5.3. Mannigfaltigkeiten

Mannigfaltigkeiten sind zentrale Objekte des Studiums sowohl der Topologie, wie auch der Differentialgeometrie.

5.3.1. Definition. Eine (topologische) Mannigfaltigkeit der Dimension \(n\) ist ein topologischer Hausdorffraum mit abzählbarer Basis der Topologie, der lokal homöomorph zum euklidischen Raum \(\mathbb R^n\) ist.

Ein Raum \(X\) ist lokal homöomorph zu \(\mathbb R^n\), wenn jeder Punkt \(x\in X\) eine Umgebung \(U\subset X\) besitzt, welche homöomorph ist zu einem offenen Unterraum \(V\subset \mathbb R^n\).

Die Hausdorff-Eigenschaft und die Bedingung der abzählbaren Topologie sind eher technischer Natur, um gewisse, als pathologisch angesehene Phänomene auszuschließen. Offenbar ist nämlich jeder étale Raum über einer topologischen Mannigfaltigkeit lokal homöomorph zum \(\mathbb R^n\). Beispiele wie die reelle Gerade mit Doppelpunkt (5.2.2.vii) werden mit den oben genannten technischen Bedingungen vermieden.

An dieser Stelle ist noch nicht klar, dass die Dimension \(n\), welche in der Definition auftaucht, tatsächlich eine topologische Invariante ist. Sie ist es. Die Peano-Kurve sollte jedoch als warnendes Beispiel dienen, dass diese Tatsache keineswegs offensichtlich ist. Ein Beweis der topologischen Invarianz der Dimension wird in der algebraischen Topologie mit Hilfe der singulären Kohomologie geliefert.

Einer Mannigfaltigkeit \(X\) lässt sich die Garbe \(\mathcal C_X^0:=\mathcal C_X(\;\_\;;\mathbb R)\) der stetigen, reellwertigen Funktionen zuordnen. Einem offenen Unterraum \(U\subset X\) ordnet diese Garbe die Menge \(\mathcal C(U;\mathbb R)\) stetiger, reellwertiger Funktionen auf \(U\) zu. Die Restriktionsabbildung \(\rho_{U,U'}\colon\mathcal C(U;\mathbb R)\to \mathcal C(U';\mathbb R)\) für eine offene Teilmenge \(U'\subset U\) ordnet einer Funktion \(f\in \mathcal C(U;\mathbb R)\) die Einschränkung \(\rho_{U,U'}(f)=f|_V\) auf \(U'\) zu.

Die Funktionenräume \(\mathcal C(U;\mathbb R)\) bilden jeweils reelle Vektorräume, und kommen versehen mit der Multiplikation als bilinearer Verknüpfung. Die Restriktionsabbildungen respektieren diese Strukturen. Somit ist die Garbe \(\mathcal C_X^0\) eine Garbe von kommutativen reellen Algebren. Ist \(h\colon U\to V\) ein Homöomorphismus eines offenen Unterraums \(U\subset X\) mit einem offenen Unterraum \(V\subset \mathbb R^n\), so induziert diese Abbildung einen Isomorphismus \[h^*\colon \mathcal C(V;\mathbb R)\to \mathcal C(U;\mathbb R),\quad f\mapsto f\circ h\] von reellen Algebren. Für offene Teilräume \(V\subset \mathbb R^n\) kennen wir interessante Unteralgebren \[\mathcal C(V;\mathbb R)=\mathcal C^0(V;\mathbb R)\supset \mathcal C^1(V;\mathbb R)\supset\ldots\supset \mathcal C^n(V;\mathbb R)\ldots \supset \mathcal C^\infty(V;\mathbb R)\supset \mathcal C^\omega(V;\mathbb R),\] nämlich die der einmal stetig differenzierbaren, der \(n\)-mal stetig differenzierbaren, der unendlich oft stetig differenzierbaren, sowie der analytischen Funktionen.

Sei im Folgenden \(\alpha\in \mathbb N\cup\{\infty,\omega\}\).

