Kurvenkeime und Funktionskeime lassen sich zu Funktionskeimen auf der reellen Achse komponieren \[\mathcal A^M_{(m)}\times \mathcal {Cur}_{M,(m)}\to \mathcal A^{\mathbb R}_{(0)}, \quad \left(\bar{f},\bar{c}\right)\mapsto \bar{f}\circ\bar{c}.\] Die Ableitung definiert eine \(\mathbb R\)-lineare Abbildung \[\tfrac{d}{dt}\colon \mathcal A^{\mathbb R}_{(0)}\to \mathcal A^{\mathbb R}_{(0)}.\] Eingeschränkt auf das maximale Ideal \(\mathcal I^{\mathbb R}_{(0)} \) ist \(\tfrac{d}{dt}\colon \mathcal I^{\mathbb R}_{(0)}\to \mathcal A^{\mathbb R}_{(0)}\) tatsächlich bijektiv mit Inversem \(\bar{f}\mapsto \int_0^tf(s)\,ds\). Die Richtungsableitung von Funktionen im Punkte \(m\) in Kurvenrichtung bekommen wir aus diesen Konstruktionen durch Auswertung an der Null. \[\begin{aligned} \mathcal A^M_{(m)}\times \mathcal {Cur}_{M,(m)}&\to \mathbb R\\
\left(\bar{f},\bar{c}\right)&\mapsto \partial_c(f):=df(c):=\mathrm{ev}_0\left(\tfrac{d}{dt}\left(\bar{f}\circ\bar{c}\right)\right)=\left(f\circ c\right)'(0).\end{aligned}\]
3.1.1. Definition. Zwei Kurvenkeime \(\bar{c}_0, \bar{c}_1\in \mathcal {Cur}_{M,(m)}\) heißen tangential äquivalent, wenn gilt \[
\partial_{c_0}=\partial_{c_1}\colon \mathcal A^M_{(m)}\to \mathbb R.\] Zwei Funktionskeime \(\bar{f}_0, \bar{f}_1\in \mathcal A^M_{(m)}\) heißen kotangential äquivalent, wenn gilt \[df_0=df_1\colon \mathcal{Cur}_{M,(m)}\to \mathbb R.\] Die Menge der Äquivalenzklassen von tangential äquivalenten Kurvenkeimen wird der Tangentialraum \(T_mM\) von \(M\) im Punkt \(m\) genannt, die Menge \(T^\vee_mM\) der Äquivalenzklassen kotangential äquivalenter Funktionskeime heißt Kotangentialraum .
3.1.2. Bemerkungen.
- Für jeden Kurvenkeim \(\bar{c}\) ist die Richtungsableitung \(\partial_c\) eine Linearform auf dem reellen Vektorraum \(\mathcal A^M_{(m)}\) und nach Definition ist der Kotangentialraum als Quotientenraum \[T^\vee_mM= \mathcal A^M_{(m)}\big{/}\bigcap_{\bar{c}\in \mathcal{Cur}_{M,(m)}}\ker \partial_c\] ein reeller Vektorraum. Elemente des Tangentialraums sind eindeutig durch die Linearform \(\partial_c\in \mathrm{Hom}_\mathbb R\left(T^\vee_mM,\mathbb R\right)=\left(T^\vee_mM\right)^\vee\) beschrieben. Wir erhalten somit eine injektive Abbildung des Tangentialraums \(T_mM\) in den Dualraum \(\left(T^\vee_mM\right)^\vee\) des Kotangentialraums.
