1.4. Kettenkomplexe

Es sei $R$ ein kommutativer Ring mit Eins.

1.4.1. Definition. Ein $R$-Kettenkomplex $(C_*,\gamma_*)$ besteht aus einer Familie $C_n, n\in\mathbb Z$ von $R$-Moduln, sowie einer Familie von $R$-Modulhomomorphismen $\gamma_n\colon C_n\to C_{n-1}$, so dass für alle $n\in \mathbb Z$ gilt $\gamma_{n-1}\circ \gamma_n=0$. Man nenne $\gamma_n$ das $n$-te Differential in $(C_*,\gamma_*)$. Eine Kettenabbildung $$\phi_*\colon (C_*,\gamma_*)\to (D_*,\delta_*),$$ oder kurz $\phi_*\colon C_*\to D_*$, besteht aus einer Familie $\phi_n\colon C_n\to D_n$ von $R$-Modul-Homomorphismen mit der Eigenschaft, dass $\phi_{n-1}\circ\gamma_n=\delta_n\circ\phi_n$ für alle $n\in \mathbb Z$ gilt.

1.4.2. Definition. Die $n$-te Homologie eines Kettenkomplexes $(C_*,\gamma_*)$ ist der $R$-Modul $$H_n(C_*,\gamma_*):=\frac{\ker\gamma_n}{\mathrm{im}\,\gamma_{n+1}}.$$ Elemente von $\ker\gamma_n\subset C_n$ heißen Zykel, Elemente von $\mathrm{im}\,\gamma_{n+1}\subset C_n$ heißen Ränder. Zwei Zykel heißen homolog, wenn ihre Differenz ein Rand ist, sie also das gleiche Element in $H_n(C_*,\gamma_*)$ repräsentieren.

1.4.3. Bemerkung. Eine Kettenabbildung $\phi_*\colon C_*\to D_*$ induziert eine Abbildung $$H_n(\phi_*)\colon H_n(C_*)\to H_n(D_*),\quad [c]\mapsto [\phi_n(c)]$$ der Homologien, da $\phi_n(\ker\gamma_n)\subset \ker\delta_n$ und $\phi_{n}({\mathrm{im}\,\gamma_{n+1}})\subset {\mathrm{im}\,\delta_{n+1}}$ aus den Gleichungen $\phi_{*-1}\circ\gamma_{*}= \delta_*\circ\phi_*$ für $*\in \{n,n+1\}$ folgt. Insgesamt bildet die Homologie also einen Funktor von der Kategorie der Kettenkomplexe von $R$-Moduln in die Kategorie der graduierten $R$-Moduln.

1.4.4. Definition. Zwei Kettenabbildungen $\phi,\psi\colon (C_*,\gamma_*)\to (D_*,\delta_*)$ heißen homotop, wenn es eine Kettenhomotopie, das heißt eine Familie $\chi_n\colon C_n\to D_{n+1}$ von $R$-Modul-Homomorphismen gibt mit $$\chi_{n-1}\circ\gamma_n+\delta_{n+1}\circ \chi_{n}=\phi_n-\psi_n,$$

1.4.5. Bemerkungen.

  • Homotope Kettenabbildungen induzieren die gleiche Abbildung in Homologie $H_n(\phi_*)=H_n(\psi_*)$, denn für $c\in \ker\gamma_n$ sind die Bilder $\phi(c)$ und $\psi(c)$ homolog $\phi_n(c)-\psi_n(c)=\delta_{n+1}(\chi_n(c))$.
  • Kettenhomotopie beschreibt eine Äquivalenzrelation: Die Null-Abbildung liefert eine Homotopie $\phi\sim\phi$. Sind $\phi$ und $\psi$ homotop vermittels $\chi$, so sind $\psi$ und $\phi$ homotop vermittels $-\chi$. Sind $\phi$ und $\psi$ homotop vermittels $\chi$, sowie $\psi$ und $\rho$ vermittels $\lambda$, so beschreibt $\chi+\lambda$ eine Kettenhomotopie zwischen $\phi$ und $\rho$.

1.4.6. Schlangenlemma. Es sei ein kommutatives Diagramm in $R$-$MOD$ der Form
\begin{array}{ccccccccc}
& & A & \stackrel{\phi}{\longrightarrow} & B & \stackrel{\psi}{\longrightarrow} & C & \rightarrow & 0\\
& & \sideset{}{\alpha}\downarrow & & \sideset{}{\beta}\downarrow & & \sideset{}{\gamma}\downarrow\\
0 & \rightarrow & A' & \stackrel{\phi'}{\longrightarrow} & B' & \stackrel{\psi'}{\longrightarrow} & C'
\end{array}
mit exakten Reihen gegeben. Dann induzieren die Abbildungen in diesem Diagramm eine exakte Sequenz $$
\ker\left(\alpha\right)\to\ker\left(\beta\right)\to\ker\left(\gamma\right)\stackrel{d}{\to}\mathrm{{coker}}\left(\alpha\right)\to\mathrm{{coker}}\left(\beta\right)\to\mathrm{{coker}}\left(\gamma\right).
$$ Für ein Element $c=\psi(b)\in\ker\gamma$ ist das Bild $d( c)= [a']\in \mathrm{coker}\,\alpha$ mit $a'\in A'$ bestimmt durch die Gleichung $\phi'(a')=\beta(b)$. Weiterhin gilt:

