7.2. Exkurs über Regelintegrale

Es sei $J=[a,b]$ ein kompaktes Intervall. Eine Funktion $f\colon J\to \mathbb R^n$ kann verstanden werden als ein $n$-Tupel $f=\left(f^1,\ldots,f^n\right)$ von Funktionen $f^k\colon J\to\mathbb R$. Ist jede der Funktionen $f^k$ integrierbar, so lässt sich das Integral $$\int_a^b f(t)\,dt=\left(\int_a^b f^1(t)\,dt,\ldots,\int_a^b f^n(t)\,dt\right)$$ ad hoc definieren als ein $n$-Tupel von Integralen. In diesem kleinen Exkurs soll gezeigt werden, wie man das Integral allgemeiner für Banachraum-wertige Funktionen auf einem Intervall definieren kann. Die Grundidee war in den Übungen bereits besprochen. Dieser Exkurs dient gleichzeitig der Wiederholung verschiedener Konzepte, die im Laufe der letzten beiden Semester besprochen wurden.

Definition. Es sei $E$ ein Banachraum. Eine Funktion $f\colon J\to E$ heißt

  • Treppenfunktion, wenn es eine Zerlegung $Z=(a_0, a_1, \ldots, a_n)$ des Intervalls $J$ gibt, so dass $f$ auf jedem Intervall $\left(a_k,a_{k+1}\right)$ konstant ist.
  • Regelfunktion, falls für jedes $t\in (a,b)$ sowohl links- wie auch rechsseitige Grenzwerte $$f(t-0):=\lim_{x\nearrow t}f(x)\quad\text{ und }\quad f(t+0):=\lim_{x\searrow t}f(x)$$ existieren, und an den Rändern entsprechend die Grenzwerte $f(a+0)$ und $f(b-0)$.

Bei einer Regelfunktion wird für jedes $t\in J$ verlangt, dass die drei Werte $f(t-0),f(t)$ und $f(t+0)$ jeweils existieren. An den Punkten $t$, an denen diese drei Werte übereinstimmen, ist die Funktion stetig. Insbesondere sind Treppenfunktionen, wie auch stetige Funktionen, spezielle Regelfunktionen. Treppenfunktionen und Regelfunktionen bilden Untervektorräume des Banachraums der beschränkten Funktionen. Dazu muss man insbesondere zeigen, dass Summen von Treppenfunktionen und Regelfunktionen wiederum solche sind. Sind $f$ und $g$ jeweils Treppenfunktionen bezüglich Zerlegungen $\mathcal Z_f$ und $\mathcal Z_g$ von $J$, so ist die Summe eine Treppenfunktion bezüglich der Zerlegung $\mathcal Z=\mathcal Z_f\cup\mathcal Z_g$. Ebenso sind Summen von Regelfunktionen wiederum Regelfunktionen, da der Grenzwert einer Summe gleich der Summe der Grenzwerte ist.

7.2.1. Satz. Der Raum $\mathcal{Regel}(J,E)$ der Regelfunktionen ist der Abschluss des Raumes $\mathcal{Trepp}(J,E)$ der Treppenfunktionen im Banachraum der beschränkten Funktionen bezüglich der Supremums-Norm.

Mit anderen Worten ausgedrückt, ist eine Funktion $f\colon J\to E$ genau dann eine Regelfunktion, wenn sie sich gleichmäßig durch Treppenfunktionen approximieren lässt. Insbesondere ist der Raum $\mathcal{Regel}(J,E)$ der Regelfunktionen, versehen mit der $\infty$-Norm, ein Banachraum.

Beweis.

