6.2. Ableitungsregeln

Die wichtigste Rechenregel für Ableitungen ist die Kettenregel. Sie besagt kurz, dass die Ableitung einer Komposition die Komposition der Ableitungen ist. Etwas ausführlicher lautet sie:

6.2.1. Kettenregel. Es seien $E,F,G$ Banachräume, $X\subset E$, $Y\subset F$ jeweils offene Teillmengen, und $f\colon X\to Y$, sowie $g\colon Y\to G$ in $x_0\in X$ und $y_0=f(x_0)\in Y$ jeweils differenzierbar. Dann ist $g\circ f\colon X\to G$ in $x_0$ differenzierbar und für die Ableitung gilt $$\partial(g\circ f)(x_0)= \partial g\left(f(x_0)\right)\partial f(x_0).$$

Beweis. Differenzierbarkeit der Funktionen $f$ und $g$ impliziert Darstellungen \begin{aligned}
f(x)&=f(x_0) +\partial f(x_0)(x-x_0)+r(x)\|x-x_0\| \\
g(y)&=g(y_0) +\partial g(y_0)(y-y_0)+s(y)\|y-y_0\|
\end{aligned} für $x\in X, y\in Y$ und jeweils in $x_0$ und $y_0$ stetig durch den Nullvektor fortsetzbaren Funktionen $r\colon X\to F$ und $s\colon Y\to G$. Einsetzen $y:=f(x)$ liefert \begin{aligned}
(g\circ f)(x) &=
g\left(f(x_0)\right) + \partial g\left(f(x_0)\right)\big(\partial f(x_0)(x-x_0) +r(x)\|x-x_0\|\big) + s\left(f(x)\right) \big{\|} \partial f(x_0)(x-x_0) + r(x)\|x-x_0\|\big{\|}\\
&=(g\circ f)(x_0) + \big(\partial g\left(f(x_0)\right)\partial f(x_0)\big)(x-x_0) + t(x)\|x-x_0\|
\end{aligned} mit der in $x_0$ stetig durch Null fortsetzbaren Funktion $t\colon X\to G$ mit $$t(x):= \partial g\left(f(x_0)\right) r(x)+ s\left(f(x)\right)\big{\|} \partial f(x_0)\frac{x-x_0}{\|x-x_0\|}+r(x)\big{\|}.$$ qed

Angewandt auf Abbildungen zwischen endlich dimensionalen Vektorräumen, erhalten wir: Die Jacobi-Matrix einer Komposition ist das Produkt der Jacobi-Matrizen der einzelnen Faktoren.

Beispiel. Wir betrachten die Abbildungen \begin{aligned}
f&\colon \mathbb R^2\to\mathbb R^3,\quad (x,y)\mapsto \big(xy,x^2,y^3\big)\\
g&\colon \mathbb R^3\to\mathbb R^2,\quad (\xi,\eta,\zeta)\mapsto \big(\cos \xi,\sin (\eta\zeta)\big)\\
h=g\circ f&\colon \mathbb R^2\to \mathbb R^2,\quad (x,y)\mapsto \big(\cos (xy), \sin(x^2y^3)\big)
\end{aligned} Die Jacobi-Matrizen der einzelnen Abbildungen sind einfach zu berechnen:$$
\partial g=
\left(\begin{matrix}
-\sin \xi&0&0\\
0&\zeta\cos(\eta\zeta)&\eta\cos(\eta\zeta)\end{matrix}\right),\quad
\partial f=\left(\begin{matrix}y&x\\2x&0\\0&3y^2\end{matrix}\right), \quad
\partial h=
\left(\begin{matrix}
-y\sin(xy)&-x\sin(xy)\\
2xy^3\cos(x^2y^3)&3x^2y^2\cos(x^2y^3)
\end{matrix}\right).$$ Wir verifizieren die Kettenregel durch Multiplikation der Matrizen $$ \partial g\cdot \partial f= \partial h,$$ wobei wir die Gleichung $(\xi,\eta,\zeta)=f(x,y)=(xy,x^2,y^3)$ berücksichtigen.

6.2.2. Korollar. Es seien $E,F$ Banachräume, $X\subset E$ eine offene Teilmenge und $x_0\in X$.

  1. Linearität: Sind $f,g\colon X\to F$ in $x_0$ differenzierbar und $\lambda,\tau\in \mathbb K$. Dann ist auch $\lambda f+\tau g$ in $x_0$ differenzierbar und es gilt $$\partial (\lambda f+\tau g)(x_0)=\lambda\partial f(x_0)+\tau \partial g(x_0).$$ Insbesondere ist $\mathcal C^1(X,F)$ ein Untervektorraum von $\mathcal C^0(X,F)$ und die Ableitung $$\partial \colon \mathcal C^1(X,F)\to \mathcal C^0(X,F)$$ ist eine lineare Abbildung.
  2. Leibnizregel: Sind $f,g \colon X \to \mathbb K$ in $x_0$ differenzierbar, so auch das Produkt $fg$, und es gilt $d(f g)=gdf+fdg.$

Beweis.

  1. Die Abbildung $\lambda f+\tau g$ ist die Komposition einer in $x_0$ differenzierbaren Abbildung $$h\colon X\to F\times F, x\mapsto \big(f(x),g(x)\big)$$ mit der linearen Abbildung $$\phi\colon F\times F\to F, (y_1,y_2)\mapsto \lambda y_1+\tau y_2.$$ Wegen $\partial h=\big(\partial f,\partial g\big)$ und $\partial \phi =\phi$ folgt aus der Kettenregel $$\partial\big(\lambda f+\tau g\big)=\partial (\phi\circ h)=\partial\phi\partial h=\phi(\partial f,\partial g)=\lambda\partial f+\tau\partial g.$$
  2. Die Abbildung $fg$ ist Komposition $fg=m\circ h$ der in $x_0$ differenzierbaren Funktion $$h\colon X\to \mathbb K\times \mathbb K, x\mapsto \big(f(x),g(x)\big)$$ und der Multiplikationsabbildung $$m\colon \mathbb K\times \mathbb K\to \mathbb K, m\colon (\alpha,\beta)\mapsto \alpha\beta.$$ Es gilt $\partial h=\big(df, dg\big)$ und die Jacobische von $m$ an der Stelle $(\alpha,\beta)\in \mathbb K^2$ ist gegeben durch $\partial m(\alpha,\beta)=(\beta,\alpha)$. Die Kettenregel liefert $$d(fg)=\big(\partial m(f,g)\big)\partial h=(g,f){{df}\choose{dg}}=gdf+fdg.$$

qed

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