3.1.1. Definition. Ist $U$ Umgebung eines Punktes $m\in M$ in einer Mannigfaltigkeit und $x\colon U\to \mathbb R^n$ ein Homöomorphismus mit einem offenen Teil von $x(U)\subset \mathbb R^n$, so nennt man $x$ eine Karte oder ein lokales Koordinatensystem.
3.1.2. Beispiele.
- Offene Teilmengen von $n$-dimensionalen Mannigfaltigkeiten sind ebenfalls Mannigfaltigkeiten.
- Es sei $(v_1,\ldots,v_n)$ eine geordnete Basis eines reellen Vektorraums $V$. Jeder Vektor $v\in V$ besitzt eine eindeutige Darstellung $v=\sum_{j=1}^n x^jv_j$ als Linearkombination der gegebenen Basisvektoren. Die Koordinaten $(x^1,\ldots,x^n)$ beschreiben insgesamt eine Karte $x\colon V\to\mathbb R^n$ der Mannigfaltigkeit $V$. Eine andere geordnete Basis $(\widetilde{v}_1,\ldots,\widetilde{v}_n)$ von $V$ liefert eine andere Karte $\widetilde{x}\colon V\to \mathbb R^n$. Die Kartenwechsel-Abbildung $$\widetilde{x}\circ x^{-1}\colon \mathbb R^n\to \mathbb R^n, \quad x(v)\mapsto \widetilde{x}(v)$$ wird beschrieben durch die sogenannte Basiswechsel-Abbildung: Ist $v_j=\sum_{i=1}^n a_j^i\widetilde{v}_i$, so gilt $$v=\sum_{j=1}^nx^jv_j=\sum_{i,j=1}^na_j^ix^j\widetilde{v}_i=\sum_{i=1}^n\widetilde{x}^i\widetilde{v}_i,$$ somit $\widetilde{x}^i=\sum_{j=1}^na^i_jx^j$. Die Matrix $(a_j^i)$ beschreibt also die Jacobische der Basiswechsel-Abbildung $$D(\widetilde{x}\circ x^{-1})=\left(\frac{\partial {\widetilde{x}}^{\,i}}{\partial x^{\,j}}\right)=(a^i_j).$$
- Die $n$-dimensionale Sphäre $$S^{n}=\left\{ y\in\mathbb{R}^{n+1}\;\vert\;\|y\|=1\right\}$$ ist eine Mannigfaltigkeit. Karten erhalten wir zum Beispiel durch die sogenannte stereographische Projektion. Dazu wählen wir uns Punkte $N=(1,0,\ldots,0)$ und $S=(-1,0,\ldots,0)$ auf der Sphäre, Nordpol und Südpol. Die komplementären offenen Mengen $U_{N}=S^{n}\setminus S$ und $U_{S}=S^{n}\setminus N$ sind dann die Kartenumgebungen für die lokalen Koordinatensysteme \begin{align}x_{N}:U_{N} &\to \mathbb{R}^{n}\\
(y^{0},y^{1},\ldots,y^{n}) &\mapsto \frac{1}{1+y^{0}}(y^{1},\ldots,y^{n})\end{align} und analog \begin{align} x_{S}:U_{S} &\to \mathbb{R}^{n}\\
(y^{0},y^{1},\ldots,y^{n}) &\mapsto \frac{1}{1-y^{0}}(y^{1},\ldots,y^{n}).\end{align} Dass die so beschriebenen Abbildungen tatsächlich Homöomorphismen sind, erkennt man am einfachsten durch die Angabe der inversen Abbildungen \begin{align}x_{N}^{-1}:\mathbb{R}^{n} &\to U_{N}\\
(x^{1},\ldots,x^{n}) &\mapsto \frac{1}{1+\|x\|^{2}}(1-\|x\|^{2},2x^{1},\ldots,2x^{n}) \end{align} und \begin{align}x_{S}^{-1}:\mathbb{R}^{n} &\to U_{S}\\
(x^{1},\ldots,x^{n}) &\mapsto \frac{1}{1+\|x\|^{2}}(\|x\|^{2}-1,2x^{1},\ldots,2x^{n}).\end{align} Die Kartenwechsel-Abbildungen $x_S\circ x_N^{-1}\colon \mathbb R^n\setminus \{0\}\to \mathbb R^n\setminus \{0\}$ lassen sich einfach beschreiben: $$(x^1,\ldots,x^n)\mapsto\frac1{\|x\|^2}(x^1,\ldots,x^n).$$ - Der $n$-dimensionale reell projektive Raum $\mathbb{R}P^{n}=P^{n}(\mathbb{R})=P(\mathbb{R}^{n+1})$ ist definiert als der Raum der eindimensionalen linearen Unterräume im $\mathbb{R}^{n+1}$. Man konstruiert ihn als Quotientenraum der Sphäre $S^{n}$ modulo der Äquivalenzrelation, die jeden Punkt $y\in S^{n}$ der Sphäre mit seinem Antipoden $-y $ identifiziert oder alternativ als Quotientenraum von $\mathbb{R}^{n+1}\setminus\left\{ 0\right\}$ nach der Äquivalenzrelation, die einen Vektor $v$ mit allen skalaren Vielfachen $\lambda v$ identifiziert mit $\lambda\in\mathbb{R}\setminus\left\{ 0\right\}$. Bezeichnet $$\overline{y}=[y^{0}:y^{1}:\ldots:y^{n}]\in\mathbb{R}P^{n} $$ die Äquivalenzklasse des Punktes $y=(y^{0},\ldots,y^{n})\in\mathbb{R}^{n+1}\setminus\left\{ 0\right\}$ , so erhält man für die offene Menge $U_{\alpha}=\left\{ \overline{y}\;\vert\;y^{\alpha}\not=0\right\}$ eine Karte \begin{align}x_{\alpha}:U_{\alpha} &\to \mathbb{R}^{n}\\
