3.3 Mittelwertsätze

In diesem Paragraphen betrachten wir nur reellwertige Funktionen mit reellen Argumenten. Es bezeichne $I$ ein reelles Intervall.

Definition. Es sei $m\in I$, aber keine Intervallgrenze. Man sagt, eine reellwertige Funktion $f$ auf $I$ habe in $m$ ein lokales Maximum, wenn es ein $\delta\gt 0$ gibt, so dass $f(m)\ge f(x)$ für alle $x$ in der $\delta$-Umgebung von $m$ gilt. Analog definiert man ein lokales Minimum. Maxima und Minima fasst man zusammen unter dem Begriff Extrema.

Satz 3.3.1. Es sei $f\colon I\to\mathbb R$ differenzierbar und $m$ ein lokales Extremum von $f$. Dann gilt $f'(m)=0$.

Beweis. Wir betrachten nur den Fall eines Minimums. Der andere Fall ist völlig analog. Dann gilt \[f'(m)=\lim_{x\nearrow m}\frac{f(x)-f(m)}{x-m}\le 0,\] weil der Differenzenquotient für jedes $x\lt m$ in einer kleinen Umgebung vom $m$ nicht positiv ist. Ebenso gilt \[f'(m)=\lim_{x\searrow m}\frac{f(x)-f(m)}{x-m}\ge 0.\] Zusammengenommen folgt die Behauptung.
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Satz von Rolle 3.3.2. Es sei $f$ auf dem abgeschlossenen Intervall $[a,b]$ stetig und im Inneren des Intervalls differenzierbar. Ist $f(a)=f(b)$, so gibt es eine Zahl $c$ im Inneren des Intervalls mit $f'(c)=0$.

Beweis. Nach 2.3.10 nimmt die stetige reelle Funktionen auf dem Kompaktum $[a,b]$ immer die Extremwerte an. Ist $f$ konstant, so ist nichts zu zeigen. Andernfalls ist zumindest eines der beiden Extrema von $f(a)=f(b) $ verschieden. Es muss an einer Stelle $c$ im Inneren des Intervalls angenommen werden. Für dieses $c$ gilt dann nach dem vorhergehenden Satz $f'(c)=0$.
qed

Mittelwertsatz der Differentialrechnung 3.3.3. Es sei $f$ auf dem abgeschlossenen Intervall $[a,b]$ stetig und im Inneren des Intervalls differenzierbar. Dann gibt es eine Zahl $c$ im Inneren des Intervalles, an dem die Ableitung gleich der mittleren Steigung von $f$ ist, das heißt $$f'(c)=\frac{f(b)-f(a)}{b-a}.$$

Beweis. Man wende den Satz von Rolle an auf die Funktion $$f(x)-\frac{f(b)-f(a)}{b-a}(x-a).$$qed

Wie so oft im Leben, entfalten gerade die einfachen Wahrheiten große Wirkung. Dies trifft auch bei diesem Satz zu. Zunächst folgt unmittelbar:

Korollar 3.3.4. Ist $f$ in einem Intervall $I$ differenzierbar und ist dort $f'(x)\ge 0$, so ist $f$ in $I$ monoton wachsend. Gilt sogar $f'(x) \gt 0$, so ist $f$ streng monoton wachsend. Analog ist $f$ monoton fallend, streng monoton fallend oder konstant, wenn für alle $x\in I$ gilt $f'(x)\le 0$, $f'(x) \lt 0$ oder $f'(x)=0$.

Beweis. Es seien $a,b\in I$, $a\lt b$. Dann gibt es ein $c\in (a,b)$ mit \[
f(b)-f(a)=(b-a)\cdot f'(c).
\] Da $(b-a)\gt 0$, ist die linke Seite $=0, \gt 0$ oder $\lt 0$, je nachdem ob $f'(c)=0, \gt 0$ oder $\lt 0$.
qed

Für die zweite Anwendung benötigen wir eine kleine Variante des Mittelwertsatzes.

