Es sei $J$ ein offenes Intervall, $D$ eine offene Teilmenge eines Banachraums $E$ und $f\in \mathcal C(J\times D, E)$. Gesucht ist die Lösung der Differentialgleichung $$\dot{x}=f(t,x)\quad \text{ zum Anfangswert } x(t_0)=x_0.$$ Wir gehen aus vom Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung. Ist $u\colon [t_0,t]\to D$ eine Lösung der Differentialgleichung, so gilt mit $u(t_0)=x_0$ die Gleichung $$u(t)=u(t_0)+ \int_{t_0}^t \dot{u}(t)\,dt=x_0+\int_{t_0}^tf(\tau,u(\tau))\,d\tau.$$ Auf den ersten Blick sieht das wie eine berückend einfache Lösung aus; Integrale lösen haben wir schließlich gelernt. Der zweite Blick allerdings offenbart das Problem mit dieser Gleichung: Die gesuchte Funktion $u(t)$ steht auf beiden Seiten der Gleichung. Um die Lösung der DGl mittels dieses Integrals berechnen zu können, müsste man sie als Bestandteil des Integranden bereits kennen. Also Pustekuchen, man hat nichts gewonnen.
Es sei denn, man heißt Émile Picard.
Er betrachtete diese Gleichung als Fixpunktgleichung $u=P(u)$ für einen Operator $P$. Auf einem geeignetem Raum von Funktionen definierte er den nach ihm benannten Picard-Operator $$P\colon v\mapsto P(v), \quad P(v)(t):=x_0+\int_{t_0}^t f\left(\tau,v(\tau)\right)\,d\tau$$ und untersuchte diesen nach seinen Fixpunkten.
Wir testen den Operator an einem uns bekannten Beispiel: Die Differentialgleichung $\dot{x}=\lambda x$ mit $(t_0,x_0)=(0,1)$. Wir starten mit der konstanten Funktion $v_0=1$. Dann gilt iterativ \begin{aligned}
v_1(t)&=P(v_0)(t)=1+\int_{0}^t \lambda v_0(\tau)\,d\tau=1+\int_{0}^t \lambda\cdot 1\,d\tau=1+\lambda t\\
v_2(t)&=P(v_1)(t)=1+\int_{0}^t \lambda v_1(\tau)\,d\tau=1+\int_{0}^t \lambda(1+\lambda\tau)\,d\tau=1+\lambda t+\frac12\lambda^2t^2\\
v_3(t)&=P(v_2)(t)=1+\int_{0}^t \lambda v_2(\tau)\,d\tau=1+\int_{0}^t \lambda(1+\lambda\tau+\frac12\lambda^2\tau^2)\,d\tau=1+\lambda t+\frac12\lambda^2t^2+\frac16\lambda^3t^3\\
&\vdots\end{aligned} Offenbar liefert dieser Operator sukzessive die Taylorpolynome der Lösung $u(t)=\exp(\lambda t)$.
Die Vorgehensweise für einen Existenz- und Eindeutigkeitsbeweis wird nun klar: Wir suchen uns einen geeigneten Raum von Funktionen, auf dem der Picard-Operator als Kontraktion wirkt und wenden den Banachschen Fixpunkt an. Zuerst müssen wir jedoch noch eine Einschränkung der betrachteten Differentialgleichungen machen. Wir hatten gesehen, dass die DGl $\dot{x}=2\sqrt{|x|}$ zum Anfangswert $(t_0,x_0)=(0,0)$ überabzählbar viele verschiedene Lösungen besitzt. Wenn wir den Banachschen Fixpunktsatz anwenden wollen, so sollten wir tunlichst derartige Gegenbeispiele zur Eindeutigkeit ausschließen.
Definition. Es seien $E,F$ Banachräume, $X\subset E$ offen, und $J\subset \mathbb R$ ein Intervall. Eine Funktion $f\in \mathcal C(J\times X,F)$ heißt lokal Lipschitz-stetig bezüglich $x\in X$, wenn es zu jedem $(t_0,x_0)\in J\times X$ eine Umgebung $U\times V$ von $(t_0,x_0)$ und ein $L\ge 0$ gibt mit $$\|f(t,x)-f(t,y)\|\le L\|x-y\|\quad\text{ für } t\in U, x,y\in V.$$ Die Menge aller bezüglich $x\in X$ lokal Lipschitz-stetigen Funktionen wird mit $\mathcal C^{0,1-}(J\times X,F)$ bezeichnet.
