1.5. Messbare Mengen

Hier kommt nun das Kriterium, das es uns erlaubt, diejenigen Elemente aus der Potenzmenge zu entfernen, welche ein gegebenes äußeres Maß daran hindern, $\sigma$-additiv, und damit ein Maß zu sein.

1.5.1. Definition. Es sei $\mu^*\colon \mathfrak P(X)\to [0,\infty]$ ein äußeres Maß auf einer Menge $X$. Eine Teilmenge $A\subset X$ heißt $\mu^*$-messbar, oder kurz messbar, wenn für jede Teilmenge $D\subset X$ gilt $$\mu^*(D)\ge \mu^*(D\cap A)+\mu^*\left(D\cap (X\setminus A)\right).$$ Wir bezeichnen die Menge aller $\mu^*$-messbaren Mengen mit $\mathfrak A(\mu^*)$. Gilt $\mu^*(N)=0$ für eine Teilmenge $N\subset X$, so nennt man $N$ eine $\mu^*$-Nullmenge.

Das Zeichen $\ge$ in der Definition der $\mu^*$-Meßbarkeit von Mengen könnte ohne Weiteres durch ein $=$ ersetzt werden, denn wegen $D=(D\cap A)\cup \left(D\cap(X\setminus A)\right)$ bewirkt die $\sigma$-Subadditivität des äußeren Maßes die umgekehrte Abschätzung $$\mu^*(D)\le \mu^*(D\cap A)+\mu^*\left(D\cap (X\setminus A)\right).$$

1.5.2. Bemerkung. Jede $\mu^*$-Nullmenge $N$ ist messbar. Denn sei $D\subset X$ eine Teilmenge, so folgt aus der Monotonie von $\mu^*$ die Abschätzung $0\le\mu^*(D\cap N)\le \mu^*(N)=0$. Folglich ist auch $D\cap N$ eine $\mu^*$-Nullmenge. Einsetzen in unserem Messbarkeitstest liefert $$
\mu^*(D\cap N)+\mu^*\left(D\cap(X\setminus N)\right)=\mu^*\left(D\cap(X\setminus N)\right)\le \mu^*\left(D\right).$$ Die Ungleichung folgt wiederum aus der Monotonie von $\mu^*$.

1.5.3. Satz von Carathéodory. Es sei $\mu^*$ ein äußeres Maß auf $X$. Dann bildet die Menge $\mathfrak A(\mu^*)$ der $\mu^*$-messbaren Teilmengen von $X$ eine $\sigma$-Algebra, und $\mu:=\mu^*|_{\mathfrak A(\mu^*)}$ ist ein Maß auf $\mathfrak A(\mu^*)$, das von $\mu^*$ induzierte Maß.

Beweis. Wir schreiben kurz $\mathfrak A$ für $\mathfrak A(\mu^*)$ und $A^c$ für $X\setminus A$. Der Beweis ist in vier Schritte unterteilt.

