1.4. Äußere Maße

Äußere Maße, das ist das Erste, was man lernen muss, sind keine Maße, sondern Werkzeuge, um solche zu konstruieren.

Es sei im Folgenden $X$ eine nicht leere Menge.

1.4.1. Definition. Eine Abbildung $\mu^*\colon\mathfrak P(X)\to [0,\infty]$ heißt äußeres Maß auf $X$, wenn gilt:

  1. $\mu^*(\emptyset)=0$
  2. Monotonie: Gilt $A\subset B$, so gilt $\mu^*(A)\le\mu^*(B)$.
  3. $\sigma$-Subadditivität: Für jede abzählbare Familie $(A_j)_{j\in J}$ gilt $$\mu^*\left(\bigcup_{j\in J}A_j\right) \le \sum_{j\in J}\mu^*(A_j).$$

Monotonie und der $\sigma$-Subadditivität sind Eigenschaften, die ein Maß erfüllt (vgl. 1.3.3.). Insbesondere ist jedes Maß, das auf ganz $\mathfrak P(X)$ definiert ist, ein äußeres Maß.

Nachdem wir die Begriffe nun kennengelernt haben, lässt sich auch die Idee hinter unserer Vorgehensweise erklären: Wir konstruieren zuerst ein äußeres Maß $\mu^*$. Der Vorteil ist, dass dies ist auf der Potenzmenge $\mathfrak P(X)$ definiert ist. Der Nachteil ist, dass dies äußere Maß nur einige Eigenschaften eines Maßes besitzt, nicht alle. Insbesondere ist $\mu^*$ nicht $\sigma$-additiv. Im nächsten Schritt eliminieren wir alle Elemente aus $\mathfrak P(X)$, die der $\sigma$-Additivität von $\mu^*$ im Wege stehen. Übrig bleibt eine maximale Teilmenge $\mathfrak A\subset \mathfrak P(X)$, auf der das gewählte äußere Maß dann $\sigma$-additiv ist. Insbesondere ist $\mathfrak A$ eine $\sigma$-Algebra und die Einschränkung $\mu^*|_{\mathfrak A}$ ein Maß.

1.4.2. Definition. Eine Teilmenge $\mathfrak K\subset \mathfrak P(X)$ der Potenzmenge heißt Überdeckungsklasse für $X$, wenn sie die leere Menge enthält, sowie eine abzählbare Teilmenge $\{K_j\mid j\in J\}\subset \mathfrak K$ mit $X=\cup_{j\in J}K_j$.

1.4.3. Beispiele.

  • Jede Teilmenge von $\mathfrak P(X)$, welche $X$ enthält, ist eine Überdeckungsklasse. Insbesondere ist $\{\emptyset, X\}$ eine Überdeckungsklasse. Jede Topologie auf $X$ ist eine Überdeckungsklasse.
  • Ist $X$ ein separabler metrischer Raum, uns $S\subset X$ eine abzählbar dichte Teilmenge, so ist $\mathcal T_{\varepsilon}=\{O\in \mathcal T\mid \mathrm{diam}(O)\lt\varepsilon\}$ für jedes $\varepsilon\gt 0$ eine Überdeckungsklasse. Die abzählbare Menge $$\left\{U_{\frac1n}(s)\mid s\in S, n\in \mathbb N, \frac2n\lt \varepsilon\right\}\subset \mathcal T_\varepsilon$$ überdeckt nämlich $X$.
  • Verallgemeinerte Intervalle: Sind $a,b\in \mathbb R^n$ mit $a=(a_1,\ldots,a_n)$ und $b=(b_1,\ldots,b_n)$ , so schreiben wir $a\le b$ oder $a\lt b$, falls für alle $k\le n$ gilt $a_k\le b_k$ oder $a_k\lt b_k$. Die verallgemeinerten offenen Intervalle sind dann von der Form $$(a,b):=\{x\in\mathbb R^n\mid a\lt x\lt b \}$$ und analog halboffene und geschlossene verallgemeinerte Intervalle $[a,b),(a,b],[a,b]$. Die Menge der verallgemeinerten offenen Intervalle wird im Folgenden mit $\mathbb J^n$ bezeichnet und bildet eine Überdeckungsklasse, da die Intervalle mit Intervallgrenzen $a,b\in \mathbb Q^n$ eine abzählbare offene Überdeckung von $\mathbb R^n$ bilden.

