1.5. Invertieren mittels Äquivalenzrelationen

Der Folge von Inklusionen \(\mathbb N\subset \mathbb Z\subset \mathbb Q\subset \mathbb R \) entspricht, auch historisch, einer Folge zunehmender Verfeinerungen des Zahlbegriffs. Diese Zahlerweiterungen werden wir uns näher ansehen. Zuerst interessieren uns die ganzen und die rationalen Zahlen. Diese beiden Erweiterungen des Zahlbegriffs folgen dem gleichen Strickmuster.

Es geht um Gleichungen der Form \[m\ast x=n,\] wobei die beiden Größen $m,n$ bekannt sind, und $\ast$ eine Verknüpfung bezeichnet. Was lässt sich über die gesuchte Größe \(x\) sagen? Im einfachsten Fall gibt es genau eine Möglichkeit für diese dritte Größe. Sie kennen es aus der Schule: Um die eindeutige Lösbarkeit der Gleichung $$m+x=n$$ für alle natürlichen Zahlen $m$ und $n$ zu erzwingen, zaubert man die negativen Zahlen aus dem Hut. Analog werden die (positiven) rationalen Zahlen ins Spiel gebracht, um die Gleichung $$m\cdot x=n$$ für alle natürlichen Zahlen eindeutig lösbar zu machen.

Um eine eindeutige Lösbarkeit der betrachteten Gleichung zu gewährleisten, benötigt man inverse Größen. Die Konstruktionen dieser inversen Größen folgen einem Konzept, das an allen Ecken und Enden in der Mathematik benutzt wird. Der Name des Konzepts ist Äquivalenzrelation. Um dies zu erläutern, will ich etwas ausholen.

Die negativen Zahlen sind eigentlich unnötig. Seit eh und je kommt die Finanzwelt ohne sie aus. Der Grund ist, dass in der Finanzwelt tatsächlich gerechnet wird. Seit Jahrtausenden werden endlose Reihen von Zahlen addiert. Wie Sie aus der Schule wissen, lassen sich lange Kolonnen von Zahlen, untereinander geschrieben, relativ problemlos durch Rechnen mit Übertrag addieren. Sobald sich negative Zahlen in die Kolonne verirren, wird das Rechnen höllisch kompliziert. Weil kompliziertes Rechnen Zeit kostet und damit Geld, verzichtet die Finanzwelt auf negative Zahlen. Statt dessen benutzt sie ein System von Soll und Haben, in dem nur positive Zahlen existieren.

Und mehr noch, aus der Not hat die Finanzwelt eine Tugend gemacht: Die doppelte Buchführung ist eine bedeutende Erfindungen der Menschheit. Die Grundidee ist so genial wie einfach: Alle finanziellen Transaktionen werden zwischen Konten abgewickelt. Ein Konto besteht im Wesentlichen aus einer Tabelle. Die beiden wichtigsten Spalten in der Tabelle heißen Soll und Haben. Bei jeder Transaktion wird derselbe Betrag in zwei verschiedene Konten eingetragen, einmal in die Soll-Spalte und einmal in die Haben-Spalte. Zahlt zum Beispiel eine Firma einen Mitarbeiter, so gibt es einen Eintrag auf der Soll-Seite des Kontos "Bankguthaben" und einen Eintrag auf der Haben-Seite des Kontos "Lohn- und Gehaltszahlungen". Da nur positive Einträge in den Soll- und Haben-Spalten stehen, lassen diese sich einfach und schnell zusammenrechnen. Zählt man die Soll-Einträge und die Haben-Einträge über alle Konten jeweils zusammen, so muss sich derselbe Betrag ergeben. Dies ergibt eine sehr effiziente Kontrolle, ob die Buchführung korrekt ist.

Um von diesem System von Soll und Haben zu den ganzen Zahlen zu kommen, nimmt man den Saldo, das ist die Differenz von Soll und Haben. Die entscheidende Beobachtung ist, dass eine Zahlenpaar $(s,h)$ den gleichen Kontostand beschreibt wie das Zahlenpaar $(s+n,h+n)$, bei dem auf beiden Seiten die gleiche Zahl addiert wird.

Die mathematische Konstruktion der ganzen Zahlen orientiert sich an diesem System von Soll und Haben. Wir gehen nur einen Schritt weiter. Und diesen Schritt wollen wir uns etwas genauer ansehen. Dazu brauchen wir neue Begriffe.

Definition. Eine Relation $R$ auf einer Menge $X$ ist eine Teilmenge der Produktmenge $X\times X$. Ist das Paar $(x,y)\in X\times X$ in dieser Teilmenge, so schreibt man $xRy$.