5.3.2. Definition. Eine \(\mathcal C^\alpha\)-Struktur auf einer topologischen Mannigfaltigkeit \(X\) ist eine Untergarbe \(\mathcal A_X\) von reellen Unteralgebren der Garbe \(\mathcal C_X^0\) der stetigen Funktionen auf \(X\), welche lokal isomorph ist zur Untergarbe \(\mathcal C^\alpha_{\mathbb R^n}\subset \mathcal C^0_{\mathbb R^n}\) als Garbe von Algebren. Die Garbe \(\mathcal A_X\) heißt Strukturgarbe von \(X\), und das Paar \((X,\mathcal A_X)\) wird eine \(\mathcal C^\alpha\)-Mannigfaltigkeit genannt.

Eine \(\mathcal C^\infty\)-Mannigfaltigkeit wird auch glatte Mannigfaltigkeit genannt. Im Folgenden sind Mannigfaltigkeiten immer glatt. Sollen andere Strukturen betrachtet werden, so wird dies explizit betont.

Die Konstruktion lässt sich auch auf komplexwertige Funktionenräume übertragen. Eine Funktion \(f\colon V\to \mathbb C\) auf einem offenen Unterraum \(V\subset \mathbb C^n\) nennt man holomorph, wenn sie stetig partiell nach jeder komplexen Variablen ableitbar ist. Bei diesen komplex differenzierbaren Funktionen gibt es ein faszinierendes Phänomen: Jede einmal stetig komplex differenzierbare Funktion ist bereits analytisch, konvergiert also in einer Umgebung jedes Punktes gegen ihre Taylorreihe. Dies wird mit Hilfe der Cauchyschen Integralformel in der Vorlesung Funktionentheorie bewiesen.

5.3.3. Definition. Eine komplexe Mannigfaltigkeit \((X,\mathcal O_X)\) der komplexen Dimension \(n\) ist eine topologische Mannigfaltigkeit \(X\), versehen mit einer Garbe \(\mathcal O_X\) von komplexen Algebren. Die Strukturgarbe \(\mathcal O_X\) ist eine Unteralgebragarbe der Garbe \(\mathcal C_X(\;\_\;;\mathbb C)\) der stetigen, komplexwertigen Funktionen auf \(X\), welche lokal isomorph ist zur Untergarbe \(\mathcal O_{\mathbb C^n}\subset \mathcal C_{\mathbb C^n}(\;\_\;;\mathbb C)\) der holomorphen Funktionen auf \(\mathbb C^n\).

Sei eine \(\mathcal C^\alpha\)-Mannigfaltigkeit \((X,\mathcal A_X)\) gegeben. Ein lokaler Isomorphismus identifiziert für eine offene Teilmenge \(U\subset X\), eine offene Teilmenge \(V\subset \mathbb R^n\) einen Homöomorphismus \(\phi\colon U\to V\), sowie einen durch \(h\) induzierten Isomorphismus \[\phi^*\colon \mathcal C^\alpha_V\to \mathcal A_U,\quad f\mapsto f\circ \phi\] der auf die jeweiligen offenen Unterräume eingeschränkten Garben. Die Abbildung \(\phi\) wird Karte genannt. Ist \(\phi'\colon U'\to V'\) eine weitere Karte, so erhalten wir durch die Kartenwechsel-Abbildung \(\psi:=\phi'\circ\phi^{-1}\) einen Homöomorphismus zwischen den offenen Teilmengen \(\phi(U\cap U'):=W\subset V\) und \(\phi'(U\cap U'):=W'\subset V'\) von \(\mathbb R^n\), sowie Isomorphismen der eingeschränkten Garben \[
\mathcal C^\alpha_{W'}\xrightarrow{\phi'^\ast}\mathcal A_{U\cap U'}\xrightarrow{(\phi^*)^{-1}}\mathcal C^\alpha_{W},\quad f\mapsto f\circ\left(\phi'\circ \phi^{-1}\right)=f\circ\psi.
\]

5.3.4. Lemma. Ist \(\psi\colon W\to W'\) ein Homöomorphismus offener Teilmengen von \(\mathbb R^n\), der einen Garbenisomorphismus \(\psi^*\colon \mathcal C^\alpha_{W'}\to \mathcal C^\alpha_{W}\) induziert, so ist \(\psi\) ein \(\mathcal C^\alpha\)-Diffeomorphismus.