Hier ist ein Rezept zur Konstruktion von äußeren Maßen:

1.4.4. Satz. Es sei $\mathfrak K$ eine Überdeckungsklasse für $X$ und $\nu\colon \mathfrak K\to[0,\infty]$ erfülle $\nu(\emptyset )=0$. Für $A\subset X$ sei $$
\mu^*(A):=\inf\left\{\sum_{j\in J}\nu(K_j)\mid J \text{ abzählbar, } K_j\in \mathfrak K, A\subset \cup_{j\in J}K_j\right\}.$$ Dann ist $\mu^*$ ein äußeres Maß auf $X$, das von $(\mathfrak K,\nu)$ induzierte äußere Maß.

Beweis. Es ist $\mu^*(\emptyset)=0$. Ist $A\subset B$, so ist jede Überdeckung von $B$ auch eine von $A$. Es folgt $\mu^*(A)\lt\mu^*(B)$. Um die $\sigma$-Subadditivität von $\mu^*$ zu zeigen, sei $(A_n)_{n\in \mathbb N}$ eine Folge von Teilmengen von $X$. Zu jedem $\varepsilon\gt 0$ gibt es eine abzählbare Familie $(K_{n,j})_{j\in J_n}$ in $\mathfrak K$ mit $$A_n\subset \cup_{j\in J_n}K_{n,j}\quad\text{ und }\quad \sum_{j\in J_n}\nu(K_{n,j})\le \mu^*(A_n)+\frac{\varepsilon}{2^{n}}.$$ Aus $\cup_{n\in \mathbb N} A_n\subset \cup_{n\in \mathbb N}\cup_{j\in J_n}K_{n,j}$ ergibt sich \begin{aligned}\mu^*\left(\cup_{n\in \mathbb N}A_n\right)&\le \sum_{n\in \mathbb N}\sum_{j\in J_n}\nu\left(K_{n,j}\right)\\
&\le \sum_{n\in\mathbb N}\left(\mu^*(A_n)+\frac{\varepsilon}{2^{n}}\right)=\left(\sum_{n\in\mathbb N}\mu^*(A_n)\right)+\varepsilon.\end{aligned} Hier benutzen wir den großen Umordnungssatz für absolut konvergente Reihen aus dem ersten Semester. Weil die Abschätzung für jedes $\varepsilon\gt 0$ gilt, folgt die behauptete Ungleichung $$\mu^*\left(\cup_{n\in \mathbb N}A_n\right)\le \sum_{n\in\mathbb N}\mu^*(A_n).$$qed