  1. $\mathfrak A$ ist eine Algebra. Offenbar gehört $\emptyset$ zu $\mathfrak A$. Weil die Definition der $\mu^*$-Messbarkeit symmetrisch in $A$ und dem Komplement $A^c$ ist, ist $\mathfrak A$ abgeschlossen gegenüber Komplementbildung. Sind $A,B\in \mathfrak A$, so impliziert die folgende Abschätzung $A\cup B\in\mathfrak A$. Für $D\subset X$ gilt nämlich \begin{align} \tag{*}\mu^*(D)
    &\ge \mu^*(D\cap A)+\mu^*\left(D\cap A^c\right)\\
    \tag{**}&\ge \mu^*(D\cap A)+\mu^*\left(D\cap A^c\cap B\right)+\mu^*\left(D\cap A^c\cap B^c\right)\\
    \tag{***}&\ge \mu^*\left(D\cap (A\cup B)\right)+\mu^*\left(D\cap \left(A\cup B)^c\right)\right)
    \end{align} Die Ungleichungen $(*)$ und $(**)$ benutzen die $\mu^*$-Messbarkeit von $A$ und von $B$, wobei der zweite Messbarkeitstest mit der Menge $D'=D\cap A^c$ durchgeführt wird. Die Ungleichung $(***)$ benutzt die Identität $A^c\cap B^c=(A\cup B)^c$ und die Subadditivität von $\mu^*$ bezüglich der Zerlegung $$D\cap(A\cup B) = \left(D\cap A\right) \cup \left( D\cap \left(A^c\cap B\right)\right) .$$
  2. $\mu^*|_{\mathfrak A}$ ist additiv. Wir zeigen etwas mehr: Es seien $A,B\in \mathfrak A$ zueinander disjunkt und $D\in \mathfrak P(X)$. Der Messbarkeitstest für $A$ bezüglich der Teilmenge $D'=D\cap(A\sqcup B)$ liefert, zusammen mit der Subadditivität, die Gleichung \begin{align}\mu^*\left(D\cap (A\sqcup B)\right)&= \mu^*\left(D\cap(A\sqcup B)\cap A\right)+\mu^*\left(D\cap(A\sqcup B)\cap A^c\right)\\ \tag{§}&=\mu^*\left(D\cap A\right)+\mu^*\left(D\cap B\right).\end{align} Im Spezialfall $D=X$ erhalten wir die Additivität $$\mu^*\left(A\sqcup B)\right)= \mu^*\left( A\right)+\mu^*\left( B\right).$$
  3. $\mathfrak A$ ist eine $\sigma$-Algebra. Es sei $(A_j)_{j\in J}$ eine abzählbare Familie von paarweise disjunkten Elementen in $\mathfrak A$. Wir müssen zeigen, dass gilt $A:=\sqcup_{j\in J}A_j\in \mathfrak A$. Weil $\mathfrak A$ eine Algebra ist, gilt $\sqcup_{j\in J'}A_j\in \mathfrak A$ für jede endliche Teilmenge $J'\subset J$. Insbesondere gilt für $D\subset X$ \begin{align}
    \mu^*(D)&\ge \mu^*\left(D\cap (\sqcup_{j\in J'}A_j)\right)+ \mu^*\left(D\cap (\sqcup_{j\in J'}A_j)^c\right)\\
    &\ge \left(\sum_{j\in J'}\mu^*\left(D\cap A_j\right)\right)+ \mu^*\left(D\cap A^c\right)
    \end{align} Die Gleichheit der jeweiligen ersten Summanden ergibt sich induktiv aus $(§)$. Die jeweiligen zweiten Summanden lassen sich wegen der Monotonie von $\mu^*$ gegeneinander abschätzen. Da diese Abschätzung für jede endliche Indexmenge $J'\subset J$ gilt, muss sie auch für den Grenzwert gelten \begin{align}
    \mu^*(D) &\ge \left(\sum_{j\in J}\mu^*\left(D\cap A_j\right)\right)+ \mu^*\left(D\cap A^c\right)\\
    &\ge \mu^*\left(D\cap A\right)+ \mu^*\left(D\cap A^c\right)\end{align} Die letzte Ungleichung hier erhalten wir aus der Subadditivität von $\mu^*$. Die Behauptung folgt.
  4. $\mu^*|_{\mathfrak A}$ ist $\sigma$-additiv. Es sei wiederum $(A_j)_{j\in J}$ eine abzählbare Familie von paarweise disjunkten Elementen in $\mathfrak A$ und $A:=\sqcup_{j\in J}A_j$. Ist $J'\subset J$ eine endliche Teilmenge, so gilt $$\mu^*(A)\ge \mu^*\left(\sqcup_{j\in J'}A_j\right)=\sum_{j\in J'}\mu^*\left(A_j\right).$$ Hier werden zuerst die Monotonie von $\mu^*$, danach die Additivität benutzt. Die Ungleichung gilt für jede endliche Teilmenge, also auch für den Grenzwert $$\mu^*(A)\ge \sum_{j\in J}\mu^*\left(A_j\right).$$ Die $\sigma$-Subadditivität von $\mu^*$ liefert schließlich die umgekehrte Abschätzung.

qed

1.5.4. Bemerkung. Das mittels des Satzes von Carathéodory konstruierte Maß $\mu$ ist vollständig in folgendem Sinn: Ist $N$ eine $\mu$-Nullmenge, so ist jede Teilmenge von $N$ messbar. Dies folgt aus der obigen Bemerkung 1.5.2.

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Nachdem nun die Existenz von Maßen durch die Konstruktion vermittels äußerer Maße gesichert ist, stellt sich die Frage der Eindeutigkeit. Ein hinreichendes Kriterium liefert der Satz von Hahn. Dieser wird später im Laufe der Vorlesung (2.6.7.) formuliert und bewiesen werden.

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