\overline{y} &\mapsto \left(\frac{y^{0}}{y^{\alpha}},\ldots,\hat{\frac{y^{\alpha}}{y^{\alpha}}},\ldots,\frac{y^{n}}{y^{\alpha}}\right).\end{align} Der Zirkumflex deutet hier das Weglassen des entsprechenden Eintrags an. Die Umkehrabbildung wird beschrieben durch \begin{align} y_{\alpha}:\mathbb{R}^{n} &\to U_{\alpha}\\
(x^{1},\ldots,x^{n}) &\mapsto [x^{1}:\ldots:x^{\alpha}:1:x^{\alpha+1}:\ldots:x^{n}].\end{align} Koordinatenfrei lässt sich der zu einem reellen Vektorraum assoziierte projektive Raum $P(V)$ der eindimensionalen linearen Unterräume von $V$ beschreiben als der Quotientenraum von $V\setminus\left\{ 0\right\}$ nach der Äquivalenzrelation, die einen Vektor $v$ mit allen skalaren Vielfachen $\lambda v$ identifiziert. Jede nichttriviale Linearform $l:V\to\mathbb{R}$ induziert eine Kartenabbildung vom offenen Unterraum $U_{l}=\left\{ \bar{v}\;\vert\;l(v)\not=0\right\} \subset P(V)$ auf den affinen Raum $A_{l}=\left\{ v\;\vert\;l(v)=1\right\} \subset V$ vermittels $$x_{l}:\bar{v}\mapsto\frac{v}{l(v)}.$$ Die Umkehrabbildung bildet ein Element $a\in A$ ab auf seine Äquivalenzklasse $\overline{a}\in P(V)$. Um zu zeigen, dass $P(V)$ hausdorffsch ist, nehmen wir zu zwei gegebenen eindimensionalen Unterräumen $G_{1}$ und $G_{2}$ von $V$ eine Linearform $l$, deren Kern keine der beiden Geraden enthält. Die Urbilder unter trennenden Umgebungen der beiden Punkte $x_{l}(G_{1})$ und $x_{l}(G_{2})$ in $A_{l}$ sind dann trennende Umgebungen der von den beiden Geraden definierten Punkte in $P(V)$. Dass der projektive Raum eine abzählbare Basis der Topologie besitzt folgt leicht aus der Tatsache, dass er sich mit endlich vielen Kartenumgebungen überdecken lässt.
Der Raum $\mathcal{C}^{0}(M)=\mathcal{C}^{0}(M;\mathbb{R})$ der stetigen reellwertigen Funktionen auf einer Mannigfaltigkeit ist inhärent durch die Topologie der Mannigfaltigkeit bestimmt. Das Konzept der Ableitung kennen wir bislang nur für Abbildungen zwischen offenen Teilräumen von Vektorräumen. Da Mannigfaltigkeiten lokal so aussehen $wie \mathbb R^n$, liegt es nahe, Differenzierbarkeit von Funktionen auf $M$ vermittels Karten auf die Differenzierbarkeit im $\mathbb R^n$ zurückzuführen. Wir würden gerne eine reellwertige Funktion $f$ auf $M$ als in einem Punkt $m$ differenzierbar bezeichnen, wenn für eine Karte $x:U\to \mathbb{R}^{n}$ die Funktion $f\circ x^{-1}:x(U)\to\mathbb{R}$ im Punkt $x(m)$ differenzierbar ist. Dieser Ansatz macht Sinn, solange wir uns nur mit einer Karte begnügen. Ist $\widetilde{x}:\widetilde{U}\to \mathbb R^n$ eine weitere, in einer Umgebung von $m$ definierte Karte, so kann es passieren, dass die Funktion $f\circ x^{-1}$ zwar in $x(m)$ differenzierbar ist, die Funktion $f\circ\widetilde{x}^{-1}$ jedoch nicht in $\widetilde{x}(m)$. Ausschließen lässt sich dies Phänomen nur, falls die auf geeigneten offenen Teilmengen definierten Abbildungen $x\circ\widetilde{x}^{-1}$ und $\widetilde{x}\circ x^{-1}$ differenzierbar sind.
