Definition. Es sei $M\subset \mathbb C$. Eine Funktion $f\colon M\to \mathbb C$ heißt an der Stelle $a\in M$ differenzierbar, wenn gilt
In diesem Falle wird der Grenzwert mit $f'(a)$ bezeichnet und heißt der Differentialquotient oder die Ableitung von $f$ in $a$. Die Funktion $f$ heißt differenzierbar, wenn sie in allen Punkten des Definitions- bereichs differenzierbar ist. Dann versteht man unter der Ableitung von $f$ die Funktion \[f'\colon M\to\mathbb C, \quad a\mapsto f'(a).\]
Bemerkung. Die Funktion \[\Delta_af\colon M\to \mathbb C,\quad z\mapsto \begin{cases}\frac{f(z)-f(a)}{z-a}&\text{für } z\not= a,\\f'(a)&\text{für }z=a\end{cases}\] heißt Differenzenquotient von $f$ im Punkt $a$. Nach Definition der Differenzierbarkeit ist die Funktion $\Delta_af$ im Punkt $a$ stetig, und es gilt für alle $z\in M$:\[
f(z)=f(a) +\Delta_af(z)\cdot(z-a).\quad\quad(\ast)\] Umgekehrt könnte man so auch die Differenzierbarkeit definieren: Eine Funktion $f\colon M\to\mathbb C$ heißt in $a\in M$ differenzierbar, wenn $a$ ein Häufungspunkt von $M$ ist und wenn es eine in $a$ stetige Funktion $\Delta\colon M\to \mathbb C$ mit der Eigenschaft $f(z)=f(a)+\Delta(z)(z-a)$ für alle $z\in M$ gibt. In diesem Falle gilt für $z\not=a$ \[
\frac{f(z)-f(a)}{z-a}=\Delta(z).\] Da die rechte Seite in $a$ stetig ist, existiert der Grenzwert der linken Seite für $z\to a$, und es gilt $f'(a)=\Delta(a)$ und $\Delta=\Delta_af$.
Lemma 3.1.1. Ist $f\colon M\to \mathbb C$ in $a$ differenzierbar, so ist $f$ in $a$ stetig.
Beweis. In der Gleichung $(\ast)$ ist die rechte Seite stetig in $a$, somit auch die linke.
qed
In der vollen Allgemeinheit der obigen Definition wird die Differenzierbarkeit selten benutzt. Meist ist man einem der folgenden Spezialfälle konfrontiert:
- Der Definitionsbereich von $f$ ist reell und es gibt ein Intervall, das $a$ im Inneren enthält und ganz im Definitionsbereich von $f$ liegt. In diesem Fall ist $f$ in $a$ reell differenzierbar. Der Wertebereich einer solchen Funktion mag reell oder auch komplex sein. Dies sind die Funktionen, auf die wir im weiteren Verlauf der Vorlesung unser Augenmerk hauptsächlich richten werden.
- Im zweiten Spezialfall ist der Definitionsbereich von $f$ komplex und es gibt eine Kreisscheibe in der komplexen Zahlenebene mit $a$ als Mittelpunkt, die im Definitionsbereich von $f$ enthalten ist. In diesem Fall heißt die Funktion in $a$ komplex differenzierber. Ist die Funktion an allen Stellen im Definitionsbereich komplex differenzierbar, so nennt man sie auch holomorph. Viele der in dieser Vorlesung behandelten Sätze lassen sich für beide Spezialfälle parallel behandeln. Tatsächlich gelten für holomorphe Funktionen sehr weitgehende Aussagen, die im Reellen kein Gegenstück besitzen. Diese bilden den Inhalt der Vorlesung Funktionentheorie.
Beispiele.
- Die identischen Funktionen $\mathrm{id}_{\mathbb R}\colon\mathbb R\to\mathbb R$ und $\mathrm{id}_{\mathbb C}\colon
\mathbb C\to\mathbb C$ sind differenzierbar und es gilt $\mathrm{id}'=1$.
Denn für $z\neq a$ gilt $\lim_{z\to a} \frac{z-a}{z-a} =1$. - Die konstanten Funktionen $z\mapsto c$ für $z \in \mathbb R$ oder $z\in\mathbb C$ sind differenzierbar und es gilt $f'=0$.
