1.3. Maße

1.3.1. Definition. Es sei $(X,\mathfrak A)$ ein messbarer Raum. Ein Maß auf $X$ ist eine Abbildung $\mu\colon\mathfrak A\to [0,\infty]$ mit folgenden Eigenschaften:

  1. $\mu(\emptyset)=0$
  2. Für jede abzählbare Familie $(A_j)_{j\in J}$ paarweise disjunkter Elemente $A_j \in \mathfrak A$ gilt $$\mu\left(\bigsqcup_{j\in J}A_j\right) =\sum_{j\in J}\mu(A_j).$$

Man nennt $(X,\mathfrak A,\mu)$ einen Maßraum. Gilt $\mu(X)=1$, so nennt man $\mu$ ein Wahrscheinlichkeitsmaß und $(X,\mathfrak A,\mu)$ einen Wahrscheinlichkeitsraum.

Wir akzeptieren den Wert $\infty$ als Maß einer Teilmenge von $X$. Dies ist allein schon deshalb nötig, weil wir ein Maß auf $\mathbb R$ definieren wollen mit $\mu\left([n,n+1)\right)=\mu\left([0,1)\right)$ für alle $n\in \mathbb Z$. Die Bedingung $\mu(\mathbb R)=\sum_{n\in \mathbb Z}\mu\left([n,n+1)\right)$ erzwingt $\mu(\mathbb R)=\infty$, falls wir $\mu\left([0,1)\right)\not=0$ setzen. Die Alternative $\mu\left([0,1)\right)=0$ würde uns nur das Null-Maß liefern.

1.3.2. Einfache Beispiele.

  • Die langweiligen Maße auf einem gegebenen messbaren Raum $(X,\mathfrak A)$ sind leicht ausgemacht: Das Null-Maß $\mu_0$ mit $ \mu_0(A)=0$ für alle $A\in \mathfrak A$, sowie das $\infty$-Maß $\mu_\infty$, definiert durch $\mu_\infty(\emptyset)=0$ und $\mu_\infty(A)=\infty$ sonst.
  • Ist $a\in X$, so ist das Diracmaß auf $X$ mit Träger in $a$ gegeben und $$\delta_a(A):=\begin{cases}1,&a\in A\\0,&a\notin A,\end{cases}$$für $A\subset X$. Das Diracmaß $\delta_a\colon \mathfrak P(X)\to [0,\infty]$ ist ein Wahrscheinlichkeitsmaß.
  • Für $A\subset X$ sei $\mathcal H^0(A):=\#A$ die Anzahl der Elemente in $A$. Dann ist $\mathcal H^0\colon\mathfrak P(X)\to [0,\infty]$ ein Maß, das Zählmaß auf $X$.
  • Zuletzt sei $(X,\mathfrak A,\mu)$ ein Maßraum und $A\in\mathfrak A$. Die Inklusion $\iota\colon A\to X$ liefert einen Maßraum $(A,\iota^{-1}\mathfrak A,\mu\circ\iota)$.

Um zu interessanteren Beispielen zu kommen, brauchen wir noch etwas Maschinerie. Bevor wir uns dieser zuwenden, listen wir noch eine Reihe von mehr oder weniger offensichtlichen Eigenschaften von Maßen auf.

1.3.3. Eigenschaften von Maßen. Es sei $(X,\mathfrak A, \mu)$ ein Maßraum, $A,B\in \mathfrak A$ und $(A_j)_{j\in \mathbb N}$ eine Folge mit $A_j\in \mathfrak A$. Dann gilt:

  1. $\mu(A\cup B)+\mu(A\cap B)=\mu(A)+\mu(B)$.
  2. Ist $A\subset B$ und gilt $\mu(A)\lt\infty$, so folgt $\mu(B\setminus A)=\mu(B)-\mu(A)$.
  3. Ist $A\subset B$, so folgt $\mu(A)\le\mu(B)$. Man sagt, $\mu$ sei monoton, bzw. wachsend.
  4. Ist $(A_j)$ aufsteigend, d.h. gilt $A_1\subset A_2\subset \ldots ,$ so gilt $\lim_{j\to \infty}\mu(A_j)=\mu\left(\cup_jA_j\right)$.
  5. Ist $(A_j)$ absteigend, d.h. gilt $A_1\supset A_2\supset \ldots ,$ und gilt $\mu(A_1)\lt\infty$, so gilt $\lim_{j\to \infty}\mu(A_j)=\mu\left(\cap_jA_j\right)$.
  6. Allgemein gilt $\mu\left(\cup_jA_j\right)\le \sum_j\mu(A_j)$. Man sagt, $\mu$ sei $\sigma$-subadditiv.