  • "$\subseteq$" Es sei $f$ eine Regelfunktion und $\varepsilon\gt 0$. Zu jedem Grenzwert $f(t+0)$ für $t\in [a,b)$ gibt es ein $\delta_{t+0}\gt 0$ mit $\|f(x)-f(t+0)\|\lt \varepsilon/2$ für alle $x\in (t, t+\delta_{t+0})$. Analog gibt es zu jedem Grenzwert $f(t-0)$ für $t\in (a,b]$ ein $\delta_{t-0}\gt 0$ mit $\|f(x)-f(t-0)\|\lt \varepsilon/2$ für alle $x\in ( -\delta_{t-0}+t, t)$. Die Intervalle $$U_t:=(-\delta_{t-0}+t,t]\cup [t,t+\delta_{t+0})$$ bilden für $t\in J$ eine offene Überdeckung von $J$. Das kompakte Intervall $J$ wird von endlich vielen dieser Teilintervalle $U_{t_i}$ überdeckt. Zusammen mit den Randpunkten bilden die Teilungspunkte $t_i$ eine Zerlegung von $J$. Wir wählen eine Verfeinerung $a_0\lt a_1\lt\ldots\lt a_n$ dieser Zerlegung derart, dass gilt $$\|f(x)-f(y)\|\lt \varepsilon \quad \text{ für }x,y\in (a_{k-1},a_{k}), k\in\{1,\ldots,n\}$$ und setzen $$\tau(x)=\begin{cases}f(x)&\text{ für }x\in \{a_0\lt a_1\lt\ldots\lt a_n\}\\f\left(\frac{a_{k-1}+a_k}2\right)&\text{ für }x\in (a_{k-1},a_k), k\in \{1,\ldots,n\}.\end{cases}$$ Dann ist $\tau$ eine Treppenfunktion und nach Konstruktion ist $\|f-\tau\|_\infty\lt\varepsilon$.
  • "$\supseteq$" Die beschränkte Funktion $f\colon J\to E$ sei im Abschluss des Raums der Treppenfunktionen bezüglich der Supremums-Norm. Wir müssen zeigen, dass $f$ eine Regelfunktion ist. Es sei $(\tau_n)_{n\in \mathbb N}$ eine gegen $f$ konvergente Folge von Treppenfunktionen. Zu vorgegebenem $t\in J$ müssen wir die Existenz der rechts- und linksseitigen Grenzwerte $f(t\pm 0)$ nachweisen. Da das Argument für beide Seiten analog ist, beschränken wir uns auf den linksseitigen Grenzwert. Für jede der Treppenfunktionen $\tau_n$ existiert ein $\alpha_n\lt t$, so dass $\tau_n$ auf dem offenen Intervall $(\alpha_n,t)$ konstant ist. Die Folge der Werte $e_n=\tau_n\left((\alpha_n,t)\right)$ bildet eine Cauchy-Folge, welche in dem Banachraum $E$ gegen einen Grenzwert $e$ konvergiert. Es bleibt zu zeigen $f(t-0)=e$. Sei dazu ein $\varepsilon\gt 0$ vorgegeben. Dann gibt es ein $N\in \mathbb N$, so dass für die Treppenfunktion $\tau_N$ die beiden Abschätzungen $\|f-\tau_N\|_\infty\lt \varepsilon/2$ und $\|e_N-e\|\lt \varepsilon/2$ erfüllt sind. Mit $\delta_{t-0}:=t-\alpha_N$ gilt für alle $x\in (-\delta_{t-0}+t,t)=(\alpha_N,t)$ die Abschätzung \begin{aligned}\|f(x)-f(t-0)\|&=\|f(x)-e\|\le \|f(x)-\tau_N(x)\|+\|\tau_N(x)-e\|\\&\le \|f-\tau_N\|_\infty +\|e_N-e\|\lt \varepsilon/2+\varepsilon/2=\varepsilon.\end{aligned}

qed

7.2.2. Korollar. Die lineare Abbildung $$\int_a^bdt\colon \mathcal{Trepp}(J,E)\to E,\quad \int_a^b f\,dt:=\sum_{k=0}^{n-1}f(a_k+0)\cdot(a_{k+1}-a_k)$$ ist stetig bezüglich der Supremums-Norm und lässt sich eindeutig stetig erweitern zu einem Integral $$ \int_a^bdt\in \mathcal L\left( \mathcal{Regel}(J,E), E\right),\quad f\mapsto \int_a^bf\,dt$$ Es gelten:

  1. Normabschätzung: $$\left\|\int_a^b f\,dt\right\|\le \int_a^b \|f(t)\|dt\le (b-a)\|f\|_\infty\quad \text{ für }f\in \mathcal{Regel}(J,E).$$
  2. Additivität bezüglich Zerlegungen: Ist $c\in J$, so gilt $$\int_a^bf\,dt=\int_a^c f\,dt+\int_c^b f\,dt\quad \text{ für }f\in \mathcal{Regel}(J,E).$$
  3. Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung: Ist $f\in \mathcal C(J,E)$ und $c\in J$, so ist die durch $$F(x):=\int\limits^x_c f\,dt$$ definierte Funktion $F:J\to\mathbb R$ differenzierbar mit Ableitung $F'(x)=f (x)$.

Beweis. Im Beweis benutzen wir die Methoden aus Kapitel 5. Ist $\phi$ eine Treppenfunktion bezüglich einer Zerlegung $Z=(a_0, a_1, \ldots, a_n)$ von $J$, so erhalten wir eine erste Abschätzung \begin{aligned}
\left\|\int_a^b \phi\,dt\right\|&=\left\|\sum_{k=0}^{n-1}\phi(a_k+0)\cdot(a_{k+1}-a_k)\right\|\\
&\le \sum_{k=0}^{n-1}\|\phi(a_k+0)\|\cdot(a_{k+1}-a_k)\\
&=\int_a^b \|\phi(t)\|dt,\end{aligned} und daraus weitergehend eine zweite Abschätzung \begin{aligned}
\int_a^b \|\phi(t)\|dt&\le \|\phi\|_\infty \cdot \sum_{k=0}^{n-1}(a_{k+1}-a_k) \\
&= \|\phi\|_\infty \cdot (a_n-a_0)\\
&=\|\phi\|_\infty \cdot (b-a).
\end{aligned} Nach 5.5.1. folgt $$\int_a^bdt \in \mathcal L(\mathcal{Trepp}(J,E),E).$$ Insbesondere ist das Integral Lipschitz-stetig mit Lipschitz-Konstante $(b-a)$ und damit gleichmäßig stetig. Nach 5.4.5 ist $\mathcal{Regel}(J,E)$ die Vervollständigung von $\mathcal{Trepp}(J,E)$ bezüglich der Supremums-Norm. Nach 5.4.2 lässt sich die gleichmäßig stetige Abbildung $\int_a^bdt$ eindeutig zu einer gleichmäßig stetigen Abbildung $$\int_a^bdt \in \mathcal L(\mathcal{Regel}(J,E),E)$$ auf die Vervollständigung fortsetzen.