- Die Konstruktion von Tangential- und Kotangentialraum ist funktoriell: Ist \(N\) eine Mannigfaltigkeit, so induziert ein glatter Abbildungskeim \(\bar{\phi}\colon M_{(m)}\to N_{(n)}\) Abbildungen \[\begin{aligned}\phi_*\colon \mathcal{Cur}_{M,(m)}&\to \mathcal{Cur}_{N,(n)}&\quad \bar{c}\mapsto \bar{\phi}\circ\bar{c}\\ \phi^*\colon \mathcal A^N_{(n)}&\to \mathcal A^M_{(m)}&\quad \bar{f}\mapsto \bar{f}\circ\bar{\phi}\end{aligned}\] und es gilt \[df\left(\phi_*c\right)=\left(\phi^*df\right)(c)=\left(f\circ \phi\circ c\right)'(0).\] Aus dieser letzten Gleichung folgt, dass die beiden Abbildungen \(\phi_*\) und \(\phi^*\) Äquivalenzklassen respektieren, d.h. sie beschreiben tatsächlich Abbildungen \[\phi_*\colon T_mM\to T_nN\quad \text{ und } \phi^*\colon T^\vee_nN\to T^\vee_mM.\]
- Diese Konstruktionen benutzten bislang nur die Tatsache, dass wir es mit differenzierbaren Abbildungen zu tun haben. Die Mannigfaltigkeitsstruktur wurde nicht benutzt. Insbesondere haben wir nirgends Karten oder lokale Parametrisierungen benutzt. Diese brauchen wir, um die Struktur der Tangential- und Kotangentialräume zu identifizieren.
3.1.3. Lemma. Zu jedem glatten Funktionskeim \(\bar{f}\in \mathbb A^{\mathbb R^n}_{(0)}\) gibt es \(\bar{f}_{1}, \ldots,\bar{f}_{n} \in \mathbb A^{\mathbb R^n}_{(0)}\) mit \[\bar{f}=f(0)+\sum_{i=1}^{n}\bar{x}^{i}\cdot \bar{f}_{i},\] wobei \(x^{i}:U\to\mathbb{R}\) die \(i\)-te Koordinatenfunktion bezeichnet.
Beweis. Wir können annehmen, dass \(\bar{f}\) durch eine auf einer sternförmigen Umgebung \(U\) der Null, d.h. mit \(u\in U\) gilt auch \(tu\in U\) für alle \(t\in [0,1]\), definierten Funktion \(f\) repräsentiert wird. Wegen \[f\left(u\right)=
f\left(0\right)+\int_{0}^{1}\frac{d}{dt}f\left(tu\right)dt=
f\left(0\right)+\int_{0}^{1}\sum_{i=1}^{n}x^{i}\frac{\partial f}{\partial x^{i}}\left(tx^{1},\ldots,tx^{n}\right)dt\] folgt die Behauptung mit \[f_{i}\left(u\right)=\int_{0}^{1}\frac{\partial f}{\partial x^{i}}\left(tu\right)dt.\] qed
3.1.4. Korollar. Ist \(\bar{x}\colon M_{(m)}\to \mathbb R^n_{(0)}\) ein Kartenkeim, so ist das maximale Ideal \(\mathcal I^{M}_{(m)}\subset \mathcal A^{M}_{(m)}\) erzeugt von den Koordinatenkeimen \(\bar{x}^i,i=1,\ldots, n\).
Beweis. Das maximale Ideal \(\mathcal I^{\mathbb R^n}_{(0)}\) besteht aus den Funktionskeimen \(\bar{f}\) mit \(f(0)=0\). Das beweist die Aussage im Falle \(M_{(m)}=\mathbb R^n_{(0)}\). Der allgemeine Fall folgt nach Definition der differenzierbaren Struktur, da eine Karte einen Isomorphismus \( \mathcal A^M_{(m)}\cong \mathcal A^{\mathbb R^n}_{(0)}\) von Algebren induziert.
qed
3.1.5. Definition. Es sei \(m\in M\) ein Punkt auf einer Mannigfaltigkeit. Eine Derivation im Punkte \(m\) ist eine Linearform \( \partial:\mathcal{A}^{M}_{(m)}\to\mathbb{R}\) auf der Algebra der Funktionskeime in \(m\), die der Leibniz-Regel genügt:\[\partial\left(f\cdot g\right)=\partial\left(f\right)g\left(m\right)+f\left(m\right)\partial\left(g\right).\]
Reelle Linearkombinationen von Derivationen sind wiederum solche. Insbesondere bildet der Raum der Derivationen \(Der_{M,m}\) im Punkte \(m\) einen reellen Vektorraum.
