraum \(p\colon E\to X\) die Garbe der Schnitte von \(p\) über offenen Teilmengen von \(X\) zuordnet. Die beiden Funktoren sind zueinander invers, man spricht von einer Äquivalenz von Kategorien.
- Der Begriff der Garbe taucht in der Mathematik mit dem Ende des 2. Weltkriegs auf, und zwar in Werken der französischen Mathematiker Jean Leray und Henri Cartan. Die ersten systematischen Darstellungen definierten Garben tatsächlich als das, was wir nun Étalräume nennen und benutzten Prägarben zur Konstruktion derselben. Die äquivalente Sichtweise, Garben als Funktoren aufzufassen, wurde später von Grothendieck forciert und verallgemeinert, und ist inzwischen dominant.