Verallgemeinerter Mittelwertsatz 3.3.5. Es seien $f$ und $g$ auf dem abgeschlossenen Intervall $[a,b]$ stetig und im Inneren des Intervalls differenzierbar. Außerdem verschwinde die Ableitung von $g$ nirgends auf dem Intervall. Dann gilt für eine Zahl $c$ im Inneren des Intervalles $$\frac{f'(c)}{g'(c)}=\frac{f(b)-f(a)}{g(b)-g(a)}.$$

Beweis. Man wende den Satz von Rolle an auf die Funktion $$
(f(b)-f(a))g(x)-(g(b)-g(a))f(x).
$$qed

Regel von Bernoulli - l'Hospital 3.3.6. Die Funktionen $f$ und $g$ seien differenzierbar auf dem Intervall $I$ und es gelte $f(m)=g(m)=0$ für einen Punkt $m$ im Intervall. Für $x\in I\setminus \{m\}$ seien sowohl $g(x)$ als auch $g'(x)$ ungleich Null. Existiert nun der Grenzwert \[\lim_{x\to m}\frac{f'(x)}{g'(x)},\] so existiert auch der Grenzwert \[\lim_{x\to m}\frac{f(x)}{g(x)},\] und beide sind gleich.

Beweis. Der in Frage stehende Grenzwert lässt sich wie folgt berechnen: $$\lim_{x\to m}\frac{f(x)}{g(x)}=
\lim_{x\to m}\frac{f(x)-f(m)}{g(x)-g(m)}=
\lim_{x\to m}\frac{f'(c_x)}{g'(c_x)}.
$$ Das hier auftauchende Element $c_x$ des Intervalls liegt echt zwischen $x$ und $m$. Der Grenzübergang von $x$ nach $m$ bewirkt also auch einen Grenzübergang von $c_x$ nach $m$. Insbesondere folgt $$ \lim_{x\to m}\frac{f'(c_x)}{g'(c_x)}=
\lim_{x\to m}\frac{f'(x)}{g'(x)}.$$qed

Korollar 3.3.7. Ist $f\colon I\to \mathbb R$ im Intervall $I$ differenzierbar und gibt es $m,M\in \mathbb R$ mit $m\le f'(x)\le M$ für alle $x\in I$, so gilt für alle $a,b\in I$ mit $a\lt b$: \[
m(b-a)\le f(b)-f(a)\le M(b-a).
\] Insbesondere gilt $|f(b)-f(a)|\le (b-a)\sup\{|f'(x)|\mid x\in I\}$.

Weitere Diskussion von Standardfunktionen 3.3.8.