Beweis. Seien \(e_1,\ldots,e_n\in \mathbb R^n\) die Standard-Einheitsvektoren. Die Koordinatenfunktionen \[x^k\colon \mathbb R^n\to \mathbb R,\quad \sum_{j=1}^n \nu^je_j \mapsto \nu^k\] sind in \(\mathcal C^\alpha(\mathbb R^n;\mathbb R)\). Die Einschränkungen \(x^k|_{W'}\) sind Elemente von \( \mathcal C^\alpha(W';\mathbb R)\) und nach Voraussetzung gilt auch \(\psi^k:=x^k\circ\psi\in \mathcal C^\alpha(W;\mathbb R)\). Die Funktionen \(\psi^k\) sind aber nichts Anderes als die Komponenten der Abbildung \(\psi\). Somit ist die Abbildung \(\psi\) eine \(\mathcal C^\alpha\)-Abbildung. Das gleiche Argument zeigt, dass auch \(\psi^{-1}\) eine \(\mathcal C^\alpha\)-Abbildung ist. Folglich ist \(\psi\) ein \(\mathcal C^\alpha\)-Diffeomorphismus.
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Wir könnten also alternativ eine \(\mathcal C^\alpha\)-Mannigfaltigkeit über die Existenz von Karten mit \(\mathcal C^\alpha\)-Kartenwechsel-Abbildungen definieren: Zum Nachweis, dass ein gegebener Raum die Struktur einer \(\mathcal C^\alpha\)-Mannigfaltigkeit trägt, genügt es zum Beispiel, eine offene Überdeckung, zusammen mit Kartenabbildungen, anzugeben, derart dass die Kartenwechsel-Abbildungen \(\mathcal C^\alpha\) sind. Die gleiche Argumentation gilt natürlich auch im Falle komplexer Mannigfaltigkeiten.

5.3.5. Beispiele.

  1. Eine offene Menge in einem euklidischen Raum ist eine Mannigfaltigkeit.
  2. Für die \(n\)-dimensionale Sphäre \[
    S^{n}=\left\{ y\in\mathbb{R}^{n+1}\;\vert\;\|y\|=1\right\}
    \] liefert die stereographische Projektion für Rechnungen gut geeignete Karten. Auf den offenen Mengen \(U_{\pm}=S^{n}\setminus \{\mp e_0\}\) definieren wir Kartenabbildungen \begin{eqnarray*}
    x_{\pm}:U_{\pm} & \to & \mathbb{R}^{n}\\
    (y^{0},y^{1},\ldots,y^{n}) & \mapsto & \frac{1}{1\pm y^{0}}(y^{1},\ldots,y^{n}).
    \end{eqnarray*} mit den dazu inversen Abbildungen \begin{eqnarray*}
    y_{\pm}:\mathbb{R}^{n} & \to & U_{\pm}\\
    (x^{1},\ldots,x^{n}) & \mapsto & \frac{1}{1+\|x\|^{2}}\left(\pm(1-\|x\|^{2}),2x^{1},\ldots,2x^{n}\right).
    \end{eqnarray*} Die Kartenwechselabbildung ist dann von der Form \begin{eqnarray*} x_\mp\circ x_{\pm}^{-1}\colon \mathbb R^n\setminus\{0\} & \to \mathbb R^n\setminus\{0\}\\ x & \mapsto \frac{x}{\|x\|^2}.
    \end{eqnarray*}
  3. Es sei \(\mathbb K\in \{\mathbb R,\mathbb C\}\). Der \(n\)-dimensionale projektive Raum \(\mathbb{K}P^{n}=P^{n}(\mathbb{K})=P(\mathbb{K}^{n+1})\) der eindimensionalen linearen Unterräume von \(\mathbb{K}^{n+1}\) ist der Quotientenraum von \(\mathbb{K}^{n+1}\setminus\left\{ 0\right\} \) nach der Äquivalenzrelation, die Vektoren \(v\) mit skalaren Vielfachen \(\lambda v\), \(\lambda\in\mathbb{K}\setminus\left\{ 0\right\} \) identifiziert. Die Äquivalenzklasse des Punktes \(y=(y^{0},\ldots,y^{n})\in\mathbb{K}^{n+1}\setminus\left\{ 0\right\} \) wird mit homogenen Koordinaten \[
    \bar{y}=[y^{0}:y^{1}:\ldots:y^{n}]\in\mathbb{K}P^{n}
    \] bezeichnet. Auf der offenen Menge \(U_{\alpha}=\left\{ \bar{y}\;\vert\;y^{\alpha}\not=0\right\} \) ist die Karte \begin{eqnarray*}
    \phi_{\alpha}:U_{\alpha} & \to & \mathbb{K}^{n}\\
    \bar{y} & \mapsto & \left(\frac{y^{0}}{y^{\alpha}},\ldots,\hat{\frac{y^{\alpha}}{y^{\alpha}}},\ldots,\frac{y^{n}}{y^{\alpha}}\right).
    \end{eqnarray*} definiert. Der Hut deutet das Weglassen des entsprechenden Eintrags an. Die Kartenwechsel-Abbildung \(\phi_{\beta}\circ \phi_{\alpha}^{-1}\) für \(\alpha\lt\beta\) ist von der Form \[
    \left(x^{1},\ldots,x^{n}\right)\mapsto
    \left(\frac{x^{1}}{x^{\beta}},\ldots,\frac{x^{\alpha}}{x^{\beta}},\frac{1}{x^{\beta}},\ldots,\widehat{\frac{x^{\beta}}{x^\beta}},\ldots,\frac{x^{n}}{x^\beta}\right)
    \] und im Definitionsbereich \(\{x^{\beta}\not=0\}\) analytisch. Es handelt sich also um analytische reelle und komplexe Mannigfaltigkeiten.

