Skalarprodukte

In diesem Kapitel bedienen wir uns hemmungslos der Sprache und der Ergebnisse der Linearen Algebra, wie man sie zum Beispiel im Kapitel zu Hilberträumen im Skript zur Linearen Algebra nachlesen kann. Im Folgenden werden reelle und komplexe Vektorräume gleichzeitig behandelt. Ist $\mathbb{K}$ einer der Körper $\mathbb R$ oder $\mathbb C$, so bezeichnen wir mit $\bar{z}$ die zu $z\in\mathbb{K}$ konjugiert-komplexe Zahl. Ist $z\in\mathbb R$, so ist also $\bar{z}=z$. Mit dieser Vereinbarung lässt sich der Begriff des Skalarproduktes auf allgemeinen reellen oder komplexen Vektorräumen charakterisieren.

Definition. Es sei $V$ ein $\mathbb K$-Vektorraum. Eine Abbildung
$$
\langle -,-\rangle\colon V\times V\to \mathbb{K}
$$ heißt Skalarprodukt, falls für alle $v_i, v_j'\in V$ und $\kappa \in\mathbb{K}$ die folgenden Regeln gelten:

  1. $\langle v_1+v_2, v'\rangle = \langle
    v_1,v'\rangle+\langle v_2,v'\rangle$
  2. $\langle v, v_1'+v_2'\rangle = \langle
    v,v_1'\rangle + \langle v, v_2'\rangle$
  3. $\langle \kappa v,v'\rangle=\bar{\kappa}\langle
    v,v'\rangle$
  4. $\langle v, \kappa v'\rangle =\kappa\langle
    v,v'\rangle$
  5. $\langle v',v\rangle =\overline{\langle
    v,v'\rangle}$
  6. $\langle v,v\rangle > 0$, falls $v\ne 0$.

Die Eigenschaften 1 - 4 charakterisieren das Skalarprodukt im Falle $\mathbb{K}=\mathbb R$ als bilineare Abbildung. Das komplexe Skalarprodukt ist nicht bilinear, nur im zweiten Eintrag ist es linear. Im ersten Eintrag ist es konjugiert linear. Entsprechend werden im komplexen Fall die Eigenschaften 1 - 4 als Sesquilinearität bezeichnet. Das Präfix sesqui ist vom Lateinischen abgeleitet und bedeutet ein und einhalb. In der Literatur gibt es keine einheitliche Konvention, welcher der beiden Einträge der lineare und welcher der konjugiert lineare Eintrag ist. In dieser Vorlesung wollen wir die Konvention benutzen, den linearen Eintrag an der zweiten Stelle zu setzen. Die Eigenschaft 5 nennt man im reellen Fall symmetrisch, im komplexen Fall hermitesch. Aufgrund dieser Eigenschaft ist für alle $v\in V$ das Skalarquadrat $\langle v,v\rangle$ reell. Symmetrische Bilinearformen oder hermitesche Sesquilinearformen, die zusätzlich die Eigenschaft 6 besitzen, nennt man positiv definit. Statt Skalarprodukt ist auch die Bezeichnung inneres Produkt gebräuchlich.

Einen mit einem Skalarprodukt versehenen reellen Vektorraum nennt man euklidisch. Ein komplexer Vektorraum mit Skalarprodukt heißt unitär. Sollen beide Fälle simultan behandelt werden, so spricht man gemeinhin von einem Prä-Hilbertraum. Wie das Präfix bereits andeutet, ist ein solcher Prä-Hilbertraum die Vorstufe zu einem richtigen Hilbertraum. Doch zuerst noch eine kleine Wiederholung aus dem ersten Semester:

Einige der Rechenmethoden aus der endlich-dimensionalen Linearen Algebra lassen sich auch ins Unendlich-Dimensionale übertragen. Dies gilt insbesondere für die Cauchy-Schwarzsche Ungleichung 1.6.15.

5.5.5. Proposition. Für Vektorräume mit Skalarprodukt wird durch $\| v\|_2\colon = \sqrt{\langle v,v\rangle}$ eine Norm definiert. Es gilt die Cauchy-Schwarzsche Ungleichung
$$
|\langle v,w\rangle|\le \|v\|_2\cdot\|w\|_2.
$$

