1.2. Messbare Abbildungen

1.2.1. Definition. Es seien $(X,\mathfrak A)$ und $(Y,\mathfrak C)$ messbare Räume und $f\colon X\to Y$ eine Abbildung. Wir nennen $f$ messbar, wenn für jedes $C\in \mathfrak C$ gilt $f^{-1}(C)\in \mathfrak A$.

Meist betrachten wir messbare Abbildungen in topologische Räume, insbesondere in normierte Vektorräume.

1.2.2. Bemerkungen.

  • Kompositionen messbarer Abbildungen sind offenbar messbar.
  • Wir können die Messbarkeit von Abbildungen auch anders formulieren: Eine Abbildung $f\colon X\to Y$ ist genau dann messbar, wenn eine der folgenden, äquivalenten Bedingungen erfüllt ist:
    • Es gilt $f^{-1}(\mathfrak C)\subset \mathfrak A$.
    • Es gilt $f_*(\mathfrak A)\supset \mathfrak C$.

1.2.3. Proposition. Ist $(X,\mathfrak A)$ ein messbarer Raum und $Y$ ein topologischer Raum, versehen mit der Borelschen $\sigma$-Algebra. Dann ist eine Abbildung $f\colon X\to Y$ genau dann messbar, wenn für jede offene Menge $U\subset Y$ das Urbild $f^{-1}(U)$ messbar ist. Insbesondere sind stetige Abbildungen zwischen topologischen Räumen messbar bezüglich der Borelschen $\sigma$-Algebren.

Beweis. Da die offenen Teilmengen von $Y$ in der $\sigma$-Algebra $f_*(\mathfrak A)$ enthalten sind, gilt dies auch für die von den offenen Mengen erzeugte Borelsche $\sigma$-Algebra $\mathfrak B(Y)\subset f_*(\mathfrak A)$.
qed.

1.2.4. Proposition. Es sei $f=(f_1,f_2)\colon X\to Y_1\times Y_2$ eine Abbildung eines messbaren Raums $(X,\mathfrak A)$ in ein Produkt topologischer Räume $Y_i$, $i\in \{1,2\}$. Es seien $\pi_i\colon Y_1\times Y_2\to Y_i$ die beiden Projektionen. Die Räume $Y_i$ und $Y_1\times Y_2$ seien jeweils versehen mit der Borelschen $\sigma$-Algebra.

  • Ist $f$ messbar, so auch die beiden Koordinatenabbildungen $f_i=\pi_i\circ f$.
  • Es seien $f_1$ und $f_2$ jeweils messbar, und es gelte, dass jede offene Menge in $Y_1\times Y_2$ eine abzählbare Vereinigung offener Mengen der Form $V_1\times V_2$ ist für offene Mengen $V_i\subset Y_i$. Dann ist auch $f$ messbar.

Beweis. Die beiden Abbildungen $\pi_i$ sind stetig, also auch messbar. Kompositionen messbarer Abbildungen sind messbar. Somit folgt aus der Messbarkeit von $f$ die Messbarkeit der Abbildungen $f_i$.
Sind umgekehrt die beiden Abbildungen $f_i$ messbar, so gilt für offene Teilmengen $V_i\subset Y_i$ die Gleichung $$f^{-1}(V_1\times V_2)=f_1^{-1}(V_1)\cap f_2^{-1}(V_2).$$ Also ist auch $f^{-1}(V_1\times V_2)$ messbar. Ist $U\subset Y_1\times Y_2$ eine beliebige offene Teilmenge, so lässt sich $U$ nach unserer Voraussetzung als abzählbare Vereinigung offener Mengen der Form $V_1\times V_2$ darstellen. Damit ist auch $f^{-1}(U)$ abzählbare Vereinigung von Mengen der Form $f^{-1}(V_1\times V_2)$ und folglich messbar.
qed.

