Der Begriff der Folge bildet ein sehr vielseitig einsetzbares Werkzeug in der Analysis. Dieser Begriff ist intuitiv eingängig und die meisten analytischen Probleme lassen sich damit lösen. In speziellen Situationen braucht man besseres Werkzeug. Der Nachweis der Vollständigkeit von $\hat{M}$ ist solch eine spezielle Situation und das Werkzeug heißt Filter. In verkappter Form sind Ihnen Filter bereits im ersten Semester begegnet. Nicht zufällig war der Beweis der Vollständigkeit der reellen Zahlen in Satz 1.6.16 sehr kurz, nämlich 4 Zeilen.
Definition. Es sei $X$ eine nichtleere Menge. Eine Teilmenge $\mathcal F\subset \mathfrak P(X)$ der Potenzmenge von $X$ heißt Filter, wenn folgende Eigenschaften erfüllt sind:
Beispiele.
- Der von einer nichtleeren Teilmenge $C\subset X$ erzeugte Hauptfilter $\mathcal F_C$ ist die Menge der Obermengen $$\mathcal F_C=\{A\subset X\mid C\subset A\}.$$
- Der Umgebungsfilter $\mathcal U(C)$ einer nichtleeren Teilmenge $C$ eines topologischen Raumes $(X,\mathcal T)$ besteht aus allen Umgebungen von $C$, also $$\mathcal U(C)=\{U\subset X\mid \exists O\in \mathcal T \colon C\subset O\subset U\}.$$
- Ist $\mathcal B\subset \mathfrak P(X)$ ein nichtleeres Mengensystem mit den Eigenschaften
- $\emptyset\notin \mathcal B$
- Für alle $B_1,B_2\in \mathcal B$ existiert ein $B_3\in \mathcal B$ mit $B_3\subset B_1\cap B_2$,
so nennt man $\mathcal B$ eine Filterbasis. Der Filter $$\mathcal F_{\mathcal B}:=\{A\subset X\mid \exists B\in \mathcal B\colon B\subset A\}$$ heißt der von $\mathcal B$ erzeugte Filter.
- Ist $f\colon X\to Y$ eine Abbildung und $\mathcal F$ ein Filter auf $X$, so nennt man den von der Filterbasis $\{f(F)\subset Y\mid F\in \mathcal F\}$ erzeugten Filter den Bildfilter $f(\mathcal F)$ von $\mathcal F$ unter der Abbildung $f$.
- Ist $S$ eine unendliche Menge, dann heißt $$\{ M\subset S\mid S\setminus M \text{ ist endlich }\}$$ Fréchet-Filter von $S$.
- Eine Folge $(x_n)_{n\in \mathbb N}$ in einer Menge $X$ induziert in natürlicher Weise einen Filter $\mathcal X_\ast$. Betrachtet man die Folge als Abbildung $x_{\_}\colon \mathbb N\to X$, so ist $\mathcal X_\ast$ der Bildfilter des Fréchet-Filters auf $\mathbb N$. Eine Teilmenge $A\subset X$ ist genau dann Element des Filters $\mathcal X_*$, wenn $A$ alle bis auf endlich viele der Folgenglieder $x_n$ enthält.
Definition. Ist $(X,\mathcal T)$ ein topologischer Raum, so heißt ein Filter $\mathcal F$ konvergent gegen ein $x\in X$, wenn $\mathcal U(x) \subset \mathcal F$ gilt, das heißt, wenn $\mathcal F$ feiner als der Umgebungsfilter $\mathcal U(x)$ ist. Man schreibt $\mathcal F\to x$.
Übung. Wer ein wenig mit diesen Begriffen spielen will, mag sich folgende Aussagen überlegen.
- Eine Abbildung $f\colon X\to Y$ zwischen topologischen Räumen ist genau dann stetig in $x\in X$, wenn für jeden Filter $\mathcal F$ mit $\mathcal F\to x$ gilt $f(\mathcal F)\to f(x)$.
- Eine Folge $(x_n)$ in einem metrischen Raum $M$ konvergiert genau dann gegen den Grenzwert $x\in M,$ wenn gilt $\mathcal X_\ast\to x$.
Ist $X$ ein topologischer Raum und $x\in X$, so ist der Umgebungsfilter $\mathcal U(x)$ der gröbste gegen $x$ konvergierende Filter. Alle anderen gegen $x$ konvergierenden Filter, wie zum Beispiel alle durch gegen $x$ konvergierende Folgen definierte Filter enthalten den Umgebungsfilter $$\mathcal X_*\supset \mathcal U(x).$$
Definition. Ein Cauchy-Filter in einem metrischen Raum $(M,d)$ ist ein Filter $\mathcal F$, der Mengen mit beliebig kleinem Durchmesser enthält: Für jedes $\varepsilon \gt 0$ existiert eine Menge $F\in \mathcal F$ mit Durchmesser $$\mathrm{diam}(F):=\sup_{x,y\in F}d(x,y)\lt \varepsilon.$$
Übung.
