1.1. Messbare Räume

1.1.1. Definition. Sei $X$ eine nicht leere Menge. Eine Teilmenge $\mathfrak A\subset \mathfrak P(X)$ heißt $\sigma$-Algebra über $X$, falls gilt:

  1. $\emptyset \in \mathfrak A$
  2. Ist $A\in \mathfrak A$, so auch das Komplement $X\setminus A\in \mathfrak A$.
  3. Ist $(A_i)_{i\in I}$ eine abzählbare Familie von Elementen in $\mathfrak A$, so gilt $\cup_{i\in I}A_i \in \mathfrak A$.

Ist $\mathfrak A$ eine $\sigma$-Algebra über $X$, so nennt man $(X,\mathfrak A)$ einen messbaren Raum und jedes $A\in \mathfrak A$ heißt $\mathfrak A$-messbar.

1.1.2. Bemerkungen. Für eine $\sigma$-Algebra $\mathfrak A$ über $X$ gilt:

  • $X\in \mathfrak A$.
  • Ist $(A_i)_{i\in I}$ eine abzählbare Familie von Elementen in $\mathfrak A$, so gilt $$\cap_{i\in I}A_i=X\setminus \left(\cup_{i\in I}(X\setminus A_i)\right) \in \mathfrak A.$$
  • Jede endliche Familie ist abzählbar, folglich sind endliche Vereinigungen und Durchschnitte von $\mathfrak A$-messbaren Mengen wiederum $\mathfrak A$-messbar.
  • Sind $A,B\in \mathfrak A$, so ist auch die symmetrische Differenz $A\vartriangle B:=(A\setminus B)\cup (B\setminus A)\in \mathfrak A$.

Die Namensgebung ist nicht ganz zufällig, denn die mengentheoretischen Operationen $\cap, \cup$ und Komplementbildung liefern in geeigneter Zusammensetzung algebraische Strukturen.

1.1.3. Proposition. Versieht man $\mathfrak P(X)$ mit der symmetrischen Differenz $\vartriangle$ als Addition und dem Durchschnitt $\cap$ als Multiplikation, so ist $(\mathfrak P(X),\vartriangle, \cap)$ ein kommutativer Ring mit Nullelement $\emptyset$ und Einselement $X$.

Beweis. Es bezeichne $\mathcal F(X,\mathbb F_2)$ den Ring der Funktionen $f\colon X\to \mathbb F_2$ mit Werten im Körper $\mathbb F_2$ mit zwei Elementen. Addition und Multiplikation derartiger Funktionen ist punktweise definiert: $$(f+g)(x):=f(x)+g(x), (f\cdot g)(x):=\left(f(x)\right)\cdot \left(g(x)\right).$$ Die Abbildung $$\Psi\colon \mathcal F(X,\mathbb F_2)\to \mathfrak P(X),\quad f\mapsto f^{-1}(1)$$ ist offenbar bijektiv und erhält Addition und Multiplikation.
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Der Ring $\mathcal F(X,\mathbb F_2)$ ist außerdem ein Vektorraum über dem Körper $\mathbb F_2$. Addition und Multiplikation sind verträglich mit der Vektorraumstruktur, d.h. die Addition ist $\mathbb F_2$-linear, die Multiplikation $\mathbb F_2$ bilinear. Derartige Ringe nennt man Algebren. Eine $\sigma$-Algebra über $X$ ist offenbar eine Unteralgebra von $(\mathfrak P(X),\vartriangle, \cap)$.

1.1.4. Bemerkung. Es sei $\mathfrak S\subset \mathfrak P(X)$. Man nennt $\mathfrak S$ eine Algebra, falls $\Psi^{-1}(\mathfrak S)$ ein Unterring mit 1 von $\mathcal F(X,\mathbb F_2)$ ist.