1.2.5. Bemerkungen. Es sei $(X,\mathcal T)$ ein topologischer Raum. Eine Teilmenge $\mathcal B\subset T$ heißt Basis der Topologie, falls jede offene Menge in $X$ eine Vereinigung von Elementen von $\mathcal B$ ist. Ist $(X',\mathcal T')$ ein weiterer topologischer Raum, so bildet die Menge $\{U\times U'\mid (U,U')\in \mathcal B\times \mathcal B'\}$ eine Basis der Produkttopologie auf $X\times X'$, falls $\mathcal B$ und $\mathcal B'$ Basen der Topologien der Faktoren sind. Die Bedingung, die in 1.2.4. an die offenen Mengen des Produktraumes gestellt wird, ist also insbesondere erfüllt, falls die beiden Faktoren jeweils abzählbare Basen der Topologie besitzen. Hier sind einige Beispiele von Räumen mit abzählbarer Basis der Topologie:

  • Der euklidische Raum $\mathbb R^n$, und folglich jeder endlich dimensionale reelle oder komplexe Vektorraum, besitzt eine abzählbare Basis der Topologie, zum Beispiel $$\{U_{1/n}(x) \mid x\in\mathbb Q^n\subset \mathbb R^n\}.$$
  • Allgemeiner besitzt jeder metrische Raum, der eine dichte abzählbare Teilmenge enthält, eine abzählbare Basis der Topologie. Man nennt derartige metrische Räume separabel.
  • Insbesondere besitzt jeder normierte Vektorraum, der einen dichten linearen Untervektorraum mit abzählbarer Basis besitzt, eine ebenfalls abzählbare Basis der Topologie. Viele der in der Analysis auftauchenden Banachräume und Hilberträume sind von dieser Bauart.
  • Die Existenz einer abzählbaren Basis der Topologie vererbt sich auf Unterräume.

1.2.6. Definition. Es sie $(A_n)_{n\in \mathbb N}$ eine Folge von Teilmengen in $X$. Der Limes superior dieser Folge ist die Menge $$\limsup_{n\to \infty}A_n:=
\{x\in X\mid x\in A_n\text{ für unendlich viele }n\in\mathbb N \}, $$ und der Limes inferior bezeichnet die Menge $$\liminf_{n\to \infty}A_n:=
\{x\in X\mid \exists n_0(x)\in\mathbb N \colon x\in A_n \forall n\ge n_0(x) \}. $$

Offenbar gilt $$\limsup_{n\to \infty}A_n=\cap_{n=1}^\infty\cup_{k=n}^\infty A_k, \quad \liminf_{n\to \infty}A_n=\cup_{n=1}^\infty\cap_{k=n}^\infty A_k$$ und insbesondere $$\liminf_{n\to \infty}A_n\subset \limsup_{n\to \infty}A_n.$$ Man nennt die Folge konvergent, falls gilt $$\liminf_{n\to \infty}A_n = \limsup_{n\to \infty}A_n.$$

1.2.7. Proposition. Es sei $f\colon X\to Y$ eine Abbildung eines messbaren Raumes in einen metrischen Raum, versehen mit der Borelschen $\sigma$-Algebra, und $(f_n)$ eine Folge messbarer Abbildungen von $X$ nach $Y$, welche punktweise gegen $f$ konvergiert. Dann ist $f$ messbar.

Beweis. Wir müssen zeigen, dass für offene Teilmengen $V\subset Y$ das Urbild $f^{-1}(V)\subset X$ messbar ist. Wir machen das in drei Schritten.

  1. Es sei $U\subset Y$ offen und es gelte $x\in f^{-1}(U)$. Da die Folge $f_n(x)$ gegen $f(x)$ konvergiert, sind die Folgenglieder $f_n(x)\in U$ für alle genügend große $n$. Somit gilt $$f^{-1}(U)\subset \liminf_{n\to\infty}\,f_n^{-1}(U).$$
  2. Sei nun $A\subset Y$ abgeschlossen. Ist $x\in \limsup_{n\to\infty}f_n^{-1}(A)$, so sind unendlich viele Folgenglieder der konvergenten Folge $f_n(x)$ in der abgeschlossenen Menge $A$ enthalten, und folglich auch der Grenzwert. Somit gilt $$ \limsup_{n\to\infty}\,f_n^{-1}(A)\subset f^{-1}(A).$$
  3. Sei nun $V\subset Y$ eine beliebige offene Menge. Für jedes $k\in \mathbb N$ setzen wir $$V_k:=\{y\in Y\mid d(y,Y\setminus V)\gt 1/n\} \text{ und } A_k:=\{y\in Y\mid d(y,Y\setminus V)\ge 1/n\}.$$ Die Mengen $V_k$ sind offen in $Y$, die Mengen $A_k$ abgeschlossen mit $V_k\subset \overline{V_k}\subset A_k$, und es gilt $$V=\cup_{k=1}^\infty V_k=\cup_{k=1}^\infty A_k.$$ Insgesamt erhalten wir eine Kette von Inklusionen \begin{aligned} f^{-1}(V)&=\cup_{k=1}^\infty f^{-1}(V_k)\,\subset\, \cup_{k=1}^\infty \liminf_{n\to\infty}\,f_n^{-1}(V_k)
    \subset \cup_{k=1}^\infty \limsup_{n\to\infty}\,f_n^{-1}(V_k) \\&\subset \cup_{k=1}^\infty \limsup_{n\to\infty}\,f_n^{-1}(A_k)\subset \cup_{k=1}^\infty f^{-1}(A_k)=f^{-1}(V).\end{aligned}