- Eine Folge $(x_n)$ in einem metrischen Raum ist genau dann Cauchy-Folge, wenn der davon induzierte Filter $\mathcal X_*$ ein Cauchy-Filter ist.
- Ein Cauchy-Filter in einem metrischen Raum enthält höchstens einen Umgebungsfilter eines Punktes.
- Ein metrischer Raum $M$ ist genau dann vollständig, wenn jeder Cauchy-Filter den Umgebungsfilter $\mathcal U(x)$ eines Punktes enthält.
- Ist $f\colon M\to M'$ eine gleichmäßig stetige Abbildung zwischen metrischen Räumen, und $\mathcal F$ ein Cauchy-Filter auf $M$, so ist der Bildfilter $f(\mathcal F)$ ein Cauchy-Filter auf $M'$.
5.4.4 Proposition. Jeder Cauchy-Filter $\mathcal F$ in einem metrischen Raum $M$ enthält eindeutig einen minimalen Cauchy-Filter $\mathcal F_0$, der gröber ist als $\mathcal F$. Ist $\mathcal B$ eine Basis von $\mathcal F$, so bilden die $\varepsilon$-Umgebungen $$U_\varepsilon(B):=\{m\in M\mid \exists b\in B \colon d(m,b)\lt \varepsilon\}$$ für $\varepsilon\gt 0$ eine Basis von $\mathcal F_0$.
Beweis. Sind $B,B'\in\mathcal B$ und $\varepsilon, \varepsilon'\gt 0$, so gibt es ein $B''\in \mathcal B$ und ein $\varepsilon''\gt 0$ mit $B''\subset B\cap B'$ und $\varepsilon'' \lt \min\{\varepsilon, \varepsilon'\}$. Insbesondere gilt $U_{\varepsilon''}(B'')\subset U_{\varepsilon}(B)\cap U_{\varepsilon'}(B')$. Folglich bilden die $\varepsilon$-Umgebungen der Basis $\mathcal B$ eine Filterbasis eines Filters $\mathcal F_0$.
Für ein gegebenes $\varepsilon\gt 0$ sei $F\in \mathcal F$ eine Menge mit $ \mathrm{diam}(F)\lt \varepsilon/3$. Dann ist $\mathrm{diam}(U_{\varepsilon/3}(F))\lt \varepsilon$, denn zu $m_1,m_2\in U_{\varepsilon/3}(F)$ gibt es $x_1,x_2\in F$ mit $d(m_i,x_i)\lt\varepsilon/3$ für $i\in \{1,2\}$ und folglich $$d(m_1,m_2)\le d(m_1,x_1)+d(x_1,x_2)+d(x_2,m_2)\lt \varepsilon/3+\varepsilon/3+\varepsilon/3=\varepsilon.$$ Damit ist $\mathcal F_0$ ein Cauchy-Filter und offenbar gröber als $\mathcal F$.
Zum Abschluss des Beweises genügt es zu zeigen, dass ein Cauchy-Filter $\mathcal G$, der gröber ist als $\mathcal F$, immer noch feiner ist als $\mathcal F_0$. Ist dazu $B\in \mathcal B$ und $\varepsilon\gt 0$, so gibt es eine Menge $C\in \mathcal G\subset \mathcal F$ mit $\mathrm{diam}(C)\lt \varepsilon$. Da $C\in \mathcal F$, ist $B\cap C\not= \emptyset$, also $C\subset U_\varepsilon(B)$ und folglich $ U_\varepsilon(B)\in \mathcal G$. Damit ist gezeigt $\mathcal F_0\subset \mathcal G$.
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Man beachte, dass der minimale Cauchy-Filter eine Basis bestehend aus offenen Mengen von $M$ besitzt.
Zweiter Beweis von 5.4.2.
- Konstruktion von $\hat{M}$. Es sei $\hat{M}$ die Menge der minimalen Cauchy-Filter auf $M$. Die Abbildung $\iota$ ordnet jedem $m\in M$ den Umgebungsfilter $\mathcal U(m)$ zu.
- Konstruktion von $\hat{d}$. Für minimale Cauchy-Filter $\mathcal X,\mathcal Y$ definiert man $$\hat{d}(\mathcal X,\mathcal Y):= \inf_{X\in \mathcal X, Y\in\mathcal Y}\mathrm{diam}(X\cup Y).$$ Die Eigenschaften einer Metrik folgen unmittelbar aus den Definitionen:
- Definitheit: Es gilt $\hat{d}(\mathcal X,\mathcal Y)=0 \; \iff \; \{X\cup Y\mid X\in \mathcal X, Y\in\mathcal Y\}$ ist Cauchy-Filter.
- Symmetrie ist offensichtlich.
- Die Dreiecksungleichung überträgt sich auf Durchmesser und Infimum.
Die Inklusion $\iota\colon M\to \hat{M}$ ist offenbar eine Isometrie.