Beweis.

  1. Aus den disjunkten Zerlegungen \begin{aligned}A\cup B&=A\sqcup (B\setminus A)\\
    B&=(A\cap B)\sqcup (B\setminus A)\end{aligned} folgen wegen der $\sigma$-Additivität des Maßes die Gleichungen \begin{align}\tag{*}\mu(A\cup B)&=\mu(A)+\mu(B\setminus A)\\
    \mu(B)&=\mu(B\cap A)+\mu(B\setminus A).\end{align} Addition liefert $$\mu(A\cup B)+\mu(A\cap B)+\mu(B\setminus A)=\mu(A)+\mu(B)+\mu(B\setminus A).$$ Im Falle $\mu(B\setminus A)\lt\infty$ erhält man die behauptete Gleichung mittels Kürzen. Gilt $\mu(B\setminus A)=\infty$, so liefern die Gleichungen $(*)$ auch $\mu(A\cup B)=\mu(B)=\infty$. Wieder folgt die Behauptung.
  2. Aus $A\subset B$ erhalten wir eine disjunkte Zerlegung $B=A\sqcup (B\setminus A)$ und folglich $$\mu(B)=\mu(A)+\mu(B\setminus A).$$ Ist $\mu(A)\lt\infty$, so können wir diesen Wert auf beiden Seiten subtrahieren und erhalten $$\mu(B)-\mu(A)=\mu(B\setminus A).$$
  3. Folgt aus $\mathrm{ii}.$
  4. Wir setzen $A_0:=\emptyset$ und $B_j:=A_j\setminus A_{j-1}$ für $j\in \mathbb N$. Die Glieder der Folge $(B_j)_{j\in \mathbb N}$ sind dann paarweise disjunkt und es gilt $$\sqcup_{j=1}^k B_j
    = A_k \quad\text{und}\quad \sqcup_{j=1}^\infty B_j=\cup_{j=1}^\infty A_j.$$ Daraus erhalten wir \begin{aligned}\mu\left(\cup_{j\in \mathbb N}A_j\right)=\mu\left(\sqcup_{j\in \mathbb N}B_j\right)=\sum_{j\in \mathbb N}\mu(B_j)=\lim_{k\to\infty}\sum_{j=1}^k\mu\left(B_j\right)=
    \lim_{k\to\infty}\mu\left(\sqcup_{j=1}^kB_j\right)=\lim_{k\to\infty}\mu\left(A_k\right).\end{aligned}
  5. Ist die Folge $(A_j)_{j\in \mathbb N}$ absteigend, so ist $(A_1\setminus A_j)_{j\in \mathbb N}$ aufsteigend. Wegen $\cap_{j\in \mathbb N}A_j\subset A_k\subset A_1$ für jedes $k\in\mathbb N$ gilt $\mu(\cap_{j\in \mathbb N}A_j)\le \mu(A_k)\le\mu(A_1)\lt \infty$. Unter Verwendung von $\mathrm{ii.}$ und $\mathrm{iv.}$ erhalten wir \begin{aligned}\mu\left(A_1\right)-\mu\left( \cap_{j\in \mathbb N} A_j\right)&=\mu\left(A_1\setminus \cap_{j\in \mathbb N}A_j\right)
    =\mu\left(\cup_{j\in \mathbb N}(A_1-A_j)\right)\\&=
    \lim_{j\to\infty}\mu\left(A_1\setminus A_j\right)
    =\lim_{j\to\infty}\left(\mu\left(A_1\right)-\mu\left(A_j)\right)\right)=
    \mu(A_1)-\lim_{j\to\infty}\mu\left(A_j\right).\end{aligned}
  6. Wir setzen $B_j:=A_j\setminus \left(\cup_{k=1}^{j-1}A_{k}\right)$ für $j\in \mathbb N$. Die Glieder der Folge $(B_j)_{j\in \mathbb N}$ sind paarweise disjunkt und es gilt $$ B_j \subset A_j \quad\text{und}\quad \sqcup_{j=1}^\infty B_j=\cup_{j=1}^\infty A_j.$$ Daraus erhalten wir \begin{aligned}\mu\left(\cup_{j\in \mathbb N}A_j\right)=\mu\left(\sqcup_{j\in \mathbb N}B_j\right)=\sum_{j\in \mathbb N}\mu\left(B_j\right)\le \sum_{j\in \mathbb N} \mu\left(A_j\right).\end{aligned}