Die Enthaltenskette beginnt und endet mit derselben Menge. Folglich sind alle Enhaltensrelationen Gleichheiten. Damit ist $f^{-1}(V)$ darstellbar durch abzählbar viele Mengenoperationen auf messbaren Mengen und folglich messbar.
qed.

1.2.8. Definition. Eine Abbildung $f\colon X\to Y$ eine Abbildung eines messbaren Raumes in eine Menge nennen wir einfach, wenn $f$ nur endlich viele Werte in $Y$ annimmt und das Urbild $f^{-1}(y)\subset X$ messbar ist für jedes $y\in Y$.

Offenbar ist eine solche einfache Abbildung messbar bezüglich jeder $\sigma$-Algebra auf $Y$.

1.2.9. Satz. Es sei $(X,\mathfrak A)$ ein messbarer Raum und $f\colon X\to\mathbb R^p$ eine Abbildung. Die Abbildung $f$ ist genau dann messbar bezüglich der Borelschen $\sigma$-Algebra auf $\mathbb R^p$, wenn sie punktweiser Grenzwert einer Folge $(f_n)_{n\in \mathbb N}$ einfacher Abbildungen ist.

Beweis. Dass der punktweise Grenzwert einer Folge messbarer Abbildungen wieder messbar ist, haben wir bereits in Proposition 1.2.7. gesehen. Es bleibt zu zeigen, dass jede messbare Abbildung nach $\mathbb R^p$ als Grenzwert einer Folge einfacher Funktionen dargestellt werden kann. Da $\mathbb R$ eine abzählbare Basis der Topologie besitzt, reicht es nach Proposition 1.2.4., die Aussage für den Fall $p=1$ zu beweisen, also für reellwertige Funktionen.
Sei nun $f\colon X\to \mathbb R$ eine messbare Funktion. Für ein gegebenes $n\in \mathbb N$ Zerlegen wir das Intervall $[-n,n)$ in Teilintervalle der Länge $\frac1{2^n}$ und nennen diese $J_1,\ldots, J_N$. Wir wählen die Intervalle $J_k$ links abgeschlossen und rechts offen. Es sei $J_0:=(-\infty, -n)$ und $J_{N+1}:=[n,\infty)$. Die Intervalle $J_0,\ldots, J_{N+1}$ sind Borelsche Mengen, paarweise disjunkt und überdecken $\mathbb R$. Folglich sind für $k\in \{0,\ldots,N+1\}$ die Mengen $A_k:=f^{-1}(J_k)$ jeweils messbar, paarweise disjunkt, und zusammen überdecken sie $X$. Wir definieren die Funktion $$f_n\colon X\to \mathbb R, \quad x\mapsto \begin{cases}-n& \text{ für }x\in A_0\\ \inf_{y\in A_k}f(y) & \text{ für }x\in A_k, 1\le k\le N\\ n &\text{ für }x\in A_{N+1}.\end{cases}$$ Nach Konstruktion konvergiert die Folge $(f_n)$ einfacher Funktionen punktweise gegen $f$
qed.

1.2.10. Korollar. Es sei $(X,\mathfrak A)$ ein messbarer Raum und $f\colon X\to [0,\infty)$ eine messbare, nichtnegative Funktion. Dann ist $f$ punktweiser Limes einer monoton steigenden Folge einfacher Funktionen.

Beweis: Die im Beweis von 1.2.9. konstruierte Funktionenfolge ist unter den gegebenen Voraussetzungen monoton steigend.
qed.

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