- Konstruktion von $\hat{f}$. Zum Nachweis der universellen Eigenschaft geben wir uns eine gleichmäßig stetige Abbildung $f\colon M\to M'$ in einen vollständigen metrischen Raum $M'$ vor. Für $\mathcal X\in\hat{M}$ ist der Bildfilter $f(\mathcal X)$ ein Cauchy-Filter und konvergiert wegen der Vollständigkeit von $M'$. Wir setzen $$\hat{f}(\mathcal X):=\lim f(\mathcal X).$$ Wegen der gleichmäßigen Stetigkeit von $f$ gibt es ein $\delta\gt 0$ so dass für alle $m_1,m_2\in M$ mit $d_M(m_1,m_2)\lt \delta $ gilt $d_{M'}(f(m_1),f(m_2))\lt \varepsilon$. Gilt $\hat{d}(\mathcal X,\mathcal Y)\lt \delta$, so gibt es Filterelemente $X\in \mathcal X, Y\in \mathcal Y$ mit $\mathrm{diam}(X\cup Y)\lt \delta$. Es folgt $$d_{M'}(\hat{f}(\mathcal X,\mathcal Y))= \inf_{X\in \mathcal X, Y\in\mathcal Y}\mathrm{diam}\left(f(X\cup Y)\right)\lt \varepsilon.$$
- Vollständigkeit von $\hat{M}$. Schließlich muss noch bewiesen werden, dass $\hat{M}$ vollständig ist.
Es sei $\mathcal X\in \hat{M}$ und $\hat{U}_\varepsilon(\mathcal X)$ die $\varepsilon$-Umgebung dieses Punktes. Der Durchschnitt $$\hat{U}_\varepsilon(\mathcal X)\cap \iota(M)$$ mit dem Bild von $M$ besteht aus allen Umgebungsfiltern $\mathcal U(m)$ von Punkten $m\in M$, für die offene Mengen $X\in\mathcal X$ und $U\in \mathcal U(m)$ existieren mit $\mathrm{diam}(X\cup U)\lt \varepsilon$. Insbesondere ist $m$ ein innerer Punkt einer Menge in $\mathcal X$ vom Durchmesser kleiner als $\varepsilon$. Bezeichnet $A\subset M$ die Menge aller inneren Punkte aller $\varepsilon$-kleinen Mengen im Cauchy-Filter $\mathcal X$, so gilt also $$ \iota(A)=\hat{U}_\varepsilon(\mathcal X)\cap \iota(M).$$ Daraus folgern wir:- $\hat{U}_\varepsilon(\mathcal X)$ enthält Punkte von $\iota(M)$ und folglich ist $\iota(M)$ dicht in $\hat{M}$.
- Der Bildfilter $\iota(\mathcal X)$ ist ein Filter in $\hat{M}$, der gegen $\mathcal X$ konvergiert.
Ist nun $\hat{\mathcal F}$ ein minimaler Cauchy-Filter auf $\hat{M}$, so besitzt dieser eine Basis aus offenen Mengen. Jede dieser offenen Mengen hat nicht-leeren Durchschnitt mit $\iota(M)$. Folglich bilden die Urbilder $\iota^{-1}(\hat{\mathcal F})$ einen Cauchy-Filter auf $M$. Dieser enthält einen minimalen Cauchy-Filter $\mathcal X$. Da die Isometrie $\iota$ insbesondere gleichmäßig stetig ist, sind $\iota(\iota^{-1}(\hat{\mathcal F}))$ und $\iota(\mathcal X)$ Cauchy-Filter in $\hat{M}$. Unter beiden ist $\iota(\mathcal X)$ der gröbere. Andererseits enthält $\iota(\iota^{-1}(\hat{\mathcal F}))$, und damit auch $\iota(\mathcal X)$, den minimalen Cauchy-Filter $\hat{\mathcal F}$. Aber der Bildfilter $\iota(\mathcal X)$ konvergiert gegen $\mathcal X$, und folglich konvergiert $\hat{\mathcal F}$ ebenfalls gegen $\mathcal X$.
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Als Abfallprodukt dieses Beweises halten wir einige Eigenschaften der Vervollständigung, die wir im Laufe des Beweises nachwiesen, zitierfähig als Korollar fest.
5.4.5. Korollar. Es sei $M$ ein metrischer Raum und $\iota\colon M\to \hat{M}$ die kanonische Abbildung in die Vervollständigung. Dann ist das Bild $\iota(M)\subset M$ dicht. Ist umgekehrt $N$ ein vollständiger metrischer Raum und $f\colon M\to N$ eine Isometrie, und bezeichne $\overline{f(M)}\subset N$ den topologischen Abschluss des Bildes in $N$, so gibt es eine eindeutig bestimmte surjektive Isometrie $\hat{f}\colon \hat{M}\to \overline{f(M)}$ mit $f=\hat{f}\circ\iota$.