Denn für $z\not= a$ gilt immer $\frac{c-c}{z-a}= 0$, also $\lim_{z\to a} \frac{c-c}{z-a} =0$. - Die Betragsfunktion $
|.|\colon\mathbb R \to \mathbb R,\quad
x \mapsto |x|
$ ist nicht differenzierbar in $0$.
Es gilt nämlich \[\lim_{x\downarrow 0}\frac{|x|-0}{x-0}\;=\;1\quad \lim_{x\uparrow 0}\frac{|x|-0}{x-0}\;=\;-1.\] - Die Funktion $f\colon \mathbb R \to \mathbb R, x\mapsto
|x|\cdot x$ ist dagegen differenzierbar in $0$ und es gilt $f'(0)=0$, denn: $$
\lim\limits_{x\to 0}\frac{|x|x-0}{x-0}= \lim\limits_{x\to 0}|x|= 0.
$$ - Ist $f\colon M\to \mathbb C$ differenzierbar in $a\in
M$ und ist $M'$ eine Teilmenge von $ M$, in der $a$ immer noch Häufungspunkt ist, so ist die Einschränkung $f|_{M'}$, von $f$ auf $M'$ differenzierbar und die Ableitung ist die gleiche. - Die Funktion $f\colon \mathbb C\to\mathbb R,\; z\mapsto |z|$ ist nirgends komplex differenzierbar.
Wegen iii) und v) bleibt dies noch für komplexe Stellen $a\not= 0$ zu zeigen. Dazu betrachten wir eine Polarzerlegung $a=\lambda\cdot \tau$ mit $\lambda>0$ reell und $|\tau|=1$. Wir betrachten zwei verschiedene Grenzwerte. Zum einen variieren wir den Betrag:$$
\lim_{x\to 0}\frac{|(\lambda+x)\tau|-|\lambda\tau|}{(\lambda+x)\tau-\lambda\tau}
= \lim_{x\to 0} \frac{(\lambda+x)-\lambda}{x \tau}=\frac{1}{\tau}.
$$ Zum anderen variieren wir den Polarfaktor $\tau$ bei konstantem Betrag $\lambda$: $$
\lim_{\varphi\to0}\frac{|\lambda\tau\exp(i\varphi)|-|\lambda\tau|}{\lambda\tau\exp(i\varphi)-\lambda\tau}
= \lim_{\varphi\to 0} \frac{|\lambda|-|\lambda|}{\lambda\tau(\exp(i\varphi)-1)}= 0.
$$ Die beiden Grenzwerte sind verschieden, also existiert kein Grenzwert des Differenzenquotienten für $z$ gegen $a$. - Ist $f(z)=\sum_{n=0}^\infty c_nz^n$ eine Potenzreihe mit Konvergenzradius $R\gt 0$, so ist $f$ im Punkte $0$ komplex differenzierbar und $f'(0)=c_1$. Den Differenzenquotienten $\Delta_0f$ können wir nämlich explizit hinschreiben: \[\Delta_0f(z)=\frac{f(z)-f(0)}{z-0}=\sum_{n=0}^\infty c_{n+1}z^n.\] Wir müssen nachweisen, dass diese Potenzreihe im Punkt $0$ stetig ist. Wegen Satz 2.3.3 reicht es nachzuweisen, dass der Konvergenzradius $R_\Delta$ der Potenzreihe $\Delta_0f$ gleich $R$ ist. Es ist \[
\frac{1}{R_\Delta}=\limsup_{n\to\infty}\sqrt[n]{|c_{n+1}|}=\limsup_{n\to\infty}\left(\sqrt[n+1]{|c_{n+1}|} \sqrt[n]{\sqrt[n+1]{|c_{n+1}|}}\right).\] Es ist $\limsup\sqrt[n]{|c_{n}|}=\frac1R\lt \infty$ und folglich gilt
\[\limsup_{n\to\infty} \sqrt[n]{\sqrt[n+1]{|c_{n+1}|}}\le 1.\] Ist $R\not=\infty$, so gilt in der letzten Ungleichung Gleichheit. In jedem Fall gilt $R_\Delta=R\gt 0$.