  1. Die Regelfunktion $f$ sei Grenzwert $f=\lim_{n\to\infty}\phi_n$ einer Folge von Treppenfunktionen. Da sowohl das Integral, wie auch die Norm jeweils stetige Abbildungen sind, bilden sie konvergente Folgen auf konvergente Folgen ab. Insbesondere folgt aus den eben bewiesenen Abschätzungen $$\left\|\int_a^b \phi_n\,dt\right\|\le \int_a^b\|\phi_n(t)\|\,dt\le (b-a)\|\phi_n\|_\infty$$ für Treppenfunktionen durch Grenzwertbildung die Abschätzungen \begin{aligned}\left\|\int_a^b f\,dt\right\|
    &=\left\|\int_a^b \lim_{n\to\infty}\phi_n\,dt\right\| = \left\| \lim_{n\to\infty} \int_a^b \phi_n\,dt\right\| = \lim_{n\to\infty}\left\|\int_a^b \phi_n\,dt\right\|\\
    &\le \lim_{n\to\infty}\int_a^b\|\phi_n(t)\|\,dt= \int_a^b \lim_{n\to\infty}\|\phi_n(t)\|\,dt =\int_a^b \|f(t)\|\,dt
    \end{aligned} sowie
    \begin{aligned}\int_a^b \|f(t)\|\,dt &= \int_a^b \lim_{n\to\infty}\|\phi_n(t)\|\,dt=\lim_{n\to\infty}\int_a^b\|\phi_n(t)\|\,dt\\
    &\le \lim_{n\to\infty}\left((b-a)\|\phi_n\|_\infty\right) = (b-a)\|\lim_{n\to\infty}\phi_n\|_\infty =(b-a)\|f\|_\infty.\end{aligned}
  2. Für Treppenfunktionen $\phi\colon J\to E$ bezüglich einer Zerlegung $\mathcal Z$ des Intervalls $J=[a,b]$ erhalten wir durch Hinzufügen eines weiteren Zerlegungspunktes $c\in (a,b)$ Zerlegungen der Teilintervalle $[a,c]$ und $[c,b]$. Für die entsprechenden Integrale gilt offensichtlich $$\int_a^b\phi\,dt=\int_a^c \phi\,dt+\int_c^b \phi\,dt.$$ Ist nun die Regelfunktion $f=\lim_{n\to\infty}\phi_n$ der Grenzwert einer Folge von Treppenfunktionen, so erlaubt wiederum die Stetigkeit des Integrals als Operator in $\mathcal L(\mathcal{Regel}(J,E),E)$ die Vertauschung von Grenzwertbildung und Integral und wir erhalten \begin{aligned}
    \int_a^bf\,dt&=\int_a^b\left(\lim_{n\to\infty}\phi_n\right)dt=\lim_{n\to\infty}\int_a^b\phi_n\,dt= \lim_{n\to\infty}\left(\int_a^c\phi_n\,dt+\int_c^b\phi_n\,dt\right)\\
    & =\left(\lim_{n\to\infty}\int_a^c\phi_n\,dt\right)+\left(\lim_{n\to\infty}\int_c^b\phi_n\,dt\right)=\int_a^c\lim_{n\to\infty}\phi_n\,dt+\int_c^b\lim_{n\to\infty}\phi_n\,dt\\
    &=\int_a^cf\,dt+\int_c^bf\,dt
    \end{aligned}
  3. Ist $f\colon J\to E$ stetig, so lassen sich die soeben bewiesenen Integrationsregeln kombinieren \begin{aligned}\|F(x+h)-F(x)-h\cdot f(x)\|
    &=\left\|\int_c^{x+h}f(t)\,dt-\int_c^xf(t)\,dt-\int_x^{x+h}f(x)\,dt\right\|\\
    &=\left\|\int_x^{x+h}\left(f(t)-f(x)\right)dt\right\|\\
    &\le \sup_{0\le\tau\le 1}\|f(x+th)-f(x)\|\cdot |h|.\end{aligned} Die Stetigkeit von $f$ liefert somit $$F(x+h)-F(x)-h\cdot f(x)=o(|h|)$$ und damit die Differenzierbarkeit von $F$ mit Ableitung $\partial F(x)=f(x)$.

qed

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