5.3.6. Definition. Zwei \(\mathcal C^\alpha\)-Mannigfaltigkeiten \((X,\mathcal A_X)\) und \((X',\mathcal A_{X'})\) heißen \(\mathcal C^\alpha\)-diffeomorph, wenn es einen Homöomorphismus \(h\colon X\to X'\) gibt mit \(h^*\mathcal A_{X'}=\mathcal A_X\). Zwei \(\mathcal C^\alpha\)-Strukturen \(\mathcal A_X\) und \(\mathcal B_X\) auf einer topologischen Mannigfaltigkeit werden \(\mathcal C^\alpha\)-äquivalent genannt, wenn es einen \(\mathcal C^\alpha\)-Diffeomorphismus \(h\colon (X,\mathcal A_X)\to (X,\mathcal B_X)\) gibt.

5.3.7. Informelle Mitteilung. Folgende allgemeine Resultate zu differenzierbaren Strukturen sind bekannt.

  • Jede \(\mathcal C^r\)-Struktur auf einer Mannigfaltigkeit für \(r\gt 1\) ist \(\mathcal C^r\)-äquivalent zu einer bis auf \(\mathcal C^\omega\)-Äquivalenz eindeutigen \(\mathcal C^\omega\)-Struktur. Man spricht deshalb vereinfachend von einer differenzierbaren Struktur. Soll der Differenzierbarkeitsgrad spezifiziert werden, wird aus technischen Gründen meist \(\mathcal C^\infty\) gewählt.
  • In Dimensionen \(\le 3\) besitzt jede topologische Mannigfaltigkeit eine bis auf Äquivalenz eindeutige differenzierbare Struktur.
  • In Dimensionen \(\ge 4\) gibt es topologische Mannigfaltigkeiten, die keine differenzierbaren Strukturen zulassen.
  • Auf dem \(\mathbb R^n\) gibt es bis auf Äquivalenz genau eine differenzierbare Struktur, falls \(n\not= 4\) ist. Auf \(\mathbb R^4\) gibt es überabzählbar viele paarweise nicht äquivalente differenzierbare Strukturen.
  • Auf kompakten Mannigfaltigkeiten der Dimension \(\ge 5\) gibt es im Allgemeinen endlich viele nicht äquivalente differenzierbare Strukturen. Auf der siebendimensionalen Sphäre \(S^7\) zum Beispiel gibt es genau 28 verschiedene differenzierbare Strukturen.
  • Es gibt kompakte 4-dimensionale Mannigfaltigkeiten, welche abzählbar viele verschiedene differenzierbare Strukturen tragen.
  • Die glatte Poincaré-Vermutung in Dimension 4: Es ist nicht bekannt, ob die 4-dimensionale Sphäre exotische differenzierbare Strukturen besitzt.

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