Es sei $M$ eine glatte Mannigfaltigkeit und $m\in M$ ein Punkt. Wir betrachten Tripel $(U,x,v)$, wo $U\subset M$ eine offene Umgebung von $m$ ist, $x\colon U\to \mathbb R^n$ eine Karte und $v\in \mathbb R^n$ ein Vektor. Ein zweites solches Tripel $(\widetilde{U},\widetilde{x},\widetilde{v})$ wird als äquivalent zu $(U,x,v)$ bezeichnet, wenn die Ableitung der Kartenwechsel-Abbildung $\widetilde{x}\circ x^{-1}$ an der Stelle $x(m)$ den Vektor $v$ in den Vektor $\widetilde{v}$ überführt, das heißt es gilt $$D(\widetilde{x}\circ x^{-1})(x(m)) v=\widetilde{v}.$$ Dass es sich hierbei um eine Äquivalenzrelation handelt, folgt aus der Kettenregel für Ableitungen: Reflexivität benutzt $D(x\circ x^{-1})(x(m))=\mathrm{id}_{\mathbb R^n}$, Symmetrie benutzt $$D(x\circ \widetilde{x}^{-1})\left(\widetilde{x}(m)\right)\cdot D(\widetilde{x}\circ x^{-1})(x(m)) v=v,$$ Transitivität benutzt für eine dritte Karte $$D(\widehat{x}\circ \widetilde{x}^{-1})\left(\widetilde{x}(m)\right)\cdot D(\widetilde{x}\circ x^{-1})(x(m))v=D(\widehat{x}\circ x^{-1})\left(m\right)v.$$
3.3.1. Definition. Die Äquivalenzklasse eines solchen Tripels wird Tangentialvektor von $M$ im Punkt $m$ genannt. Die Menge der Tangentialvektoren bildet den Tangentialraum $T_mM$ von $M$ im Punkte $m$.
Jede Karte $x$ liefert eine Bijektion $$T_mx\colon T_mM\to \mathbb R^n,\quad T_mx\colon \overline{(U,x,v)}\mapsto v.$$ Sind die Tangentialvektoren $\overline{v},\overline{w}\in T_mM$ in der Karte $x$ durch die Vektoren $v,w\in \mathbb R^n$ repräsentiert, und durch die Vektoren $\widetilde{v},\widetilde{w}$ in der Karte $\widetilde{x}$, so werden sie durch die lineare Abbildung $D(\widetilde{x}\circ x^{-1})(x(m))$ ineinander abgebildet. Wegen der Linearität dieser Abbildung repräsentiert die Linearkombination $\lambda v+\mu w$ denselben Tangentialvektor in der Karte $\widetilde{x}$, wie die Linearkombination $\lambda \widetilde{v}+\mu \widetilde{w}$. Insbesondere gilt $\lambda\overline{v}+\mu\overline{w}=\overline {\lambda v+\lambda w}$. Folglich ist $T_mM$ ein reeller Vektorraum und $T_mx\colon T_mM\to \mathbb R^n$ ein linearer Isomorphismus.
3.3.2. Definition. Es sei $f\colon M\to N$ eine glatte Abbildung zwischen $\mathcal C^\infty$-Mannigfaltigkeiten. Für $m\in M$ wird die Tangentialabbildung $$T_mf\colon T_mM\to T_{f(m)}N$$ als die eindeutig bestimmte lineare Abbildung mit folgender Eigenschaft definiert: Ist $(U,x)$ eine Karte um $m$ und $(V,y)$ eine Karte um $f(m)$ mit $f(U)\subset V$, und ist $\overline{v}\in T_mM$ in der Karte $x$ repräsentiert durch $v\in \mathbb R^n$, so ist $T_mf(\overline{v})$ in der Karte $y$ repräsentiert durch $$D(y\circ f\circ x^{-1})(x(m))v.$$ Ist $N=\mathbb R$, so wird gelegentlich statt $T_mf$ auch $df_m$ geschrieben.
3.3.3. Bemerkung. Sind $f\colon M\to N$ und $g\colon N\to N'$ jeweils glatte Abbildungen, so bekommt die Kettenregel in dieser Notation die Form $$T_m\left(g\circ f\right)=\left(T_{f(m)}g\right)\circ\left(T_mf\right).$$
Die Tangentialräume aller Punkte $m$ in einer glatten Mannigfaltigkeit $M$ lassen sich zu einer neuen Mannigfaltigkeit $TM$, dem Tangentialbündel von $M$, zusammenfügen. Wir gehen aus von einem $\mathcal{C}^{\infty}$-Atlas $\mathcal{A}$ und konstruieren $TM$ mit Hilfe dieses Atlasses. Es bezeichne $X$ die disjunkte Vereinigung \[
X=\coprod_{\alpha\in\mathcal{A}}\left(U_{\alpha}\times\mathbb{R}^{n}\right),
\] wo $(U_{\alpha},x_\alpha)$ eine Karte im Atlas bezeichnet. Elemente $\left(m,v\right)\in U_{\alpha}\times\mathbb{R}^{n}$ und $\left(m',v'\right)\in U_{\beta}\times\mathbb{R}^{n}$ heißen äquivalent, wenn gilt $m=m'\in M$ und außerdem \[
v'=D_{x_{\alpha}\left(m\right)}\left(x_{\beta}\circ x_{\alpha}^{-1}\right)\left(v\right).
