In diesem Abschnitt invertieren wir die Logik unserer Fragestellung. Statt der eigentlich gegebenen Aufgabe Gegeben eine Differentialgleichung, was können wir über die Lösungen sagen? beschäftigen wir uns zunächst mit einer anderen Frage: Wie sieht eine Differentialgleichung aus, auf die wir den Satz über implizite Funktionen anwenden können?
Es bezeichnen $J$ ein offenes Intervall, $D$ eine offene Teilmenge eines Banachraums $E$ und $F$ einen weiteren Banachraum.
Definition. Eine Funktion $\Phi\colon J\times D\to F$ heißt erstes Integral von $\dot{x}=f(t,x)$, falls für jede Lösung $u\colon J_u\to D$ die Abbildung $$J_u\to D,\quad t\mapsto \Phi\left(t,u(t)\right)$$ konstant ist. Gilt zusätzlich $\Phi\in\mathcal C^1(J\times D,E)$ und $D_2\Phi(t,x)\in \mathcal Lis(E,F)$ für $(t,x)\in J\times D$, so nennt man $\Phi$ ein reguläres erstes Integral.
Bemerkung. Ist $\Phi\in \mathcal C^1(J\times D, F)$, und gilt $D_2\Phi(t,x)\in \mathcal Lis(E,F)$ für $(t,x)\in J\times D$, so folgt aus dem Satz über implizite Funktionen, dass es zu jedem $(t_0,x_0)\in J\times D$ jeweils eine offene Umgebung $J_u\subset J$ von $t_0$ gibt, sowie eine eindeutig bestimmte implizite Funktion $u\in \mathcal C^1(J_u,E)$ mit $u(t_0)=x_0$, so dass $\Phi\left(t,u(t)\right)$ konstant ist. Aus der Gleichung $$0=\frac{d}{dt}\Phi\left(t,u(t)\right)=\partial_1\Phi\left(t,u(t)\right)+D_2\Phi\left(t,u(t)\right)\dot{u}(t),$$ schließen wir, dass $u$ die auf $J_u\times D$ definierte Differentialgleichung $\dot{x}=f(t,x)$ mit $$f(t,x)=-\left(D_2\Phi(t,x)\right)^{-1}\partial_1\Phi(t,x)$$ zum Anfangswert $(t_0,x_0)$ eindeutig löst. Insbesondere ist $\Phi$ ein reguläres erstes Integral für diese Differentialgleichung.
Beispiele.
- Homogene Differentialgleichung erster Ordnung mit konstanten Koeffizienten. Es sei $A\in \mathcal L(E,E)$. Dann gibt es zu jedem Anfangswert $(t_0,x_0)\in \mathbb R\times E$ eine eindeutig bestimmte globale Lösung $$u(t)=e^{A(t-t_0)}x_0\quad\text{ der Differentialgleichung}\quad \dot{x}=Ax.$$ Dies folgt aus der obigen Bemerkung, angewandt auf die Funktion $\Phi(t,x)=e^{-At}x.$ Es gilt $D_2\Phi(t,x)=e^{-At}\in \mathcal Lis(E,E)$ für alle $t\in \mathbb R$. Damit ist $\Phi(t,x)$ ein reguläres erstes Integral zur Differentialgleichung $\dot{x}=Ax$. Weiterhin gilt wegen $e^{A(t-t_0)}= e^{At}e^{-At_0}$, dass $\Phi\left(t,u(t)\right)=e^{-At_0}x_0$ konstant ist für alle $t\in \mathbb R$.
- Ein nicht reguläres erstes Integral. Es sei $D= \mathbb R_{\gt 0}\times \mathbb R_{\gt 0}$ und $\alpha,\beta\in D$ fixiert. Wir betrachten die Abbildung $$\Psi\colon D \to \mathbb R,\quad \Psi(x)=-\langle\alpha,\log x\rangle+\langle \beta,x\rangle,$$ wobei $\log x$ den Vektor $(\log x_1,\log x_2)\in \mathbb R^2$ für $x=(x_1,x_2)\in D$ bezeichnet. Der Gradient $$\nabla\Psi(x)=\left(-\frac{\alpha_1}{x_1}+\beta_1,-\frac{\alpha_2}{x_2}+\beta_2\right)$$ hat $\left(\frac{\alpha_1}{\beta_1}, \frac{\alpha_2}{\beta_2}\right)$ als einzige Nullstelle. Die Hessesche an der Nullstelle ist diagonal mit positiven Einträgen $\frac{\beta_i^2}{\alpha_i}$. Wir haben es hier also mit einem globalen Minimum zu tun. Die Funktion $\Psi$ ist ein erstes Integral für die Differentialgleichung $$\dot{x}=\left(\begin{matrix} \dot{x}_1\\ \dot{x}_2\end{matrix}\right)=\left(\begin{matrix} \alpha_2x_1-\beta_2x_1x_2\\ -\alpha_1x_2+\beta_1x_1x_2\end{matrix}\right),$$ wie die Rechnung $$\frac{d}{dt}\Psi\left(x(t)\right)=\langle\nabla\Psi,\dot{x}\rangle=\left\langle\left(-\frac{\alpha_1}{x_1}+\beta_1,-\frac{\alpha_2}{x_2}+\beta_2\right),\left(\alpha_2x_1-\beta_2x_1x_2,-\alpha_1x_2+\beta_1x_1x_2\right)\right\rangle=0$$ zeigt. Die Lösungskurven liegen also auf den Niveaumengen der Funktion $\Psi$. Das Minimum der Funktion beschreibt die einzige konstante Lösung der Differentialgleichung. Alle anderen Lösungskurven laufen entlang der Niveaumengen, welche nach dem Satz über implizite Funktionen ein-dimensionale Untermannigfaltigkeiten von $D$ sind. Diese Differentialgleichung beschreibt im Übrigen ein Räuber-Beute-Populationsmodell.