1.4.5. Interessante Beispiele.

  1. Das Lebesguesche äußere Maß $\lambda^*_n$ auf $X=\mathbb R^n$. Die Konstruktion benutzt die Überdeckungsklasse $\mathbb J^n$ aller offenen, verallgemeinerten Intervalle. Für $a\le b\in\mathbb R^n$ ist das $n$-dimensionale Volumen des verallgemeinerten offenen Intervalls $(a,b)\in \mathbb J^n$ definiert durch $$\mathrm{vol}_n(a,b):=\prod_{k=1}^n(b_k-a_k).$$ Das Lebesguesche äußere Maß ist das von $(\mathbb J^n,\mathrm{vol}_n)$ induzierte.
  2. Lebesgue-Stieltjessche äußere Maße $\mu_F^*$ auf $\mathbb R$. Es sei $F\colon R\to \mathbb R$ monoton wachsend und linksseitig stetig. Eine solche Funktion heißt maßerzeugend. Gilt darüber hinaus $\lim_{x\to -\infty}F(x)=0$ und $\lim_{x\to\infty}F(x)=1$, so nennt man $F$ Verteilungsfunktion. Es sei $\mathbb J_[$ die Menge der Intervalle der Form $[a,b)$ mit $a\le b\in \mathbb R$. Dann ist $\mu^*_F$ das von $(\mathbb J_[,\nu_F)$ erzeugte äußere Maß mit $$\nu_F\left([a,b)\right):=F(b)-F(a).$$
  3. Hausdorffsche äußere Maße $\mathcal H^s_*$ auf einem separablen metrischen Raum $X$. Für fixierte $s\gt 0$ und $\varepsilon\gt 0$ bezeichne $\mathcal T_\varepsilon$ die Überdeckungsklasse der offenen Teilmengen $U\subset X$ mit $\mathrm{diam}(U)\lt \varepsilon$. Wir betrachten die Funktion $$\eta^s\colon \mathcal T_\varepsilon\to [0,\infty),\quad \eta^s(U):=\left(\mathrm{diam}(U)\right)^s.$$ Es sei $\mathcal H^s_\varepsilon$ das von $(\mathcal T_\varepsilon,\eta^s)$ erzeugte äußere Maß. Ist $\varepsilon'\lt \varepsilon$, so gilt für $A\subset X$ wegen $\mathcal T_{\varepsilon'}\subset\mathcal T_\varepsilon$ die Abschätzung $\mathcal H^s_\varepsilon(A)\le \mathcal H^s_{\varepsilon'}(A).$ Für fixiertes $s\gt 0$ und $A\subset X$ existiert deshalb der Grenzwert $$\mathcal H^s_*(A) :=\lim_{\varepsilon\searrow 0}\mathcal H^s_\varepsilon(A) =\sup_{\varepsilon\gt 0}\mathcal H^s_\varepsilon(A)\in [0,\infty].$$ Die Abbildung $\mathcal H^s_*\colon\mathfrak P(X)\to [0,\infty]$ wird $s$-dimensionales Hausdorffsches äußeres Maß genannt. Die Eigenschaften eines äußeren Maßes sind leicht nachgeprüft: $\mathcal H^s_*(\emptyset)=0$ ist klar, wie auch die Monotonie. Um die $\sigma$-Subadditivität zu zeigen, sei $(A_j)$ eine abzählbare Familie in $\mathfrak P(X)$. Weil $\mathcal H^s_\varepsilon$ für jedes $\varepsilon\gt 0$ ein äußeres Maß auf $X$ ist, gilt $$\mathcal H^s_\varepsilon\left(\cup_jA_j\right)\le \sum_j\mathcal H^s_\varepsilon(A_j)\le\sum_j\mathcal H^s_*(A_j).$$ Diese Ungleichung bleibt beim Grenzübergang $\varepsilon\to 0$ erhalten und liefert die Behauptung.
    Man setzt $\mathcal H^0_*$ als das Zählmaß und erhält somit äußere Maße für jedes $s\ge 0$.

Nun geht's ans Berechnen des äußeren Maßes für spezielle Fälle.

1.4.6. Proposition. Es sei $n\in \mathbb N$.

  • Ist $S\subset \mathbb R^n$ abzählbar, so gilt $\lambda^*_n(S)=0$.
  • Für die Hyperebene $H_1:=\{x\in \mathbb R^n\mid x_1=0\}$ gilt $\lambda^*_n(H_1)=0$.
  • Es sei $a,b \in \mathbb R^n$ mit $a\le b$ und $(a,b)\subset A\subset [a,b]$ gegeben. Dann gilt $\lambda^*_n(A)=\mathrm{vol}_n(a,b)$.