\] Wir wiederholen die obige Argumentation, dass es sich hier tatsächlich um eine Äquivalenzrelation handelt:
- Die Ableitung der identischen Abbildung $id_{x_\alpha(U_\alpha)}=x_{\alpha}\circ x_{\alpha}^{-1}$ ist die identische lineare Abbildung $id_{\mathbb{R}^{n}}$. Daraus folgt die Reflexivität $\left(m,v\right)\sim\left(m,v\right)$.
- Die Kettenregel \begin{eqnarray*}
D_{x_{\alpha}\left(m\right)}\left(x_{\gamma}\circ x_{\alpha}^{-1}\right) & = & D_{x_{\alpha}\left(m\right)}\left(x_{\gamma}\circ x_{\beta}^{-1}\circ x_{\beta}\circ x_{\alpha}^{-1}\right)\\
& = & D_{x_{\beta}\left(m\right)}\left(x_{\gamma}\circ x_{\beta}^{-1}\right)D_{x_{\alpha}\left(m\right)}\left(x_{\beta}\circ x_{\alpha}^{-1}\right)
\end{eqnarray*} liefert die Transitivität. - Ebenfalls mit Hilfe der Kettenregel folgt aus der Relation $\left(m,v\right)\sim\left(m',v'\right)$ die Gleichung \begin{eqnarray*}
v & = & D_{x_{\beta}\left(m\right)}\left(x_{\alpha}\circ x_{\beta}^{-1}\right)\left(D_{x_{\alpha}\left(m\right)}\left(x_{\beta}\circ x_{\alpha}^{-1}\right)\left(v\right)\right)\\
& = & D_{x_{\beta}\left(m\right)}\left(x_{\alpha}\circ x_{\beta}^{-1}\right)\left(v'\right)
\end{eqnarray*} und damit die symmetrische Relation $\left(m',v'\right)\sim\left(m,v\right)$.
Auf der Menge $TM$ der Äquivalenzklassen soll die Struktur einer Mannigfaltigkeit definiert werden. Die Topologie auf $TM$ ist die Quotienten-Topologie bezüglich der durch die Äquivalenzrelation definierten surjektiven Abbildung \[
q:X\to TM.
\] Eine Teilmenge $W\subset TM$ ist nach Definition dieser Topologie genau dann offen, wenn das Urbild $q^{-1}\left(W\right)\subset X$ offen ist. Damit ist die Abbildung $q$ stetig. Sie hat darüber hinaus noch eine besondere Eigenschaft:
3.3.4. Lemma. Die Abbildung $q$ ist offen. Das heißt, ist $G\subset X$ offen, so ist auch $q\left(G\right)$ offen.
Beweis. Wir müssen zeigen, dass $q^{-1}\left(q\left(G\right)\right)$ offen ist. Es bezeichne $G_\alpha=G\cap \left( U_{\alpha}\times\mathbb{R}^{n}\right)$ für $\alpha\in\mathcal{A}$. Für $\beta\in\mathcal{A}$ ist die Abbildung \begin{eqnarray*}
id\times D\left(x_{\beta}\circ x_{\alpha}^{-1}\right):\left(U_{\alpha}\cap U_{\beta}\right)\times\mathbb{R}^{n} & \to & \left(U_{\alpha}\cap U_{\beta}\right)\times\mathbb{R}^{n}\\
\left(m,w\right) & \mapsto & \left(m,D_{x_{\alpha}\left(m\right)}\left(x_{\beta}\circ x_{\alpha}^{-1}\right)\left(w\right)\right).
\end{eqnarray*} ein Diffeomorphismus und insbesondere ein Homöomorphismus. Somit ist der Durchschnitt \[
q^{-1}\left(q\left(G_{\alpha}\right)\right)\cap U_{\beta}\times\mathbb{R}^{n}=\left(id\times D\left(x_{\beta}\circ x_{\alpha}^{-1}\right)\right)\left(G_{\alpha}\cap\left(U_{\alpha}\cap U_{\beta}\right)\times\mathbb{R}^{n}\right)
\] offen und folglich auch
\[
q^{-1}\left(q\left(G_{\alpha}\right)\right)=\bigcup_{\beta\in\mathcal{A}}q^{-1}\left(q\left(G_{\alpha}\right)\right)\cap U_{\beta}\times\mathbb{R}^{n}.