Beweis. Wir kümmern uns zuerst um die Cauchy-Schwarzsche Ungleichung. Gilt $\langle v,w\rangle=0$, so bleibt nichts zu beweisen. Andernfalls ist $$\lambda:=\frac{\langle v,w\rangle}{|\langle v,w\rangle|}$$ eine komplexe Zahl vom Betrag $|\lambda|=1$ und es gilt mit $v':=\lambda v$ die Gleichung $|\langle v,w\rangle|=\langle v',w\rangle$. Die Cauchy-Schwarzsche Ungleichung ist somit äquivalent mit der Ungleichung $$\langle v',w\rangle \le \|v'\|_2\cdot\|w\|_2.$$ Es gilt
\begin{align*}
0\le &\, \langle \|v'\| w - \|w\| v', \|v'\| w - \|w\|
v'\rangle \\\\
= &2\, \|v'\|^2 \|w\|^2\, -\, 2 \|v'\|\,\|w\| \langle v',w\rangle.
\end{align*} Die Cauchy-Schwarzsche Ungleichung folgt nach Kürzen in der resultierenden Abschätzung
$$
\|v'\|\,\|w\|\langle v',w\rangle\;\le\;\|v'\|^2\,\|w\|^2.
$$ Die Dreiecksungleichung ist eine Konsequenz:
$$
\|v+w\|^2=\langle v+w, v+w\rangle
=\langle v,v\rangle+2\Re( \langle v,w\rangle)+\langle w,w\rangle
\le\; \|v\|^2 + 2\|v\|\; \|w\|+\|w\|^2 =(\|v\|+\|w\|)^2.
$$qed

Definition. Ein Hilbertraum ist ein mit einem Skalarprodukt $\langle -,-\rangle$ versehener $\mathbb K$-Vektorraum $V$, der bezüglich der induzierten Norm $$\|v\|_2:=\sqrt{\langle v,v\rangle}\quad \text{ für } v\in V$$ vollständig ist.

Beispiele. Die wenigsten Banachräume lassen sich mit einem Skalarprodukt ausstatten. Die wesentlichen Beispiele sind die Lebesgue-Räume $L^2([a,b])$ und die Sobolev-Räume $L^2_k([a,b])$, die als Vervollständigung der $k$-mal stetig differenzierbaren Funktionen nach den entsprechenden Normen konstruiert werden können.

5.5.6. Lemma. Jeder Prä-Hilbertraum lässt sich eindeutig zu einem Hilbertraum vervollständigen.

Beweis. Der einem Prä-Hilbertraum zugrunde liegende normierte Vektorraum lässt sich eindeutig zu einem Banachraum vervollständigen. Zu zeigen bleibt einzig, dass das Skalarprodukt sich stetig fortsetzt. Als quadratische Abbildung $V\times V\to \mathbb K$ ist das Skalarprodukt nicht gleichmäßig stetig. Wir können uns aber behelfen: Sei $R\gt 0$, so ist das Skalarprodukt auf der Teilmenge $$U_R(0):=\{v\in V\mid \|v\|_2\lt R\}$$ gleichmäßig stetig. Mittels der Cauchy-Schwarzschen Ungleichung gilt nämlich: $$|\langle v,v'\rangle |\le \|v\|\cdot \|v'\| \le R\cdot \left( \|v\|+ \|v'\|\right)$$ für $v,v'\in U_R(0)$. Das Skalarprodukt lässt sich also eindeutig gleichmäßig stetig fortsetzen auf die Vervollständigung von Bällen mit beliebig großem Radius, und folglich stetig auf die Vervollständigung von $V$.
qed

Der große Vorteil von Hilberträumen ist der Begriff der Orthogonalität.

Definition. Zwei Vektoren $v,v'\in V$ eines Hilbertraumes heißen zueinander orthogonal, wenn gilt $\langle v,v'\rangle=0$. Eine Teilmenge $M\subset V\setminus \{0\}$ heißt

  1. Orthogonalsystem, wenn je zwei verschiedene Vektoren in $M$ orthogonal zueinander sind.
  2. Orthonormalsystem, wenn $M$ ein Orthogonalsystem ist und zusätzlich jedes Element Einheitsvektor ist.
  3. Orthonormalbasis, wenn $M$ ein Orthonormalsystem ist und der von $M$ aufgespannte lineare Untervektorraum dicht in $V$ ist.

Orthonormalsysteme erhält man aus den Eigenvektoren eines selbstadjungierten Endomorphismus:

Definition. Ein Endomorphismus $A\colon V\to V$ eines Hilbertraumes heißt selbstadjungiert, wenn für alle $v,v'\in V$ gilt $$\langle Av,v'\rangle=\langle v, Av'\rangle.$$ Ein Vektor $v\not=0$ heißt Eigenvektor eines Endomorphismus $A$, wenn es ein $\lambda\in \mathbb K$ gibt mit $Av=\lambda v$. Der Wert $\lambda$ heißt dann Eigenwert zum Eigenvektor $v$.