  • Ist $\phi$ injektiv, so auch die Abbildung $\ker\left(\alpha\right)\to\ker\left(\beta\right)$,
  • und ist $\psi'$ surjektiv, so auch die Abbildung $\mathrm{{coker}}\left(\beta\right)\to\mathrm{{coker}}\left(\gamma\right).$

Beweis. Dies ist eine klassische Übung in der Diagrammjagd.
qed

1.4.7. Definition. Eine Sequenz $0\to A_*\xrightarrow{\phi_*}B_*\xrightarrow{\psi_*}C_*\to 0$ von $R$-Kettenkomplexen heißt kurz exakt, wenn für jedes $n\in \mathbb Z$ die Sequenz von $R$-Moduln $0\to A_n\xrightarrow{\phi_n}B_*\xrightarrow{\psi_n}C_n\to 0$ kurz exakt ist.

1.4.8. Satz. Eine kurze exakte Sequenz $0\to A_*\xrightarrow{\phi_*}B_*\xrightarrow{\psi_*}C_*\to 0$ von $R$-Kettenkomplexen induziert eine lange exakte Homologiesequenz $$\cdots
H_{n+1}(A_*)\xrightarrow{H_{n+1}(\phi_*)}H_{n+1}(B_*)\xrightarrow{H_{n+1}(\psi_*)} H_{n+1}(C_*)\xrightarrow{\partial_{n+1}} H_n(A_*)\xrightarrow{H_n(\phi_*)}H_n(B_*)\xrightarrow{H_n(\psi_*)}H_n(C_*)\cdots. $$

Beweis. Wenden wir in dem kommutierenden Diagramm
\begin{matrix}
0&\to& A_{n+2}&\xrightarrow{\phi_{n+2}}&B_{n+2}&\xrightarrow{\psi_{n+2}}&C_{n+2}&\to& 0
\\
&&\scriptstyle{\alpha_{n+2}}\downarrow\phantom{\scriptstyle{\alpha_{n+2}}}&
&\scriptstyle{\beta_{n+2}}\downarrow\phantom{\scriptstyle{\beta_{n+2}}}&
&\scriptstyle{\gamma_{n+2}}\downarrow\phantom{\scriptstyle{\gamma_{n+2}}}&&
\\
0&\to& A_{n+1}&\xrightarrow{\phi_{n+1}}&B_{n+1}&\xrightarrow{\psi_{n+1}}&C_{n+1}&\to& 0
\\
&&\scriptstyle{\alpha_{n+1}}\downarrow\phantom{\scriptstyle{\alpha_{n+1}}}&
&\scriptstyle{\beta_{n+1}}\downarrow\phantom{\scriptstyle{\beta_{n+1}}}&
&\scriptstyle{\gamma_{n+1}}\downarrow\phantom{\scriptstyle{\gamma_{n+1}}}&&
\\
0&\to& A_{n}&\xrightarrow{\phi_{n}}&B_{n}&\xrightarrow{\psi_{n}}&C_{n}&\to& 0
\\
&&\scriptstyle{\alpha_{n}}\downarrow\phantom{\scriptstyle{\alpha_{n}}}&
&\scriptstyle{\beta_{n}}\downarrow\phantom{\scriptstyle{\beta_{n}}}&
&\scriptstyle{\gamma_{n}}\downarrow\phantom{\scriptstyle{\gamma_{n}}}&&
\\
0&\to& A_{n-1}&\xrightarrow{\phi_{n-1}}&B_{n-1}&\xrightarrow{\psi_{n-1}}&C_{n-1}&\to& 0
\end{matrix} das Schlangenlemma auf die oberen beiden Reihen an, so erhalten wir als exakte Reihe von Kokernen die obere Reihe in unserem zweiten kommutierenden Diagramm\begin{matrix}
&&A_{n+1}/\mathrm{im}\,\alpha_{n+2} &\xrightarrow{\overline{\phi_{n+1}}}
& B_{n+1}/\mathrm{im}\,\beta_{n+2} &\xrightarrow{\overline{\psi_{n+1}}}
&C_{n+1}/\mathrm{im}\,\gamma_{n+2}& \to & 0.
\\
&&\scriptstyle{\overline{\alpha_{n+1}}}\downarrow\phantom{\scriptstyle{\alpha_{n}}}&
&\scriptstyle{\overline{\beta_{n+1}}}\downarrow\phantom{\scriptstyle{\beta_{n}}}&
&\scriptstyle{\overline{\gamma_{n+1}}}\downarrow\phantom{\scriptstyle{\gamma_{n}}}&&
\\
0 &\to&\ker\alpha_{n} &\xrightarrow[\overline{\phi_{n}}]{}
& \ker\beta_{n} &\xrightarrow[\overline{\psi_{n}}]{}
&\ker\gamma_{n}.& &
\end{matrix} Die untere exakte Sequenz von Kernen erhalten wir durch Anwendung des Schlangenlemmas auf die unteren beiden Reihen im Ausgangsdiagramm. Die verbindenden Morphismen zwischen der zweiten und dritten Reihe des ersten Diagramms induzieren die Morphismen zwischen den beiden Reihen des zweiten Diagramms. Die behauptete lange exakte Sequenz folgt unmittelbar aus dem zweiten Diagramm durch eine weitere Anwendung des Schlangenlemmas.
qed

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