Bemerkung. Es gelte $f\in \mathcal C(J\times X,F)$ und für jedes $t\in J$ gelte $f(t,\,.\,)\in \mathcal C^1(X,F)$. Ist dann $D_2f\in \mathcal C(J\times X,F)$, so gilt $f\in \mathcal C^{0,1-}(J\times X,F)$. Denn wegen der Stetigkeit von $D_2f$ gibt es zu $\varepsilon =1$ eine Umgebung $U\times V$ von $(t_0,x_0)$ in $J\times X$ mit $$\|D_2f(t,x)-D_2(t_0,x_0)\|\lt 1\quad \text{ für }(t,x)\in U\times V.$$ Aus dem Mittelwertsatz folgt für $(t,x),(t,y)\in U\times V$ die Abschätzung $$\|f(t,x)-f(t,y)\|\le \sup_{0\le \tau\le 1}\|D_2f\left(t,x+\tau(y-x)\right)\|\,\|x-y\|\le \left(1+\|D_2f(t_0,x_0)\|\right)\|x-y\|=L\|x-y\|.$$
Damit können wir den Hauptsatz dieses Kapitels formulieren und beweisen.
7.3.1. Satz von Picard-Lindelöf. Es sei $J$ ein offenes Intervall, $D$ eine offene Teilmenge eines Banachraums $E$ und $f\in \mathcal C^{0,1-}(J\times D, E)$. Zu jedem $(t_0,x_0)\in J\times D$ gibt es eine Umgebung $J_u\subset J$ von $t_0$, so dass die Differentialgleichung $$\dot{x}=f(t,x)$$ eine eindeutig bestimmte Lösung $u\colon J_u\to D$ zum Anfangswert $u(t_0)=x_0$ besitzt.
Beweis. Gemäß unserer Voraussetzung an $f$ gibt eine offene Umgebung $U\times V$ von $(t_0,x_0)$ in $J\times D$, in der die stetige Funktion $f$ einer Lipschitz-Abschätzung $$\|f(t,x)-f(t,y)\|\le L\|x-y\|\quad \text{ für } t\in U, x,y\in V$$ genügt. Wir wählen abgeschlossene Umgebungen $$\overline{U_b(x_0)}=\{x\in E\mid \|x-x_0\|\le b\}\subset V$$ und $\overline{U_a(t_0)}=[-a+t_0,t_0+a]\subset U$. Auf der kompakten Menge $\overline{U_a(t_0)}\times \{x_0\}$ ist die stetige Funktion $f$ beschränkt, sagen wir durch $M$. Daraus folgt $$\|f(t,x)\|\le \|f(t,x_0)\|+\|f(t,x)-f(t,x_0)\|\le M+Lb \quad \text{ für } (t,x)\in \overline{U_a(t_0)}\times\overline{U_b(x_0)}.$$ Es sei $c:=\min\{a,b/(M+Lb),1/(2L)\}$ und $J_u=[-c+t_0,t_0+c]=\overline{U_c(t_0)}\subset \overline{U_a(t_0)}$. Der Funktionenraum, auf den wir den Picard-Operator anwenden werden, ist $$Y:=\left\{y\in \mathcal C(J_u,E)\mid \sup_{t\in J_u}\|y(t)-x_0\|\le b\right\}=\mathcal C\left(J_u,\overline{U_b(x_0)}\right).$$ Als Urbild des abgeschlossenen Intervalls $[0,b]$ unter der stetigen Abbildung $$\|\,. -x_0\,\|_\infty\colon \mathcal C(J_u,E)\to \mathbb R$$ ist $Y$ eine abgeschlossene Teilmenge des Banachraums $\left(\mathcal C(J_u,E),\|\,.\,\|\right)$, also ein vollständiger metrischer Raum. Um den Banachschen Fixpunktsatz anwenden zu können, müssen wir zeigen, dass der Picard-Operator $P$ eine Kontraktion des Raums $Y$ darstellt. Für $y\in Y$ und $t\in J_u$ gilt $$\|P(y)(t)-x_0\|
=\left\|\int_{t_0}^tf\left(\tau,y(\tau)\right)\,d\tau\right\|
\le c \sup_{J_u\times \overline{U_b(x_0)}}\|f(\tau,x)\|
\le \frac{b}{M+Lb}\cdot (M+Lb)
=b.$$ Das zeigt, dass $P$ den Raum $Y$ in sich selbst abbildet. Für $y,z\in Y$ finden wir \begin{aligned}
\|P(y)(t)-P(z)(t)\|
&=\left\|\int_{t_0}^t\left(f\left(\tau,y(\tau)\right) -f\left(\tau,z(\tau)\right)\right)\,d\tau\right\|\\
&\le c\sup_{t\in J_u} \left\|f\left(t,y(t)\right) -f\left(t,z(t)\right)\right\|
\le c L \|y-z\|_{\infty}.