Beweis. Ist $S$ abzählbar, so wählen wir eine Abzählung, d.h. eine surjektive Abbildung $\alpha\colon \mathbb N\to S$. Es sei $f=(1,\ldots,1)\in \mathbb R^n$. Für gegebenes $\varepsilon \gt 0$ wählen wir die Überdeckung von $S$ durch die offenen verallgemeinerten Intervalle $$A_j=\left(\alpha(j)-\frac{\varepsilon^{\frac1n} }{2^{j+1}}f,\alpha(j)+\frac{\varepsilon^{\frac1n} }{2^{j+1}}f\right)_{j\in \mathbb N}.$$ Es ist $\mathrm{vol}_n(A_j)= \frac{\varepsilon}{2^{nj}}\le \frac{\varepsilon}{2^{j}}$ und folglich $$\lambda^*_n(S)\le \sum_{j\in \mathbb N} \mathrm{vol}_n(A_j)\le \sum_{j\in \mathbb N}\frac{\varepsilon}{2^{j}}=\varepsilon.$$ Da $\varepsilon$ beliebig gewählt war, folgt die Behauptung.
Es sei $W=[0,f_1]$ mit $f_1=(0,1,\ldots,1)\in \mathbb R^n$ der $(n-1)$-dimensionale Einheitswürfel. Dieser wird zu gegebenem $\varepsilon\gt 0$ vom offenen Intervall $U=\left(-f_1-\frac{\varepsilon}{2\cdot 3^{n-1}}e_1, 2f_1+\frac{\varepsilon}{2\cdot 3^{n-1}}e_1\right)$, mit $e_1=f-f_1$, überdeckt mit $\mathrm{vol}_n(U)= \varepsilon$. Folglich gilt $\lambda^*_n(W)=0$. Die Hyperebene $H_1$ wird von abzählbar vielen $(n-1)$-dimensionalen Einheitswürfeln $[z,z+f_1]$ mit $z\in\{0\}\times \mathbb Z^{n-1}$ überdeckt. Aus der $\sigma$-Subadditivität folgt $\lambda^*_n(H_1)=0$.
Es sein nun $a,b\in \mathbb R^n$ mit $a\lt b$ gegeben. Das offene Intervall $(a,b)\in \mathbb J^n$ wird durch sich überdeckt, somit folgt $$\lambda^*_n\left((a,b)\right)\le \mathrm{vol}_n(a,b).$$ Zum Beweis der umgekehrten Abschätzung müssen wir uns etwas mehr anstrengen. Es gilt $$[a,b]\subset (a,b)\cup\left( \cup_{j=1}^n H_j(a_j)\right)\cup\left( \cup_{j=1}^n H_j(b_j)\right),$$ wo $H_j(c):=\{x\in \mathbb R^n\mid x_j=c\}$ achsenparallele Hyperebenen beschreiben. Da das äußere Maß dieser Hyperebenen verschwindet, liefert die $\sigma$-Subadditivität $$\lambda^*_n\left([a,b]\right)\le \lambda^*_n\left((a,b)\right)+\sum_{j=1}^n\left(\lambda^*_n\left(H_j(a_j)\right)+\lambda^*_n\left(H_j(b_j)\right)\right)=\lambda^*_n\left((a,b)\right).$$ Die Inklusionskette $(a,b)\subset A\subset [a,b]$ impliziert die umgekehrte Abschätzung $$\lambda^*_n\left((a,b)\right)\le \lambda^*_n\left(A\right)\le \lambda^*_n\left([a,b]\right)$$ aufgrund der Monotonie des äußeren Maßes. Somit gilt Gleichheit der drei Werte.
Zu zeigen bleibt $\lambda^*_n\left([a,b]\right)\ge \mathrm{vol}_n(a,b).$
Behauptung: Für eine endliche Überdeckung $[a,b]\subset \cup_{j=1}^NI_j$ durch offene Intervalle $I_1,\ldots I_N\in \mathbb J^n$ gilt $$\mathrm{vol}_n\left([a,b]\right)\lt \sum_{j=1}^N\mathrm{vol}_n\left(I_j\right).$$ Aus dieser Behauptung folgt der Satz. Ist nämlich eine Überdeckungen des kompakten Intervalls $[a,b]$ durch offene Intervalle $I_j \in \mathbb J^n$, mit $j$ in einer abzählbaren Indexmenge $J$ gegeben, so existiert eine endliche Teilmenge $J'\subset J$ mit $[a,b]\subset \cup_{j\in J'}I_j$ und folglich $$\mathrm{vol}_n\left([a,b]\right)\lt \sum_{j\in J'} \mathrm{vol}_n\left(I_j\right)\le \sum_{j\in J} \mathrm{vol}_n\left(I_j\right).$$ Betrachten wir das Infimum, so erhalten wir $$\mathrm{vol}_n\left([a,b]\right)\le \lambda^*_n\left([a,b]\right).$$ Beweis der Behauptung. Ist $[a,b]=\prod_{j=1}^n[a_j,b_j]$, so zerlegen wir $[a_j,b_j]$ in $M$ abgeschlossene Teilintervalle gleicher Länge für alle $j\le n$ und erhalten so eine Zerlegung von $[a,b]$ in $M^n$ Teilintervalle $A_\ell=[c_\ell,d_\ell]$ mit $\mathrm{vol}_n(A_\ell)=1/M^n \mathrm{vol}_n\left([a,b]\right)$. Wählen wir $M$ groß genug, so existiert für jedes $A_\ell$ ein $j(\ell)\le N$ mit $A_\ell\subset I_{j(\ell)}$. Dies ist eine Konsequenz des Satzes 1.4.7 von der Lebesgue-Zahl. Für ein gegebenes $k\le N$ sei $L(k)=\{\ell\mid j(\ell)=k\}$ und $$\gamma_k=\min\{c_\ell\mid \ell\in L(k)\},\quad\delta_k=\max\{d_\ell\mid \ell\in L(k)\}.$$ Dann gilt $$\cup_{\ell\in L(k)}A_\ell \subset [\gamma_k,\delta_k] \subsetneqq I_k.$$ Insbesondere folgt $\sum_{\ell\in L(k)}\mathrm{vol}_n(A_\ell)\le \mathrm{vol}_n\left([\gamma_k,\delta_k]\right)\lt \mathrm{vol}_n(I_k)$ und damit die Behauptung.
qed