\] Für allgemeine offene Mengen $G\subset X$ ist daher \[
q^{-1}\left(q\left(G\right)\right)=q^{-1}\left(q\left(\bigcup_{\alpha\in\mathcal{A}}G_{\alpha}\right)\right)=\bigcup_{\alpha\in\mathcal{A}}q^{-1}\left(q\left(G_{\alpha}\right)\right)
\] offen.
qed
3.3.5. Satz. Der topologische Raum $TM$ ist eine glatte Mannigfaltigkeit. Die Projektionen
\[
U_{\alpha}\times\mathbb{R}^{n}\to U_{\alpha}
\] auf den ersten Faktor induzieren eine glatte Abbildung $\pi:TM\to M$. Für $\alpha\in\mathcal{A}$ beschreibt die Einschränkung von $q$ auf die offene Menge $U_\alpha\times \mathbb R^n\subset X$ einen Homöomorphismus auf die offene Teilmenge $\pi^{-1}(U_\alpha)$ von $TM$. Die Abbildung $$\left(x_{\alpha}\times id_{\mathbb{R}^{n}}\right)\circ q^{-1}:\pi^{-1}(U_\alpha)\to \mathbb R^n\times\mathbb{R}^{n}\subset\mathbb{R}^{2n}$$ ist eine Karte. Zusammengenommen, bilden diese Abbildungen einen differenzierbaren Atlas mit Kartenwechselabbildungen \begin{eqnarray*}
x_{\alpha}\left(U_{\alpha}\cap U_{\beta}\right)\times\mathbb{R}^{n} & \to & x_{\beta}\left(U_{\alpha}\cap U_{\beta}\right)\times\mathbb{R}^{n}\\
\left(x_{\alpha}\left(m\right),v\right) & \mapsto & \left(x_{\beta}\left(m\right),D_{x_{\alpha}\left(m\right)}\left(x_{\beta}\circ x_{\alpha}^{-1}\right)\left(v\right)\right).
\end{eqnarray*}
Beweis. Bezeichnet $i:U_{\alpha}\times\mathbb{R}^{n}\hookrightarrow X$ die Inklusion, so ist $q\circ i$ injektiv. Nach dem obigen Lemma ist das Bild offen in $TM$. Identifizieren wir $U_{\alpha}\times\mathbb{R}^{n}$ mit seinem Bild als offene Teilmenge von $TM$, so wird der Homöomorphismus $x_{\alpha}\times id_{\mathbb{R}^{n}}$ zu einer Karte. Der Kartenwechsel ist glatt, da die Abbildungen $x_{\beta}\circ x_{\alpha}^{-1}$ und $D\left(x_{\beta}\circ x_{\alpha}^{-1}\right)$ beide glatt sind. Die Stetigkeit der Abbildung $\pi$ folgt aus der universellen Eigenschaft der Quotiententopologie (siehe 3.3.6.). Da Projektionen auf Faktoren glatte Abbildungen sind, folgt auch die Glattheit von $\pi$.
Zum Prüfen der Hausdorff-Eigenschaft seien $\left(m,v\right)$ und $\left(m',v'\right)$ zwei verschiedene Punkte in $TM$. Gilt $m\not=m'$, so gibt es trennende Umgebungen in $M$. Die Urbilder unter $\pi$ sind trennende Umgebungen in $TM$. Ansonsten liegt $m=m'$ in einer geeigneten Kartenumgebung $U_{\alpha}$. Wir können also annehmen, dass beide Punkte in der Hausdorffschen offenen Teilmenge $U_{\alpha}\times\mathbb{R}^{n}\subset TM$ liegen.
Eine abzählbare Basis der Topologie von $M$ kann so gewählt werden, dass die offenen Mengen in dieser Basis jeweils in einer Kartenumgebung liegen. Jede der Teilmengen $U_{\alpha}\times\mathbb{R}^{n}$ besitzt wiederum eine abzählbare Basis der Topologie.
qed
Zur Erinnerung: Es sei $X$ ein topologischer Raum und $q\colon X\to Y$ eine Abbildung. Eine Teilmenge $V\subset Y$ ist nach Definition genau dann offen in der Quotienten-Topologie, wenn $q^{-1}(V)$ offen in $X$ ist.
3.3.6. Universelle Eigenschaft der Quotienten-Topologie. Der topologische Raum $Y$ trage die Quotienten-Topologie bezüglich der Abbildung $q\colon X\to Y$. Eine Abbildung $f\colon Y\to Z$ ist genau dann stetig, wenn die Komposition $f\circ q\colon X\to Z$ stetig ist.
Beweis. Die Abbildung $q$ ist nach Konstruktion der Topologie auf $Y$ stetig. Ist $f$ stetig, ist auch $f\circ q$ als Komposition stetiger Abbildungen stetig. Ist umgekehrt $f\circ q$ stetig, so gilt für jede offene Teilmenge $W\subset Z$, dass $(f\circ q)^{-1}(W)=q^{-1}\left(f^{-1}(W)\right)\subset X$ offen ist. Nach Konstruktion der Quotienten-Topologie ist dann auch $f^{-1}(W)\subset Y$ offen.
qed