5.5.7. Lemma. Eigenwerten eines selbstadjungierten Endomorphismus eines Hilbertraumes sind reell und die zu verschiedenen Eigenwerten gehörenden Eigenvektoren sind orthogonal zueinander.

Beweis. Sind $v,v'$ Eigenvektoren zu $\lambda, \lambda'$, so gilt $$\overline{\lambda} \langle v,v\rangle =\langle \lambda v,v\rangle =\langle Av,v\rangle=\langle v,Av\rangle =\langle v, \lambda v\rangle =\lambda \langle v,v\rangle$$ sowie $$\overline{\lambda} \langle v,v'\rangle =\langle \lambda v,v'\rangle =\langle Av,v'\rangle=\langle v,Av'\rangle =\langle v, \lambda' v'\rangle =\lambda' \langle v,v'\rangle.$$qed

Die sehr wichtige Eigenschaft von selbstadjungierten Endomorphismen ist die Spektralzerlegung, die ich hier ohne Beweis anführe. Ich erkläre auch nicht, was es mit der Eigenschaft der Kompaktheit auf sich hat:

5.5.8 Spektralsatz. Ein injektiver, kompakter, selbstadjungierter Endomorphismus $A\colon V\to V$ eines Hilbertraumes besitzt eine Orthonormalbasis von Eigenvektoren.

Beispiel. Es sei $\mathcal P\subset \mathcal C^\infty(\mathbb R,\mathbb C)$ der Unterraum der komplexwertigen, $2\pi$-periodischen Funktionen auf $\mathbb R$, also der Funktionen mit $f(x+2\pi)=f(x)$ für alle $x\in \mathbb R$. Bezüglich des $L^2$-Skalarproduktes $$\langle f,g\rangle:=\int_0^{2\pi}\overline{f(x)}\cdot g(x)\,dx$$ ist die Abbildung $$D=i\frac\partial{\partial x}\colon \mathcal P\to \mathcal P$$ selbstadjungiert. Realteil und Imaginärteil dieses Integrals ist jeweils das Integral über den Real- und Imaginärteil des Integranden. Selbstadjungiertheit von $D$ folgt vermittels partieller Integration: \begin{aligned}\langle f,Dg\rangle -\langle Df, g\rangle &=\int_0^{2\pi} \left(\overline{f(x)}\cdot ig'(x)\right)-\left(\overline {if'(x)}\cdot g(x)\right) \;dx\\& =i\int_0^{2\pi} \left(\overline {f(x)}\cdot g(x)\right)'\;dx=i\left[\overline{f(x)}g(x)\right]^{2\pi}_0=0.\end{aligned}

Die Eigenvektoren der Abbildung $D$ sind Lösungen der Differentialgleichung $f'(x)=(-i)\lambda f(x)$. Aus dem ersten Semester kennen wir die Lösungen: $ f_\lambda(x)=e^{-i\lambda x}$. Die $2\pi$-Periodizität ist äquivalent mit der Forderung $\lambda\in \mathbb Z$. Eine Konsequenz des Spektralsatzes ist, dass jede $L^2$-integrierbare, insbesondere jede stetige, $2\pi$-periodische Funktion sich in eine sogenannte Fourier-Reihe $$f(x)=\sum_{n\in \mathbb Z} a_n\cdot e^{inx}$$ mit $a_n\in \mathbb C$ entwickeln lässt. Die Eigenfunktionen $$v_n(x):=\frac1{\sqrt{2\pi}}e^{inx}, \quad n\in \mathbb Z$$ bilden eine Orthogonalbasis der Hilbertraumvervollständigung von $\mathcal P$.

Eine kleine Feinheit ist da noch zu erwähnen: Die Abbildung $D$ selbst ist weder injektiv, noch kompakt. Aber die zu $D-\mu\cdot\mathrm{id}_{\mathcal P}$ inverse Abbildung für $\mu\in \mathbb R\setminus \mathbb Z$ besitzt die gleichen Eigenvektoren und erfüllt die Bedingungen des Spektralsatzes.

Einen kleinen Satz über die Geometrie von Hilberträumen will ich noch anfügen. Für jeden Vektor $a$ in einem Prä-Hilbertraum $V$ liefert das Produkt mit $v$ eine Linearform $$\alpha\colon V\to \mathbb K; \quad \alpha(v)=\langle a,v\rangle.$$ Wegen der Cauchy-Schwarzschen Ungleichung ist diese Linearform beschränkt $\|\alpha\|_{op}=\|a\|_2$, also stetig. In Hilberträumen gilt auch die Umkehrung.