3.1.2. Definition. Zwei auf offenen Teilen einer Mannigfaltigkeit $M$ definierte Karten $x:U\to \mathbb R^n$ und $\widetilde{x}:\widetilde{U}\to\mathbb R^n$ heißen $\mathcal{C}^{\infty}$-verträglich, wenn die Kartenwechselabbildung $x\circ\widetilde{x}^{-1}$ auf dem Definitionsbereich ein $\mathcal{C}^{\infty}$-Diffeomorphismus ist.
Etwas ausführlicher formuliert wird zur der $\mathcal{C}^{\infty}$-Verträglichkeit der Karten $x$ und $\widetilde{x}$ also verlangt, dass sowohl die Abbildung $$x\circ\widetilde{x}^{-1}:\widetilde{x}(U\cap\widetilde{U})\to x(U\cap\widetilde{U})$$ als auch die Umkehrabbildung $\widetilde{x}\circ x^{-1}$ jeweils unendlich oft stetig differenzierbar sind als Abbildungen zwischen den offenen Teilmengen $x(U\cap\widetilde{U})\subset \mathbb R^n$ und $\widetilde{x}(U\cap\widetilde{U})\subset\mathbb{R}^{n}$.
3.1.3. Definition. Eine Familie $\mathcal{A}=\left\{ x_{\alpha}:U_{\alpha}\to \mathbb R^n\right\}$ von Karten heisst ein Atlas von $M$, falls die Definitionsbereiche $U_{\alpha}$ die Mannigfaltigkeit überdecken. Besteht ein Atlas aus paarweise $\mathcal{C}^{\infty}$-verträglichen Karten, so nennt man diesen einen $\mathcal{C}^{\infty}$-Atlas.
Fügt man zu einem gegebenen $\mathcal{C}^{\infty}$-Atlas weitere Karten hinzu, die mit den vorgegebenen jeweils $\mathcal{C}^{\infty}$-verträglich sind, so erhält man wieder einen $\mathcal{C}^{\infty}$-Atlas. Durch Hinzunahme aller verträglichen Karten erhält man einen maximalen $\mathcal{C}^{\infty}$-Atlas. Einen solchen nennt man eine differenzierbare oder auch glatte Struktur. Eine $\mathcal{C}^{\infty}$-Mannigfaltigkeit, oder auch glatte Mannigfaltigkeit, besteht aus einer Mannigfaltigkeit, zusammen mit einem maximalen $\mathcal{C}^{\infty}$-Atlas.
3.1.4. Beispiele. Die Kartenwechselabbildung $x_{N}\circ x_{S}^{-1}:\mathbb{R}^{n}\setminus\left\{ 0\right\} \to\mathbb{R}^{n}\setminus\left\{ 0\right\}$ der stereographischen Karten einer Sphäre ist glatt; explizit ist sie gegeben durch die Formel $x\mapsto\frac{x}{\|x\|^{2}}$. Im Falle des projektiven Raumes $\mathbb{R}P^{n}$ sind die Kartenwechselabbildungen $x_{\alpha}\circ x_{\beta}^{-1}$ für die Standardkarten von der Form $\left(x^{1},\ldots,x^{n}\right)\mapsto\frac{1}{x^{\beta}}\left(x^{1},\ldots,x^{\alpha},1,\ldots,\hat{x^{\beta}},\ldots,x^{n}\right)$ und im Definitionsbereich $x^{\beta}\not=0$ glatt.
3.1.5. Definition. Eine Abbildung $f:M\to N$ zwischen zwei differenzierbaren Mannigfaltigkeiten mit Atlanten $\mathcal{A}$ und $\mathcal{B}$ heißt glatt, wenn die Abbildungen $y\circ f\circ x^{-1}$ für Karten $x\in\mathcal{A}$ und $y\in\mathcal{B}$ auf den jeweiligen Definitionsbereichen als Abbildungen zwischen offenen Teilen von reellen Vektorräumen glatt sind. Eine solche glatte Abbildung heißt Diffeomorphismus, falls sie bijektiv ist und die Umkehrabbildung ebenfalls glatt ist.