Definition. Eine Äquivalenzrelation $\sim$ auf einer Menge $X$ erfüllt die Eigenschaften:

  • (Reflexivität) Für alle $x\in X$ gilt $x\sim x$.
  • (Symmetrie) Gilt $x \sim y$, so auch $y \sim x$.
  • (Transitivität) Gilt $x \sim y$ und $y \sim z$, so auch $x \sim z$.

1.5.1. Lemma. Eine Äquivalenzrelation zerlegt eine Menge in disjunkte Teilmengen.

Beweis. Zu $x\in X$ betrachten wir die Teilmenge
$$\bar{x}:=\{x'\in X\mid x'\sim x\}$$ aller zu $x$ äquivalenten Elemente von $X$. Wegen der Reflexivität enthält $\bar{x}$ zumindest ein Element, nämlich $x$. Wir wollen zeigen, dass zwei derart definierte Teilmengen entweder gleich sind oder aber leeren Durchschnitt besitzen. Um dies nachzuweisen, nehmen wir an, es gäbe ein Element $z\in X$ im Durchschnitt $z\in \bar{x}\cap\bar{y}$ für $x,y\in X$ und folgern daraus die Gleichheit $\bar{x}=\bar{y}$.

Zuerst weisen wir die Enthaltensrelation $\bar{x}\subset\bar{y}$ nach. Dazu knüpfen wir uns ein Element $x'\in\bar{x}$ vor. Es gelten die Äquivalenzen $x'\sim x$ und $z\sim x$ (da $x'$ und $z$ in $\bar{x}$ liegen) und folglich $x'\sim z$ (Symmetrie und Transitivität). Aus der Äquivalenz $z\sim y$ (da $z\in\bar{y}$) folgt wegen Transitivität die Äquivalenz $x'\sim y$ und damit $x'\in \bar{y}$. Damit haben wir die Inklusion $\bar{x}\subset \bar{y}$ gezeigt. Vertauschen wir in dem soeben ausgeführten Argument die Rollen von $x$ und $y$, so erhalten wir die umgekehrte Inklusion $\bar{y}\subset \bar{x}$ und folglich $\bar{x}=\bar{y}$ wie behauptet.
qed

Definition. Ist $\sim$ eine Äquivalenzrelation auf $X$, so heißt $\overline{X}:=\{\bar{x}\, |\, x\in X\}$ die Menge der Äquivalenzklassen oder $X$ modulo der Äquivalenzklasse $\sim$. Ordnen wir jedem Element in $X$ die sie enthaltende Äquivalenzklasse $\bar{x}$ zu, so erhalten wir eine surjektive Abbildung $\pi\colon X\to\overline{X};\,\,x\mapsto \bar{x}$.

Konstruktion der ganzen Zahlen. Auf der Menge $\mathbb{N}\times\mathbb{N}$ definieren wir eine Relation $\sim$, von der wir dann zeigen werden, dass sie eine Äquivalenzrelation ist. Es sei $(s,h)\sim (s',h')$ genau dann wenn es eine natürliche Zahl $n$ gibt, so dass die Gleichung $$s+h'+n=s'+h+n$$ gilt. Wegen der Assoziativität der Addition können wir hier auf Klammern verzichten.

1.5.2. Behauptung. Die derart definierte Relation auf $\mathbb{N}\times\mathbb{N}$ ist eine Äquivalenzrelation.

Beweis. Die Symmetrie ist offensichtlich, ebenso die Reflexivität. Für die Transitivität nehmen wir an, es gelte sowohl $(s,h)\sim (s',h')$ als auch $(s',h')\sim (s'',h'')$. Nach Definition der Relation $\sim$ gibt es also natürliche Zahlen $n$ und $n'$, so dass die Gleichungen $s+h'+n=s'+h+n$ und $s'+h''+n'=s''+h'+n'$ erfüllt sind. Addieren wir die beiden Gleichungen und gruppieren die Summanden etwas um, so erhalten wir $$s+h''+(h'+n+s'+n')=s''+h+(h'+n+s'+n').$$ Mit $n''=h'+n+s'+n'$ gilt also $s+h''+n''=s''+h+n''$ und damit die gesuchte Relation $(s,h)\sim (s'',h'')$.
qed

Definition. Die Menge der ganzen Zahlen $\mathbb Z$ ist die Menge der Äquivalenzklassen von $\mathbb{N}\times\mathbb{N}$ modulo der Äquivalenzrelation $\sim$.