  • Eine Teilmenge $\mathfrak S\subset \mathfrak P(X)$ mit $X\in \mathfrak S$ ist genau dann eine Algebra, wenn sie abgeschlossen ist unter allen endlichen Mengenoperationen. Dazu muss man sich überlegen, dass sich $\setminus, \cup$ mittels $\vartriangle, \cap$ darstellen lassen. Das ist aber relativ einfach:
    $$A\setminus B=A\vartriangle (A\cap B), \quad A\cup B=A\vartriangle B \vartriangle (A\cap B).$$
  • Eine Algebra $\mathfrak S$ ist genau dann eine $\sigma$-Algebra, wenn sie abgeschlossen ist unter allen abzählbaren Mengenoperationen.
  • Es sei $\mathfrak S$ eine Algebra und für jede Folge $(B_n)_{n\in \mathbb N}$ paarweise disjunkter Elemente $B_n\in \mathfrak S$ gelte $\sqcup_{n\in \mathbb N}B_i\in \mathfrak S$. Dann ist $\mathfrak S$ eine $\sigma$-Algebra. Ist nämlich $(A_i)_{i\in I}$ eine abzählbare Familie von Elementen in $\mathfrak S$, so wählen wir eine Abzählung, d.h. eine Bijektion $\nu\colon \mathbb N\to I$ und setzen rekursiv $$B_1=A_{\nu(1)}, \quad B_{n+1}:=A_{\nu(n+1)}\setminus \cup_{k=1}^n A_{\nu(k)}.$$ Dann ist $(B_n)_{n\in\mathbb N}$ eine Folge paarweise disjunkter Elemente und es gilt $\sqcup_{n\in\mathbb N}B_n=\cup_{i\in I}A_i.$

1.1.5. Beispiele.

  • $\{\emptyset , X\}$ und $\mathfrak P(X)$ sind $\sigma$-Algebren.
  • $\{A\subset X \mid A \text{ oder }(X\setminus A)\text{ ist abzählbar}\}$ ist eine $\sigma$-Algebra.
  • Es sei $I$ eine Indexmenge und für jedes $i\in I$ sei $\mathfrak A_i$ eine $\sigma$-Algebra über $X$. Dann ist $\cap_{i\in I}\mathfrak A_i$ eine $\sigma$-Algebra über $X$.
  • Ist $\mathfrak M\subset \mathfrak P(X)$ eine beliebige Teilmenge, so sei die von $\mathfrak M$ erzeugte $\sigma$-Algebra $\mathfrak A_{\sigma}(\mathfrak M)$ die kleinste $\sigma$-Algebra, welche $\mathfrak M$ enthält. Sie lässt sich konstruieren als der Durchschnitt aller $\sigma$-Algebren in $\mathfrak P(X)$, welche $\mathfrak M$ enthalten.
  • Es sei $f\colon X\to Y$ eine Abbildung, $\mathfrak A$ eine $\sigma$-Algebra über $X$. Dann ist $$f_*(\mathfrak A):= \{B\subset Y\mid f^{-1}(B)\in \mathfrak A\}$$ eine $\sigma$-Algebra über $Y$ und wird direktes Bild von $\mathfrak A$ unter $f$ genannt.
  • Es sei $f\colon X\to Y$ eine Abbildung, $\mathfrak C$ eine $\sigma$-Algebra über $Y$. Dann ist $$f^{-1}(\mathfrak C):= \{f^{-1}(C)\mid C\in \mathfrak C\}$$ eine $\sigma$-Algebra über $X$ und wird Urbild von $\mathfrak C$ unter $f$ genannt.
  • Ist insbesondere $X\subset Y$ und $\mathfrak C$ eine $\sigma$-Algebra über $Y$. Dann wird das Urbild unter der Inklusionsabbildung die induzierte $\sigma$-Algebra $\mathfrak C_X$ genannt. Sie besteht aus allen Teilmengen der Form $C\cap X$, wo $C\in \mathfrak C$ ist.

1.1.6. Definition. Es sei $(X,\mathcal T)$ ein topologischer Raum. Die von der Topologie erzeugte $\sigma$-Algebra $\mathfrak A_\sigma(\mathcal T)$ heißt Borelsche $\sigma$-Algebra. Sie wird mit $\mathfrak B(X)$ bezeichnet. Elemente von $\mathfrak B(X)$ werden Borelsche Teilmengen von $X$ genannt.

Die Borelsche $\sigma$-Algebra enthält im Allgemeinen deutlich mehr Elemente als die Topologie. Sowohl die abgeschlossenen, wie auch die offenen Teilmengen sind Borelsch. Darüber hinaus auch abzählbare Vereinigungen von abgeschlossenen Teilmengen und abzählbare Durchschnitte offener Teilmengen. Und noch viele mehr.

Wir wollen an dieser Stelle nicht versuchen, die derart konstruierten Mengen vollständig zu klassifizieren.

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