1.4.7. Satz von der Lebesgue-Zahl. Es sei $X$ ein kompakter metrischer Raum und $U_j, j\in J$ eine offene Überdeckung. Dann gibt es eine Zahl $\delta\gt 0$ derart, dass jede Teilmenge $A\subset X$ mit Durchmesser $\mathrm{diam}(A)\lt \delta$ in einer der Überdeckungsmengen $U_j$ enthalten ist.

Beweis. Wegen der Kompaktheit können wir annehmen, dass $J$ endlich ist. Besteht $J$ nur aus einer Menge, so ist nichts zu zeigen. Ansonsten induziert die Metrik $d$ stetige Funktionen $d_j\colon X\to\mathbb R$ mit $d_j(x):=d(x,X\setminus U_j)$. Das punktweise Maximum $f=\max_{j\in J}d_j$ ist stetig und nirgends verschwindend. Folglich nimmt $f$ auf dem Kompaktum $X$ ein Minimum $\delta\gt 0$ an. Dies $\delta$ hat die geforderte Eigenschaft.
qed

1.4.8. Satz. Es sei $F\colon \mathbb R\to \mathbb R$ eine monoton wachsende, linksseitig stetige Funktion. Für das Lebesgue-Stieltjessche äußere Maß gilt $\mu_F^*\left([a,b)\right)=F(b)-F(a)$ für alle $a,b\in \mathbb R$.

Beweis. Da das Intervall $[a,b)$ zur Überdeckungsklasse gehört, gilt $$\mu_F^*\left([a,b)\right)\le \nu_F\left([a,b)\right)=F(b)-F(a).$$ Zu zeigen bleibt die umgekehrte Ungleichung. Dazu geben wir uns eine Toleranzgrenze $\varepsilon\gt 0$ vor. Es sei nun $(I_j)_{j\in \mathbb N}$ eine Folge in der Überdeckungsklasse, d.h. $I_j=[a_j,b_j)$, welche $[a,b)$ überdeckt. Wegen der linksseitigen Stetigkeit von $F$ gibt es $\beta\lt b$ und $\alpha_j\lt a_j$ mit $$F(b)-F(\beta)\lt \varepsilon/2, \quad F(a_j)-F(\alpha_j)\lt \varepsilon/2^{j+1}\quad\text{ für } j\in \mathbb N$$ derart, dass das kompakte Intervall $[a,\beta]$ von den offenen Intervallen $\cup_j(\alpha_j, b_j)$ überdeckt wird. Wegen der Kompaktheit reichen endlich viele dieser Intervalle. Wir nehmen an, $J\subset \mathbb N$ sei die Indexmenge einer Teilüberdeckung minimaler Anzahl $\#J=N$. Ordnen wir die $N$ Zahlen $b_j$ mit $j\in J$ der Größe nach, so gilt wegen der Minimalität von $\#J$ die Ungleichungskette $$\alpha_{j_1}\lt a\lt \alpha_{j_2}\lt b_{j_1}\lt \alpha_{j_3}\lt b_{j_2}\lt \ldots \lt \alpha_{j_{k+1}}\lt b_{j_{k}} \lt \ldots \lt \alpha_{j_N}\lt b_{j_{N-1}} \lt \beta \lt b_{j_N}.$$ Nun impliziert die Monotonie von $F$ die Ungleichungen \begin{aligned}
F(\beta)-F(a) &\le F(b_{j_N})-F(\alpha_{j_1}) \le F(b_{j_N})-F(\alpha_{j_1})+\sum_{k=1}^{N-1}\left(F(b_{j_k})-F(\alpha_{j_{k+1}}\right)\\&=\sum_{k=1}^{N}\left(F(b_{j_k})-F(\alpha_{j_k})\right)\le \sum_{j=1}^{\infty}\left(F(b_{j})-F(\alpha_{j})\right).\end{aligned} Insgesamt erhalten wir \begin{aligned} F(b)-F(a)&= \left(F(b)-F(\beta)\right)+\left(F(\beta)-F(a)\right)\\& \le \varepsilon/2 + \sum_{j=1}^{\infty}\left(F(b_j)-F(\alpha_j)\right) \\
&\le \varepsilon/2 + \sum_{k=1}^{\infty}\left(F(b_j)-F(a_j)+\varepsilon/2^{k+1}\right)\\
&= \varepsilon+ \sum_{k=1}^{\infty}\left(F(b_j)-F(a_j)\right) .\end{aligned} Da dies für jedes $\varepsilon\gt 0$ richtig ist, finden wir schließlich \begin{aligned} F(b)-F(a)\le \sum_{k\in\mathbb N}\nu_F(I_j) .\end{aligned} Daraus folgt die Behauptung.
qed