\end{aligned} Gemäß der Wahl von $c\le 1/(2L)$ erhalten wir daraus die Abschätzung $$\|P(y)-P(z)\|_\infty\le\frac12\|y-z\|_\infty.$$ Also ist $P$ eine Kontraktion und die Behauptung folgt aus dem Banachschen Fixpunktsatz.
qed
Die Länge des Intervalls $J_u$ ist die Stellschraube des obigen Beweises. Sie muss klein genug gewählt werden, um das Kontraktionsargument zum Laufen zu bringen. Dies hat allerdings keine wesentliche Auswirkung auf die Frage der Eindeutigkeit der Lösung. Eindeutigkeit im Kleinen bewirkt, plakativ ausgedrückt, die Eindeutigkeit im Großen:
7.3.2. Korollar. Es seien $J\subset \mathbb R$ ein offenes Intervall, $D\subset E$ offen und $f\in \mathcal C^{0,1-}(J\times D,E)$. Zu jedem $(t_0,x_0)\in J\times D$ gibt es ein offenes, eindeutig bestimmtes maximales Teilintervall $J_u\subset J$ und eine eindeutig bestimmte Lösung $u\colon J_u\to D$ der Differentialgleichung $\dot{x}=f(t,x)$ zum Anfangswert $u(t_0)=x_0$.
Beweis. Satz 7.3.1 liefert Existenz und Eindeutigkeit einer Lösung der Differentialgleichung in einer Umgebung des Anfangswertes. Sind nun $v\colon J_v\to D$ und $w\colon J_w\to D$ Lösungen der Differentialgleichung zum selben Anfangswert $v(t_0)=w(t_0)$, so bezeichne $I=\{t\in J_v\cap J_w\mid v(t)=w(t)\}$. Gezeigt werden soll $I=J_v\cap J_w$. Wegen $t_0\in I$ handelt es sich zumindest schon nicht um eine leere Menge. Als Urbild der Null unter der stetigen Abbildung $$J_v\cap J_w\to E, \quad t\mapsto v(t)-w(t)$$ ist $I$ abgeschlossen als Teilmenge des Intervalls $J_v\cap J_w$. Da $J_v\cap J_w$ zusammenhängend ist, reicht es zu zeigen, dass $I$ auch offen ist als Teilmenge dieses Intervalls. Sei dazu $s\in I$ gegeben. Dann existiert nach Satz 7.3.1 eine Umgebung von $s$, in der es eine eindeutige Lösung gibt. In dieser Umgebung von $s$ müssen $v$ und $w$ also übereinstimmen. Insbesondere ist diese Umgebung von $s$ in $I$ enthalten. Somit ist $I$ offen in $J_v\cap J_w$. Wir folgern $I=J_v\cap J_w$. Es bezeichne $J_u\subset J$ die Menge aller Punkte $t$, für die eine Lösung $u_t$ der Differentialgleichung auf dem von $t$ und $t_0$ berandeten Intervall existiert, so dass $u_t(t_0)=x_0$ gilt. Nach Konstruktion ist $J_u\subset J$ ein Teilintervall. Es sei $s\in J$ ein Randpunkt von $J_u$. Gälte $s\in J_u$, so würde die nach Satz 7.3.1 lokal um $s$ existierende Lösung der Differentialgleichung die Lösung $u_s$ über $J_u$ hinaus fortsetzen. Dies widerspräche allerdings der Definition von $J_u$.
qed
Bemerkung. Es sei $J$ ein Intervall, $E$ ein Banachraum, $m\in \mathbb N$, $D\subset E^m$ offen und $g\in \mathcal C^{0,1-}(J\times D, E)$, dann heißt $$x^{(m)}=g(t,x,\dot{x},\ldots,x^{(m-1)})$$ eine Differentialgleichung $m$-ter Ordnung. Eine Funktion $u\colon J_u\to E$ heißt Lösung, wenn $J_u\subset J$ ein Intervall mit mehr als einem Punkt ist, $u\in \mathcal C^m(J)$ und $$\left(u(t),\dot{u}(t)m\ldots,u^{(m-1)}\right)\in D\quad\text{ für alle } t\in J_u$$ gilt und darüber hinaus für alle $t\in J_u$ $$u^{(m)}(t)=g\left(t,u(t),\dot{u}(t),\ldots,u^{(m-1)}\right).$$ Als Folgerung aus 7.3.1 und 7.3.2 erhalten wir, dass es zu jedem Anfangswert $(t_0,x_0)\in J\times D$ eine eindeutig bestimmte maximale Lösung einer derartigen Differentialgleichung $m$-ter Ordnung gibt. Dies benutzt die durch $$f(t,y):=\left(y^2,y^3,\dots,y^{m}, g(t,y)\right)\quad\text{ für }t\in J, y=(y^1,\ldots,y^m)\in D$$ definierte $f\in \mathcal C^{0,1-}(J\times D, E^m)$. Projektion einer Lösung dieser DGl erster Ordnung auf den ersten Faktor liefert eine Lösung der Differentialgleichung $m$-ter Ordnung. Offensichtlich gilt auch die Umkehrung.
Achtung: Die Anfangswertbedingungen welche eine Lösung der DGl $m$-ter Ordnung eindeutig festlegt, beinhalten nicht nur den Startzeitpunkt $t_0$ und den Ort $x_0$, sondern auch alle Ableitungen bis zur Ordnung $m-1$ zum Zeitpunkt $t_0$!