  1. Die auf $(-1,\infty)$ definierte Funktion $\log(1+X)$ hat die Ableitung \[ \log'(1+x)=\frac1{1+x}=\sum_{n=0}^\infty (-x)^n.\] Die letzte Gleichung gilt natürlich nur für $x\in (-1,1)$. Die geometrische Reihe $\sum_{n=0}^\infty (-z)^n$ ist andererseits auch die Ableitung der auf dem Einheitskreis in $\mathbb C$ konvergenten Reihe \[F(z)=\sum_{n=1}^\infty \frac{(-1)^{n-1}}{n}z^n.\] Die Ableitung der Differenzfunktion $\log(1+x)-F(x)$ ist Null für $x\in (-1,1)$. Folglich unterscheiden sich die beiden Funktionen $\log(1+x)$ und $F(x)$ nur um eine Konstante, die sich durch Auswerten beider Funktionen an der Stelle $x=0$ berechnen lässt. Wir erhalten wir die Reihendarstellung des Logarithmus \[\log(1+x)=\sum_{n=1}^\infty \frac{(-1)^{n-1}}{n}x^n=x-\frac{x^2}{2}+\frac{x^3}{3}-\frac{x^4}{4}+\ldots. \] Diese Reihe gestattet die Berechnung von $\log(y)$ zunächst nur für $y\in (0,2)$. Ist $y\ge 2$, so wählt man ein $m\in \mathbb N$ mit $y/e^m\lt 2$ und bekommt \[
    \log(y)=m+\log(y/e^m).
    \] Mittels der Reihendarstellung erhalten wir darüber hinaus noch eine Darstellung für den komplexen Logarithmus: Für komplexe Zahlen $z$ mit $|z|\lt 1$ ist der (sogenannte Hauptzweig des) Logarithmus definiert durch \[\log(1+z)= \sum_{n=1}^\infty \frac{(-1)^{n-1}}{n}z^n.\] Und tatsächlich ist der so definiert komplexe Logarithmus im Definitionsbereich eine Umkehrfunktion der Exponentialfunktion. Dazu muss man sich nur klar machen, dass sich die Funktion $\exp(\log(1+z))$ als eine summierbare Doppelreihe darstellen lässt und nach geeigneter Umsortierung als Potenzreihe in der Variablen $z$. Diese Umsortierung mag im Detail etwas mühsam sein. Nach Korollar 2.2.10 sind die Koeffizienten der Potenzreihe jedoch eindeutig bestimmt durch die Werte von $\exp(\log(1+z))$ für reelle $z$. Es folgt $\exp(\log(1+z))=1+z$.
  2. Die Ableitung der Tangensfunktion $\tan'(x)=1+\tan^2(x)$ ist im Intervall $(-\pi/2,\pi/2)$ positiv. Der Tangens ist folglich streng monoton steigend. Das Bild des Tangens ist ganz $\mathbb R$. Die Umkehrfunktion $\arctan\colon\mathbb R\to (-\pi/2,\pi/2)$ heisst Arkustangens. Diese hat Ableitung $\arctan'(y)=\frac1{1+y^2}$. Wir argumentieren nun ähnlich wie beim Logarithmus: Im Intervall $(-1,1)$ können wir die Ableitung asl geometrische Reihe mit Konvergenzradius $1$ entwickeln: \[\frac1{1+z^2}=\sum_{n=0}^\infty(-1)^nz^{2n}.\] Diese Reihe ist die Ableitung der Potenzreihe \[
    G(z)=\sum_{n=0}^\infty(-1)^n\frac{z^{2n+1}}{2n+1},
    \]die im Konvergenzkreis mit Radius $1$ definiert ist. Auf dem Intervall $(-1,1)$ haben haben $\arctan$ und $G$ die gleiche Ableitung. Folglich ist $\arctan -G$ eine konstante Funktion. Wegen $\arctan(0)=0=G(0)$. Damit können wir für komplexe $z\in U_1(0)$ die komplexe Arkustangensfunktion definieren \[
    \arctan(z):=\sum_{n=0}^\infty(-1)^n\frac{z^{2n+1}}{2n+1}.
    \] Wie im Falle des Logarithmus folgern wir $\tan\left(\arctan(z)\right)=z$ für $|z|\lt 1$ mit Hilfe von Korollar 2.2.10.
    Könnten wir hier $z=1$ einsetzen, so würden wir die folgende Entwicklung erhalten: \[
    \frac\pi4=\arctan(1)=1-\frac13+\frac15-\frac17+\ldots
    \]Diese Entwicklung ist tatsächlich gültig und wird Leibnizsche Reihe genannt. Unsere Methoden reichen allerdings nicht zum Beweis aus. Jedenfalls konvergiert diese Reihe sehr, sehr langsam. Eine sehr viel schnellere Konvergenz wurde vom englischen Mathematiker John Machin vor etwas über 300 Jahren gefunden. Diese funktioniert folgendermaßen.
    Aus den Additionsformeln für Sinus und Kosinus erhält man die Additionsformel für den Tangens \[
    \tan(\alpha\pm\beta)=\frac{\tan(\alpha)\pm\tan(\beta)}{1\mp\tan(\alpha)\tan(\beta)}.\] Speziell für $\alpha=\arctan\frac15$ und $\beta=\arctan\frac1{239}$ erhält man \[
    \tan(2\alpha)=\frac5{12},\quad \tan(4\alpha)=\frac{120}{119}, \tan(4\alpha-\beta)=1.
    \] Es folgt \[
    \frac\pi4=4\alpha-\beta=4\arctan\frac15-\arctan\frac1{239}.
    \]Das liefert die auch heute noch benutzte, sehr schnell konvergierende Darstellung \[
    \pi=16\sum_{n=0}^\infty\frac{(-1)^n}{(2n+1)5^{2n+1}}-4\sum_{n=0}^\infty\frac{(-1)^n}{(2n+1)239^{2n+1}}.
    \]
  3. Da die Ableitung $\sin'(x)=\cos(x)=\sqrt{1-\sin^2(x)}\not=0$ für $x\in (-\pi/2,\pi/2)$, ist die Umkehrfunktion, die Arkussinusfunktion, in allen Punkten $y\in(-1,1)$ differenzierbar und es gilt für $x=\arcsin(y)$: \[
    \arcsin'(y)=\frac1{\sin'(x)}=\frac1{\sqrt{1-\sin^2(x)}}=\frac1{\sqrt{1-y^2}}.
    \]
  4. Analog gilt $\cos'(x)=-\sin(x)=-\sqrt{1-\cos^2(x)}\not=0$ für $x\in (0,\pi)$ und die Umkehrfunktion, die Arkuskosinusfunktion, ist in allen Punkten $y\in(-1,1)$ differenzierbar. Es gilt für $x=\arccos(y)$: \[
    \arccos'(y)=\frac1{\cos'(x)}=-\frac1{\sqrt{1-\cos^2(x)}}=-\frac1{\sqrt{1-y^2}}.\]

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