5.5.9 Rieszscher Darstellungssatz. Jede stetige Linearform $\alpha\colon H\to \mathbb K$ auf einem Hilbertraum $H$ wird repräsentiert durch einen Vektor $a\in H$. Das heißt, für jedes $h\in H$ gilt $\alpha(h)=\langle a,h\rangle$.

Der Beweis benutzt die sogenannte Parallelogrammgleichung, die in Vektorräumen $V$ mit Skalarprodukt gilt: Sind $a, b\in V$, so ist \begin{aligned}
\|a+b\|^2+\|a-b\|^2&=\langle a+b,a+b \rangle +\langle a-b,a-b \rangle\\
&=\left(\|a\|^2+\langle a,b\rangle+\langle b,a\rangle+\|b\|^2\right)+\left(\|a\|^2-\langle a,b\rangle-\langle b,a\rangle+\|b\|^2\right)\\
&=2\|a\|^2 +2\|b\|^2
\end{aligned}
Beweis. Es sei $\alpha$ eine stetige Linearform auf $H$ mit $\|\alpha\|_{op}\not=0$. Insbesondere nimmt $\alpha$ alle Werte in $\mathbb K$ an, und folglich ist die Menge $$A:=\{x\in H \mid\alpha(x)=\|\alpha\|^2_{op}\}$$ nicht leer. Wir zeigen: Der gesuchte Vektor ist ein Vektor in $A$ von minimaler Norm. Sei dazu $(x_n)$ eine Folge von Vektoren in $A$, deren Norm gegen das Infimum $$b:=\inf\left\{\|h\|\mid h\in A\right\}$$ konvergiert. Genauer wählen wir die $x_n$ so, dass gilt $$\|x_n\|^2\lt b^2+\frac1{4n}.$$ Um zu zeigen, dass diese Folge eine Cauchy-Folge ist, benutzen wir die Parallelogrammgleichung \begin{aligned}\|x_n-x_m\|^2 &= 2\|x_n\|^2+2\|x_m\|^2-4\left\|\frac{x_n+x_m}2\right\|^2 \\&\lt \left(2b^2+\frac1{2n}\right)+\left(2b^2+\frac1{2m}\right)-4b^2\le \frac1{\min(n,m)},\end{aligned} und die Tatsache, dass wegen der Linearität von $\alpha$ gilt $ \frac{x_n+x_m}2 \in A.$ Wegen der Vollständigkeit von $H$ konvergiert die Folge gegen einen Grenzwert $a\in H$ und aus der Stetigkeit von $\alpha$ folgt $a\in A$.
Die Eindeutigkeit von $a$ erhalten wir wiederum aus der Parallelogrammgleichung. Seien $a,a'\in A$ Norm-minimierend, so gilt \begin{aligned}\|a-a'\|^2 &= 2\|a\|^2+2\|a\|^2-4\left\|\frac{a+a'}2\right\|^2 \le 2b^2+ 2b^2-4b^2= 0.\end{aligned} Um zu zeigen, dass für alle $h\in H$ gilt $\alpha(h)=\langle a,h\rangle$, betrachten wir zuerst $v\in \ker(\alpha)$. Der Vektor $a+v$ ist in $A$ und wegen der Minimierungseigenschaft von $a$ gilt $$\|a+\lambda v\|^2 -\|a\|^2=|\lambda|^2 \|v\|^2+ \lambda\langle a,v\rangle +\overline{\lambda\langle a,v\rangle}\ge0$$ für alle $\lambda\in \mathbb K$. Ist $\langle a,v\rangle\not=0$, so ist diese Ungleichung für $$\lambda=-\frac{\langle v,a\rangle}{\|v\|^2}$$ verletzt. Folglich muss gelten $\langle a,v\rangle =0.$ Damit haben die beiden Linearformen $\alpha$ und $\langle a,\,.\,\rangle$ den gleichen Kern, unterscheiden sich also höchstens durch einen Faktor $\mu\in \mathbb K$ voneinander. Wegen $$\|\alpha\|_{op}=\sup_{h\not=0}\frac{\|\alpha(h)\|}{\|h\|}=\sup_{x\in A}\frac{\|\alpha(x)\|}{\|x\|}=\frac{\|\alpha(a)\|^2}{\inf_{x\in A}\|x\|}=\frac{\|\alpha\|_{op}^2}{\|a\|}$$ gilt $\|a\|=\|\alpha\|_{op}$ und folglich $\langle a,a\rangle=\|\alpha\|_{op}^2 =\alpha(a).$ Der Faktor $\mu$ ist folglich gleich $1$.
qed

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