3.4 Taylorreihen

Es sei $f=\sum_{n\ge 0}c_nx^n$ eine Potenzreihe mit Konvergenzradius $R\gt 0$. Wir haben gesehen, dass $f$ auf dem Intervall $(-R,R)$ unendlich of differenzierbar ist, und dass die $k$-te Ableitung durch
die Formel \[
f^{(k)}(x)= \sum_{n\ge k}\frac{n!}{(n-k)!}c_nx^{n-k}
\]beschrieben wird. Insbesondere gilt \[
f^{(k)}(0)= k! c_k.
\] Will man also eine gegebene Funktion $f$ in einer Umgebung der $0$ durch eine Potenzreihe darstellen, so muss, wenn dies überhaupt möglich sein sollte, diese Funktion unendlich oft differenzierbar sein, und die Koeffizienten der Reihe müssen durch $$c_n=\frac{f^{(n)}(0)}{n!}$$ gegeben sein. Wir werden sehen, dass diese Bedingungen nicht hinreichend sind.

Definition. Es sei $I$ ein Intervall und $f\colon I\to \mathbb R$ sein $n$-mal differenzierbar. Das Polynom $$T_a^nf:=\sum_{\nu=0}^n \frac{f^{(\nu)}(a)}{\nu!}(X-a)^\nu$$ heißt das $n$-te Taylorpolynom von $f$ in $a$. Ist $f\in \mathcal C^\infty(I)$, so nennt man $$T_af:=\sum_{\nu=0}^\infty \frac{f^{(\nu)}(a)}{\nu!}(X-a)^\nu$$ die Taylorreihe von $f$ im Punkte $a$.

Es stellt sich die Frage, inwiefern Taylorpolynome und Taylorreihe die Funktion $f$ approximieren.

Lemma 3.4.1. Es sei $I$ ein Intervall, $a\in I$ und $g:I\to \mathbb R$ eine $n$-mal differenzierbare Funktion. Für $k\lt n$ gelte $g^{(k)}(a)=0$. Dann existiert zu jedem $x\in I$ ein $t\in (0,1)$ mit
$$g(x)=\frac{g^{(n)}(a+t(x-a))}{n!}(x-a)^{n}.$$

Beweis. Für $x=a$ ist die Aussage klar. Wir nehmen also an $x\not=a$. Nach dem verallgemeinerten Mittelwertsatz, angewandt auf die Funktion $$\frac{g(x)}{(x-a)^{n}}=\frac{g(x)-g(a)}{(x-a)^{n}-(a-a)^{n}},
$$ gibt es eine Zahl $c_1$, echt zwischen $x$ und $a$, mit
$$
\frac{g(x)}{(x-a)^{n}}=\frac{g'(c_1)}{n(c_1-a)^{n-1}}
=\frac{g'(c_1)-g'(a)}{n(c_1-a)^{n-1}-n(a-a)^{n-1}}.
$$ Für den Quotienten auf der rechten Seite können wir das Argument wiederholen. Induktiv finden wir also Elemente $c_1, c_2,\ldots, c_n$, wobei jeweils $c_{k+1}$ strikt zwischen $a$ und $c_k$ liegt, mit der Eigenschaft: $$
\frac{g(x)}{(x-a)^{n}}=\frac{g^{(n)}(c_{n})}{n!}
$$ und mit $t=\frac{c_n-a}{x-a}$ folgt die Behauptung.
qed

Satz über die Taylorentwicklung 3.4.2. Es sei $I$ ein Intervall, $a\in I$, und $f:I\to \mathbb R$ eine $(n+1)$-mal differenzierbare Funktion. Dann existiert zu jedem $x\in I$ ein $t\in (0,1)$ mit \begin{aligned}f(x)=&f(a)+\frac{f'(a)}{1!}(x-a)+\frac{f''(a)}{2!}(x-a)^2+\ldots+
\frac{f^{(n)}(a)}{n!}(x-a)^n+
\frac{f^{(n+1)}(a+t(x-a))}{(n+1)!}(x-a)^{n+1}\\
=& \sum_{k=0}^n \frac{f^{(k)}(a)}{k!}(x-a)^k+R_{n+1}.\end{aligned}

Der Term $$R_{n+1}:=\frac{f^{(n+1)}(a+t(x-a))}{(n+1)!}(x-a)^{n+1}$$ heißt Lagrange'sches Restglied.