3.1.6. Beispiel. Wir betrachten die zwei glatten Mannigfaltigkeiten $M=(\mathbb{R},\tau)$ und $\mathbb{R}=(\mathbb{R},id)$, bei denen die zugrundeliegende topologische Mannigfaltigkeit jeweils ein eindimensionaler Vektorraum ist und der Atlas im einen Fall aus der identischen Abbildung besteht und im anderen Fall aus dem Homöomorphismus $\tau:t\mapsto t^{2019}$. Die identische Abbildung $ f=id:\mathbb{R}\to\mathbb{R}$ ist, betrachtet als Abbildung $M\to\mathbb{R}$, nicht differenzierbar, da die zu betrachtende Komposition mit den Karten $y\circ f\circ x^{-1}=\tau^{-1}:\mathbb{R}\to\mathbb{R}$ nicht überall differenzierbar ist. Als Abbildung $\mathbb{R}\to M$ ist sie differenzierbar. Die Abbildung $g=\tau:\mathbb{R}\to\mathbb{R}$, betrachtet als Abbildung $M\to\mathbb{R}$, ist dagegen ein Diffeomorphismus, weil die zu betrachtende Komposition mit den Karten $y\circ g\circ x^{-1}=id\circ\tau\circ\tau^{-1}=id$ ein Diffeomorphismus ist.
3.1.7. Inoffizielle Mitteilung. Damit Sie differenzierbare Strukturen auf Mannigfaltigkeiten etwas einordnen können, will ich Ihnen an dieser Stelle kurz einige Phänomene schildern. Diese zu beweisen erfordert Methoden, die zum Teil weit über das hinausgehen, was in einer Vorlesung behandelt werden kann. Eine topologische Mannigfaltigkeit der Dimension 1, 2 oder 3 kann immer mit einer differenzierbaren Struktur versehen werden. Diese ist im Wesentlichen eindeutig, d.h. sind zwei differenzierbare Strukturen auf einer solchen topologischen Mannigfaltigkeiten gegeben, so gibt es immer einen Diffeomorphismus zwischen den resultierenden glatten Mannigfaltigkeiten. Ab der Dimension 4 wird die Situation interessant: Nicht jede topologische Mannigfaltigkeit kann mit einer differenzierbaren Struktur versehen werden. Andererseits kann eine gegebene topologische Mannigfaltigkeit durchaus auch mehrere wesentlich verschiedene glatte Strukturen tragen. Zum Beispiel trägt die Sphäre $S^{7}$ als topologische Mannigfaltigkeit genau $28$ paarweise nicht diffeomorphe differenzierbare Strukturen. Die kritische Dimension $4$, in dem dieser seltsame Phasenübergang stattfindet, ist dabei besonders mysteriös. So gibt es auf dem $\mathbb{R}^{n}$ in allen Dimensionen $n$ eine im Wesentlichen eindeutige differenzierbare Struktur außer in der Dimension $4$. Auf $\mathbb{R}^{4}$ existieren überabzählbar viele paarweise nicht diffeomorphe glatte Strukturen.
Für eine differenzierbare Mannigfaltigkeit $(M,\mathcal{A})$ betrachten wir die Kartenwechselabbildung $\psi_{\beta\alpha}=x_{\beta}\circ x_{\alpha}^{-1}$ für zwei Karten im Atlas $\mathcal{A}$. Die Ableitung dieses Diffeomorphismus (die Jacobische) ist eine differenzierbare Abbildung $$D\psi_{\beta\alpha}:x_{\alpha}(U_{\alpha}\cap U_{\beta})\to Gl(n,\mathbb{R})$$ vom Definitionsgebiet der Kartenwechselabbildung in die Gruppe der invertierbaren Matrizen. Nach Anwenden der Determinante erhalten wir eine im Definitionsbereich nirgends verschwindende reellwertige Funktion $\det (D\psi_{\beta\alpha}):x_{\alpha}(U_{\alpha}\cap U_{\beta})\to\mathbb{R}\setminus\left\{ 0\right\}$ .Der Kartenwechsel $\psi_{\beta\alpha}$ heißt orientierungserhaltend, falls diese reellwertige Funktion nur positive Werte annimmt.
3.1.8. Definition. Eine Mannigfaltigkeit M heißt orientierbar, falls es einen Atlas $\mathcal{A}^{or}$ von mit $\mathcal{A}$ jeweils $\mathcal{C}^{\infty}$-verträglichen Karten gibt, in dem jeder Kartenwechsel orientierungserhaltend ist.
3.1.9. Beispiel. Sphären sind orientierbar. Dazu betrachten wir statt der stereographischen Karten $\{x_{N}, x_{S}\}$ die Karten $\{x_{N},\sigma\circ x_{S}\}$, wo $\sigma$ die Koordinate $x^1$ durch $-x^1$ ersetzt.