3.1.6. Satz. Die Richtungsableitung entlang eines Kurvenkeims beschreibt eine Bijektion zwischen dem Tangentialraum \(T_{m}M\) und dem Vektorraum der Derivationen \(Der_{M,m}\). Ist \(\bar{x}\colon M_{(m)}\to \mathbb R^n_{(0)}\) ein Kartenkeim, so bilden die Richtungsableitungen \(\tfrac{\partial}{\partial x^i}\) mit \(1\le i\le n\) eine Basis von \(T_mM\). Die Linearformen \(dx^i\) bilden eine duale Basis \(dx^i\left(\tfrac{\partial}{\partial x^j}\right)=\delta^i_j\) des Kotangentialraums \[T^\vee_mM =\mathcal I^M_{(m)}\big/\left(\mathcal I^M_{(m)}\right)^2. \]
Beweis. Wir betrachten zuerst den Fall \(M_{(m)}=\mathbb R^n_{(0)}=V_{(0)}\). Ist \(\bar{c}\colon \mathbb R_{(0)}\to V \) ein Kurvenkeim, so erfüllt die Richtungsableitung \(\partial_c\) die Leibniz-Regel, ist folglich eine Derivation. Für jeden Vektor \(v\in V\) definiert die parametrisierte Gerade \(t\mapsto tv\) eine Richtungsableitung \(\partial_v\). Die Abbildung \[V\to Der_{M,m},\quad
v\mapsto \partial_v\] ist linear. Die Standard-Einheitsvektoren \(e_i\) des \(\mathbb R^n\) werden dabei auf die partiellen Ableitungen \[\tfrac{\partial}{\partial x^i}=\partial_{e_i}\] abgebildet, die wegen der Identität \[dx^j\left(\tfrac{\partial}{\partial x^i} \right) = \tfrac{\partial x^j}{\partial x^i} =
\delta^j_i\] linear unabhängige Derivationen darstellen. Ist \(\partial\) eine Derivation im Punkte \(0\) und \(\bar{f}\) ein Funktionskeim, so folgt aus der Linearität \[\partial\left(f\right) = f\left(0\right)\partial\left(1\right)+\sum_{i=1}^{n}\left(\partial\left(x^{i}\right)f_{i}\left(0\right)+x^{i}\left(0\right)\cdot\partial\left(f_{i}\right)\right)
= \sum_{i=1}^{n}\partial\left(x^{i}\right)f_{i}\left(0\right).\] Die zweite Gleichung benutzt die Identität \(x^{i}\left(0\right)=0\) und die Tatsache, dass Derivationen auf der konstanten Funktion \(1\) den Wert \(0\) annehmen: \[ 0=\partial\left(0\right) =\partial\left(1\cdot1 -1\right) =\partial\left(1\right)\cdot1+1\cdot\partial\left(1\right)-\partial\left(1\right)=
\partial\left(1\right).\] Aus der obigen Gleichung erkennen wir, dass eine Derivation vollständig bestimmt ist durch die Werte, die sie auf den Koordinatenfunktionen \(x^{i}\) annimmt. Der Vektorraum der Derivationen an einem gegebenen Punkt besitzt somit die Dimension \(n\). Bezeichnet \[ \left(\mathcal I^{V}_{(0)}\right)^2 = \left(f\cdot g \mid f,g\in \mathcal I^{V}_{(0)}\right) \] das von den Quadraten von Elementen des maximalen Ideals erzeugte Ideal in der Algebra \(\mathcal A^{V}_{(0)}\), so ist \[ \left(\mathcal I^{V}_{(0)}\right)^2= \bigcap_{v\in V} \mathrm{ker}\left(\partial_v\colon \mathcal I^V_{(0)} \to \mathbb R\right).\] Insbesondere gilt \[T^\vee_0V =\mathcal I^{V}_{(0)}\big/ \left(\mathcal I^{V}_{(0)}\right)^2. \] Kartenkeime übertragen die Aussagen funktoriell auf Tangentialräume und Kotangentialräume allgemeiner Mannigfaltigkeiten.
qed