Zuletzt besprechen wir kurz das Hausdorffsche äußere Maß auf Teilmengen des $\mathbb R^n$. Dazu studieren wir das Verhalten des äußeren Maßes unter Ähnlichkeitstransformationen $T\colon\mathbb R^n\to \mathbb R^n$, die charakterisiert sind durch $$\|T(x)-T(y)\|=\lambda\|x-y\|$$ für alle $x,y\in \mathbb R^n$ und einen fixierten Skalierungsfaktor $\lambda$.

1.4.9. Satz. Ist $T\colon\mathbb R^n\to \mathbb R^n$ eine Ähnlichkeitstransformation mit Skalierungsfaktor $\lambda\gt 0$, so gilt $A\subset \mathbb R^n$ die Gleichung $$\mathcal H^s\left(T(A)\right))=\lambda ^s\mathcal H^s(A).$$

Beweis. Ist $(U_j)_{j\in J}$ eine abzählbare Überdeckung von $A$ mit $U_j\in \mathcal T_\varepsilon$, so ist $\left(T(U_j)\right)_{j\in J}$ eine Überdeckung von $T(A)$ durch Elemente in $ \mathcal T_{\lambda\varepsilon}$ und es gilt $$\sum_J\left(\mathrm{diam}\left(T(U_j)\right)\right)^s =\lambda^s\sum_J\left(\mathrm{diam}(U_j)\right)^s .$$ Die $\mathcal T_\varepsilon$-Überdeckungen von $A$ werden durch $T$ bijektiv auf die $\mathcal T_{\lambda\varepsilon}$-Überdeckungen von $T(A)$ abgebildet. Deshalb gilt für das Infimum ebenfalls die Gleichheit $$\mathcal H^s_{\lambda\varepsilon}\left(T(A)\right)=\lambda^s\mathcal H^s_{\varepsilon}\left(A\right).$$ Im Grenzübergang $\varepsilon\to 0$ erhalten wir die behauptete Gleichung.
qed

1.4.10. Korollar. Wir versehen $\mathbb R^n$ mit der Norm $\|\,.\,\|_\infty$. Bezeichnet $I^n\subset \mathbb R^n$ den Einheitswürfel, so gilt $$\mathcal H^s_*(I^n)=\begin{cases}\infty&s\lt n\\1&s=n\\ 0& s\gt n.\end{cases}$$

Beweis. Versehen wir $\mathbb R^n$ mit der Norm $\|\,.\,\|_\infty$, so ist die Überdeckungsklasse eine Teilmenge der Lebeguesschen (nämlich Würfel als Teilmenge der achsenparallelen Parallelotope) und es ist $\eta^s \left(U\right)=\mathrm{vol}(U)^\frac{s}{n}$ für solche Würfel. Die Behauptung für $s=n$ folgt aus 1.4.6., denn es muss gelten $$\lambda^*_n (I^n)\le \mathcal H^n_\varepsilon(I^n)\le \mathrm{vol}_n(I^n).$$ Ist $s\neq n$, so führen wir die Annahme $0\lt \mathcal H^s_*(I^n)\lt \infty$ zum Widerspruch. Ist $s\gt n$, so zerlegen wir $I^n$ in $M^n$ viele Teilwürfel $W_M$ mit Kantenlänge $\frac1M$. Wegen der $\sigma$-Subadditivität gilt $$
\mathcal H^s_*(I^n) \le M^n \mathcal H^s_*(W_M) =M^n\cdot \left(\frac1M\right)^s\mathcal H^s_*(I^n) =M^{n-s}\mathcal H^s_*(I^n) .$$ Nach Annahme könnten wir kürzen und erhielten die Ungleichung $$1\le \lim_{M\to\infty}M^{n-s}=0.$$ Ist $s\lt n$, so überlegt man sich ein Argument für die entsprechende Übung.