Beweis. Die Funktion $g:=f-T_a^nf$ ist $(n+1)$-mal differenzierbar, und es gilt $$
g(a)=\ldots=g^{(n)}=0,\quad g^{(n+1)}=f^{(n+1)}.$$ Mit $R_{n+1}=g(x)$ folgt die Aussage aus Lemma 3.4.1.
qed

Die in den Übungen besprochene Funktion $$x\mapsto
\begin{cases}0&\text{für} \,\,x\leq 0\\
\exp(-\frac1{x})&\text{für}\,\, x\gt 0\
\end{cases}
$$ ist unendlich oft differenzierbar. Alle Ableitungen an der Stelle $0$ verschwinden. Die Taylorreihe im Punkte $0$ ist also die Nullfunktion. Wie dieses Beispiel zeigt, kann es passieren, dass die Taylorreihe konvergiert, aber nicht gegen die Ausgangsfunktion. Konvergiert die Taylorreihe an allen Punkten gegen die Ausgangsfunktion, so nennt man die Funktion analytisch.
Hier ist ein hinreichendes Kriterium:

Satz 3.4.3. Es sei $f\in\mathcal C^\infty(I)$ und $a\in I$. Es gebe Konstanten $\rho,\kappa>0$ mit $$\frac{|f^{(n)}(x)|}{n!}\rho^n\leq \kappa$$ für alle $n$ und alle $x\in I$ mit $|x-a|\lt \rho$. Dann gilt für $|x-a|\lt \rho$: $$
f(x)= \sum\limits_{k=0}^\infty \frac{f^{(k)}(a)}{k!}(x-a)^k.$$

Beweis. Nach dem Satz über die Taylorentwicklung gibt es für jedes $x\in I$ ein $t\in (0,1)$ mit $$
|f(x)-T_a^nf(x)|=\left|\frac{f^{(n+1)}(a+t(x-a))}{(n+1)!}(x-a)^{n+1}\right|
=
\frac{|f^{(n+1)}(a+t(x-a))|}{(n+1)!}\rho^{n+1}\frac{|x-a|^{n+1}}{\rho^{n+1}}.
$$ Der letzte Term lässt sich nach Voraussetzung abschätzen $$
|f(x)-T_a^nf(x)|\leq \kappa\left(\frac{|x-a|}{\rho}\right)^{n+1}.
$$ Für $|x-a|\lt \rho$ konvergiert die rechte Seite für $n\to \infty$ aber gegen Null. Also konvergiert $T_a^nf(x)$ mit wachsendem $n$ gegen $f(x)$.
qed

Beispiel. Wir betrachten die Funktion $X^\alpha\colon\mathbb R_{\gt 0}\to \mathbb R$ mit $\alpha\in\mathbb R$. Diese Funktion ist beliebig oft differenzierbar. Die $k$-te Ableitung ist \[
\alpha\cdot(\alpha-1)\cdots(\alpha-k+1)X^{\alpha-k}.
\] Auswerten an der Stelle $1$ liefert die Taylorreihe \[
T_1X^\alpha=\sum_{n=0}^\infty{\alpha\choose n}(X-1)^n=B_\alpha(X-1).
\]Diese ist bis auf Verschiebung im Argument die Binomialreihe zu $\alpha$. Ist $\rho\lt 1$, so gilt für $n\ge\alpha$ und alle $x$ in einer $\rho$-Umgebung der $1$ die Abschätzung \[
\frac{|f^{(n)}(x)|}{n!}\rho^n\le \left|{\alpha\choose n}\right|(1-\rho)^{\alpha-n}\cdot \rho^n.
\]Die Folge der Binomialkoeffizienten ${\alpha\choose n}$ ist beschränkt, etwa durch $C$. Für $0\lt \rho\lt \frac12$ folgt $\rho\lt 1-\rho$ und damit \[
\left|{\alpha\choose n}\right|(1-\rho)^{\alpha-n}\cdot \rho^n\le C(1-\rho)^\alpha
\] für alle $n\ge \alpha$. Aus dem obigen Satz folgt, dass die Taylorreihe in der $\frac12$-Umgebung der $1$ gegen $X^\alpha$ konvergiert.

Satz 3.4.4. Es sei $I$ ein Intervall, $a\in I$ kein Randpunkt des Intervalls und $f\in \mathcal C^{n}(I)$. Es gelte $f'(a)=f''(a)=\ldots=f^{(n-1)}(a)=0$ und $f^{(n)}(a)\not= 0$. Ist $n$ ungerade, so liegt bei $a$ kein lokales Extremum. Andernfalls besitzt die Funktion $f$ in $a$ ein lokales Extremum, und zwar ein lokales Minimum, falls $f^{(n)}(a)\gt 0$, und ansonsten ein lokales Maximum.

Beweis. Nach der Taylorformel gilt für ein $c$ zwischen $a$ und $x$ die Gleichung
$$
f(x)-f(a)= \frac{f^{(n)}(c)}{(n+1)!}(x-a)^{n}.$$ Wegen der Stetigkeit der $n$-ten Ableitung ist das Vorzeichen von $f^{(n)}(c)$ gleich dem Vorzeichen von $f^{(n)}(a)$, falls $c$ nur genügend nahe an $a$ liegt. Ist nun $n$ gerade und $x$ genügend nahe an $a$, aber ungleich $a$, so haben $f(x)-f(a)$ und $f^{(n)}(a)$ das gleiche Vorzeichen. Folglich hat $f$ bei $a$ das angegebene lokale Extremum. Ist dagegen $n$ ungerade, so hat die Funktion $f(x)-f(a)$ zu beiden Seiten von $a$ jeweils verschiedenes Vorzeichen. Es gibt in diesem Fall also kein lokales Extremum.
qed

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