- Trennung der Variablen. Es sei $D$ ein Intervall, $g\in\mathcal C(J,\mathbb R)$ und $h\in \mathcal C(D,\mathbb R)$ mit $h(x)\not=0$ für $x\in D$. Es seien $G,H$ Stammfunktionen von $g$ und $h$. Dann ist $$\Theta(t,x):=G(t)-H(x),\quad\text{ für } (t,x)\in J\times D$$ ein reguläres erstes Integral von $\dot{x}=\frac{g(t)}{h(x)},$ denn es gilt $\Theta\in \mathcal C^1(J\times D,\mathbb R)$ und $\partial_2\Theta=-h(x)\not=0,$ und folglich $$\dot{x}=-\left(\partial_2\Theta(t,x)\right)^{-1}\partial_1\Theta(t,x)=\frac{g(t)}{h(x)}.$$
Dies letzte Beispiel liefert ein nützliches Verfahren zur Lösung bestimmter Differentialgleichungen, deshalb formulieren wir es noch einmal als Satz.
7.1.1. Separation der Variablen. Es sei $D$ ein Intervall, $g\in\mathcal C(J,\mathbb R)$ und $h\in \mathcal C(D,\mathbb R)$ mit $h(x)\not=0$ für $x\in D$. Dann besitzt das Anfangswertproblem $$\dot{x}=\frac{g(t)}{h(x)},\quad x(t_0)=x_0$$ für jedes $(t_0,x_0)\in J\times D$ eine eindeutig bestimmte, implizit durch die Gleichung $$\int_{x_0}^xh(\xi)\,d\xi=\int_{t_0}^tg(\tau)\,d\tau$$ beschriebene, lokale Lösung.
Man kann sich den Satz sehr gut über folgenden Formalismus merken: In der Differentialgleichung $$\frac{dx}{dt}=\frac{g(t)}{h(x)}$$ trennt man die Variablen in der Form $$h(x)\,dx=g(t)\,dt$$ und integriert beide Seiten.
Beispiele.
- Bei der Differentialgleichung $\dot{x}=1+x^2$ liefert Separation der Variablen die Funktionalgleichung $$\arctan{x}-\arctan(x_0)=\int_{x_0}^x\frac{d\xi}{1+\xi^2}=\int_{t_0}^t\,d\tau=t-t_0,$$ und damit die Lösung $x(t)=\tan(t-\tau_0)$ mit $\tau_0=t_0-\arctan(x_0)$ zum Anfangswert $(t_0,x_0)$.
- Bei der Differentialgleichung $\dot{x}=x^{1-\alpha}$ für $\alpha\not=0$ müssen wir die Nullstelle (oder Polstelle) von $h(x)=x^{\alpha-1}$ vermeiden. Betrachten wir die Differentialgleichung auf dem Definitionsbereich $D=(0,\infty)$, so liefert die Trennung der Variablen die Gleichung $$ \int_{x_0}^x\xi^{\,\alpha-1}d\xi=t-t_0$$ und damit die eindeutig bestimmte Lösung $$x(t)=\left( x_0^\alpha+\alpha(t-t_0)\right)^{\frac1\alpha}.$$ Diese Lösung ist im Intervall $t\in \left(t_0-\frac{x_0^\alpha}{\alpha},\infty\right)$ definiert, falls $\alpha \gt 0$ gilt, ansonsten im Intervall $t\in \left(-\infty, t_0-\frac{x_0^\alpha}{\alpha}\right)$. Die Frage nach der Fortsetzbarkeit auf ein größeres Intervall ist, wie wir im Falle $\alpha=\frac12$ bereits gesehen haben, etwas knifflig.