qed

Bemerkung. In den Übungen wird gezeigt, dass Teilmengen $A$ von $\mathbb R^n$ eine Hausdorff-Dimension $$\dim_H(A):=\sup \left\{s\ge 0\mid \mathcal H_*^s(A)=\infty\right\}\cup\{0\}$$ zugeordnet werden kann. Allgemein gilt für das Hausdorffsche äußere Maß:$$\mathcal H^s_*(A)=\begin{cases}\infty&s\lt \dim_H(A)\\ 0&s\gt \dim_H(A),\end{cases}$$ Man kann leicht zeigen, dass für $A\subset B$ gilt $\dim_H(A)\le \dim_H(B)$. Insbesondere gilt für Teilmengen $A\mathbb R^n$ immer $\dim_H(A)\le n$. Im Folgenden soll eine Menge mit unerwarteter Hausdorff-Dimension vorgestellt werden.

1.4.11. Das Cantorsche Diskontinuum. Es bezeichne $E_0:=[0,1]$ das Einheitsintervall. Wir erhalten $E_1:=[0,\frac13]\cup[\frac23,1]\subset E_0$, indem wir aus dem Einheitsintervall $E_0$ das offene mittlere Drittel entfernen. Rekursiv erhalten wir $E_{n+1}\subset E_n$ aus $E_n$, indem wir aus den $2^n$ abgeschlossenen Teilintervallen der Länge $\left(\frac13\right)^n$ jeweils das offene mittlere Drittel entfernen. Das Cantorsche Diskontiuum erhält man als Durchschnitt $$C:=\cap_{n=0}^\infty E_n.$$

Inoffizielle Mitteilung. Die Cantormenge hat Hausdorff-Dimension $$s=\dim_H(C)=\frac{\log2}{\log3}$$ und es gilt $\mathcal H^s_\ast(C)=1$. Es würde viel zu weit führen, das Hausdorffsche äußere Maß für $s$ im Detail zu berechnen. Wir gehen hier nur auf die Ermittlung der Hausdorff-Dimension ein.

Argument zur Ermittlung der Dimension. Wir setzen zunächst $$C_L:=C\cap \left[0,\frac13\right],\quad C_R:=C\cap \left[\frac23,1\right].$$ Die Mengen $C_L$ und $C_R$ sind zu $C$ ähnlich und entstehen aus $C$ nach Skalierung um den Faktor $\frac13$. Es gilt wegen der Skalierungsinvarianz 1.4.9 also $$\mathcal H^s(C_L)=\mathcal H^s(C_R)=\left(\frac13\right)^s\mathcal H^s(C).$$ Da die beiden Mengen $C_L$ und $C_R$ eine Abstand $\ge \frac13$ voneinander haben, kann jede $\varepsilon$-Überdeckung von $C$ für $\varepsilon\lt \frac13$ eindeutig in eine disjunkte Vereinigung einer Überdeckung von $C_L$ und einer Überdeckung von $C_R$ (und in einer Vereinigung von Überdeckungsmengen, die weder $C_L$ noch $C_R$ treffen) zerlegt werden. Entsprechend gilt für alle $\varepsilon\lt\frac13$ die Gleichung $\mathcal H^s_\varepsilon(C)=\mathcal H_\varepsilon^s(C_L)+\mathcal H_\varepsilon^s(C_R)$ und im Grenzwert $\varepsilon\to 0$ folglich $$\mathcal H^s(C)=\mathcal H^s(C_L)+\mathcal H^s(C_R)=2\left(\frac13\right)^s\mathcal H^s(C).$$ Ist also $s=\dim_H(C)$, so können wir unter der Annahme$$0\lt\mathcal H^s(C)\lt\infty$$ diese letzte Gleichung kürzen und erhalten $$1=2\left(\frac13\right)^s\quad\text{ bzw. } \quad s=\frac{\log2}{\log3}.$$

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