Auf der Menge $\mathbb{Z}$ müssen wir noch Addition und Multiplikation definieren. Dazu definieren wir zuerst Operationen, die wir ebenfalls Addition und Multiplikation nennen, auf $\mathbb{N}\times\mathbb{N}$ vermittels der Formeln $$\begin{aligned}(s,h)+(s',h')&:=(s+s',h+h')\\(s,h)\cdot (s',h')&:=(sh'+hs',ss'+hh').\end{aligned}$$ Aus den bewiesenen Rechenregeln auf $\mathbb N$ folgt leicht, dass die so definierten Operationen assoziativ und kommutativ sind und die Distributivitätsgesetze erfüllen.

Addition und Multiplikation of $\mathbb{Z}$ definieren wir jetzt durch $$\overline{(s,h)}+\overline{(s',h')}:=\overline{(s,h)+(s',h')}\quad\quad\text{und}\quad\quad \overline{(s,h)}\cdot\overline{(s',h')}:=\overline{(s,h)\cdot(s',h')}.$$ Wir müssen uns noch überlegen, dass wir hier keinen Unsinn fabrizieren: Zur Definition benutzen wir spezielle Elemente in den Restklassen $\overline{(s,h)}$ und $\overline{(s',h')}$, nämlich $(s,h)$ und $(s',h')$, und definierten Summe und Produkt der Äquivalenzklassen mittels dieser speziellen Elemente. Bekommen wir etwa ein anderes Ergebnis, wenn wir andere Repräsentaten der Äquivalenzklassen wählen? Es ist also notwendig, eine Aussage der folgenden Form zu beweisen:

1.5.3. Lemma. Gelten die Relationen $(s,h)\sim(s',h')$ und $(t,k)\sim(t',k')$, so gelten auch die Äquivalenzen $${(s,h)}+{(t,k)}\sim{(s',h')+(t',k')}\quad\quad\text{und}\quad\quad (s,h)\cdot(t,k)\sim (s',h')\cdot(t',k').$$

Wir ersparen uns den etwas tüfteligen Beweis (Vgl. Skript Lineare Algebra), zumal dieser zurecht dem Reich der Algebra zugerechnet wird. Das Lemma jedenfalls besagt, dass die Ergebnisse der solcherart über Repräsentanten definierten Addition und Multiplikation auf der Menge $\mathbb{Z}$ unabhängig davon sind, welche Repräsentaten zufällig benutzt wurden. Man sagt, Addition und Multiplikation seien wohldefiniert. Ebenso ersparen wir uns, nachzuweisen, dass sich die Assoziativität und Kommutativität von Addition und Multiplikation von den natürlichen Zahlen auf die ganzen Zahlen vererben:

1.5.4. Satz. Addition und Multiplikation auf $\mathbb Z$ sind assoziativ und kommutativ. Es gelten die Distributivgesetze. Die Abbildung $\phi:\mathbb{N}\to\mathbb{Z}$, definiert durch $n\mapsto \overline{(n,2n)}$, erhält die Operationen, das heißt, es gilt $\phi(n+m)=\phi(n)+\phi(m)$ und $\phi(n\cdot m)=\phi(n)\cdot\phi(m)$.

Analog zur Einführung der negativen Zahlen werden auch die rationalen Zahlen konstruiert. Hier betrachtet man auf Paaren $(z,n)$, genannt Zähler und Nenner, eine mehr oder weniger offensichtliche Äquivalenzrelation:

Konstruktion der rationalen Zahlen. Auf der Menge $\mathbb{Z}\times\mathbb{N}$ definieren wir eine Äquivalenz-relation $\approx$ wie folgt: Es gelte $(z,n)\approx (z',n')$ genau dann, wenn für eine natürliche Zahl $m$ die Gleichung $$z\cdot n'\cdot m=z'\cdot n\cdot m$$ erfüllt wird.

Wie bei der Einführung der negativen Zahlen definiert man Addition und Multiplikation auf Repräsentanten mittels $$(z,n)\cdot (z',n'):=(zz',nn')\quad\quad\quad (z,n)+(z',n')=(zn'+z' n, nn')$$ und beweist dann Wohldefiniertheit, wie auch die Vererbung aller Rechenregeln auf die derart konstruierten rationalen Zahlen $\mathbb Q$. Das detaillierte Nachrechnen ersparen wir uns hier und halten einzig das Resultat fest:

1.5.5. Satz. Addition und Multiplikation auf der Menge \(\mathbb Q\) der Äquivalenzklassen der Relation \(\approx\) sind wohldefiniert und erfüllen die Körperaxiome. Die Abbildung \(\psi:\mathbb{Z}\to\mathbb{Q}\), definiert durch \(z\mapsto \overline{(z,1)}\), erhält die Operationen, das heißt, es gilt \(\psi(z+z')=\psi(z)+\psi(z')\) und \(\psi(z\cdot z')=\psi(z)\cdot\psi(z')\).

Unterstützt von Drupal