qed

1.3.4. Bemerkungen. Es sei $(X,\mathfrak A,\mu)$ ein Maßraum.

  • Ist $f\colon X\to Y$ eine Abbildung, so induziert $\mu$ ein direktes Bildmaß $f_*\mu\colon f_*\mathfrak A\to [0,\infty]$. Wir setzen $$f_*\mu(B):=\mu\left(f^{-1}(B)\right).$$ Zur Erinnerung: Eine Teilmenge $B\subset Y$ ist genau dann Element von $f_*\mathfrak A$, wenn gilt $f^{-1}(B)\in \mathfrak A$.
  • Ist $(Y,\mathfrak C)$ ein messbarer Raum und ist $f\colon X\to Y$ messbar bezüglich der gegebenen $\sigma$-Algebren, so ist $\mathfrak C\subset f_*\mathfrak A$. In diesem Fall nennt man die Einschränkung des direkten Bildmaßes $f_*\mu$ auf $\mathfrak C$ das Bildmaß unter $f$.
  • Ist $E\in \mathfrak A$ eine messbare Menge in $X$ und bezeichne $\iota\colon E\to X$ die Inklusionsabbildung, so erhält man einen Maßraum $(E,\mathfrak A\cap E,\mu|_E)$ durch Einschränkung $\mu|_E:=\mu|_{\mathfrak A\cap E}$. Man nennt $\mathfrak A\cap E$ die Spur-$\sigma$-Algebra und $\mu|_E$ das Spurmaß.
  • Ist $\iota\colon E\hookrightarrow X$ die Inklusionsabbildung einer messbaren Teilmenge, so erhält man insbesondere einen Maßraum $\left(X,\iota_*\left(\mathfrak A\cap E\right),\iota_*\left(\mu|_E\right)\right)$. Wie man sich leicht überlegt, gilt $\mathfrak A \subset \iota_*\left(\mathfrak A\cap E\right)$ und $\iota_*\left(\mu|_E\right)$ kann angesehen werden als eine Fortsetzung des auf $E$ eingeschränkten Maßes durch die Null.

Will man interessante Maße konstruieren, ist man zwei Problemen konfrontiert:

  • Die $\sigma$-Algebra $\mathfrak A$: Solche $\sigma$-Algebren gibt's wie Sand am Meer. Wir nehmen irgend eine Teilmenge $E$ der Potenzmenge $\mathfrak P(X)$ und erhalten die von ihr erzeugte $\sigma$-Algebra $\mathfrak A_{\sigma}(E)$. Derart erzeugte $\sigma$-Algebren sind im Allgemeinen jedoch, gelinde gesagt, unübersichtlich.
  • Die Abbildung $\mu$: Hat man das erste Problem geknackt, kennt also die Elemente einer $\sigma$-Algebra $\mathfrak A$, so gilt es, Abbildungen $\mathfrak A\to [0,\infty]$ betrachten. Um die $\sigma$-Additivität zu prüfen, muss man für jedes Element $A\in \mathfrak A$ und jede abzählbare Zerlegung von $A$ nachweisen, dass die für die jeweiligen Bruchstücke definierte Funktion sich richtig aufaddiert. Na denn, viel Spaß!

Wir machen Sisyphos seine Arbeit und sein Glück nicht streitig. Wir schlagen einen anderen Weg ein: Wir definieren zuerst die Abbildung, und danach die $\sigma$-Algebra, auf der sie definiert ist. Das ist weniger absurd, als es auf den ersten Blick erscheint.

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