Satz 1.7.4. Die allgemeine quadratische Gleichung $$
a x^2 + 2 b x + c=0
$$ mit komplexen Zahlen $a,b,c$ und $a\not=0$ hat eine Lösung in $\mathbb C$.
Beweis. Quadratische Ergänzung liefert für die Lösung die Formel
$$
x=\frac{1}{a}\left(-b\pm\sqrt{b^2-a c}\right).
$$ Falls die Diskriminante $D=b^2-ac$ reell ist, haben wir eine Wurzel konstruiert, nämlich $\sqrt{D}\in \mathbb R$, falls gilt $D\ge 0$ und $\sqrt{-D}\cdot i\in \mathbb C$, falls $D$ negativ ist. Es bleibt zu zeigen, dass die Gleichung $w^2=D$ für $D\in \mathbb C\setminus \mathbb R$ lösbar ist. Schreiben wir $D=|D|\cdot \delta$ mit $\delta=\frac{D}{|D|}$, so erhalten wir mit \[\nu=\frac{1+\delta}{|1+\delta|}\] die Lösung $w=\sqrt{|D|}\nu$. Tatsächlich rechnen wir nach \[
\nu^2
=
\frac{(1+\delta)^2}{|1+\delta|^2}
=
\frac{(1+\delta)^2}{(1+\delta)\overline{(1+\delta)}}
=
\frac{1+\delta}{1+\overline{\delta}}
=
\frac{\overline{\delta}\delta+\delta}{1+\overline{\delta}}
=
\delta.
\]qed
Der Ansatz $\nu=\frac{1+\delta}{|1+\delta|}$ kommt aus der geometrischen Anschauung: Die Diagonale in einem gleichseitigem Parallelogramm, d.h. auf gut bayerisch in einer Raute, ist die Winkelhalbierende.
Zur Lösung der allgemeinen kubischen Gleichung $$
a x^3 + 3 b x^2 + 3cx +d=0
$$ mit komplexen Zahlen $a,b,c,d$ und $a\not=0$ geht man nach Cardano wie folgt vor:
Im ersten Schritt vereinfacht man die Gleichung durch kubische Ergänzung zu einer Gleichung der Form \[y^3=3\alpha y+2\beta.\] Dazu teilt man die Gleichung durch $a$ und setzt $y=x+\frac{b}a$. Als neue Koeffizienten erhält man $\alpha=\frac{b^2-ac}{a^2}$ und \(\beta=\frac{3abc-2b^3-a^2d}{2a^3}\). Man löst diese Gleichung mit dem Ansatz $y=u+v$. Daraus erhält man \[y^3=(u+v)^3=3uvy+(u^3+v^3).\] Durch Koeffizientenvergleich erhalten wir die Gleichungen \[uv=\alpha, \quad u^3+v^3=2\beta\] zur Bestimmung von $u$ und $v$. Multiplikation mit $u^3$ liefert \[ 2\beta u^3=u^6+u^3v^3=u^6+\alpha^3.\] Das ist eine quadratische Gleichung für $u^3$. Auf die übliche Weise finden wir also \[u=\sqrt[3]{\beta+\sqrt{\beta^2-\alpha^3}}\] und am Ende \[y=u+\frac{\alpha}{u}.\]
Beispiel. Die Gleichung $x^3=15x+4$ hat die reelle Lösung $x=4$. Die Cardanische Formeln liefern das Problem, eine dritte Wurzel aus einer komplexen Zahl zu ziehen: \[u=\sqrt[3]{2+\sqrt{4-125}}=\sqrt[3]{2+11i}.\] Mit $(2+i)^3=2+11i$ findet man tatsächlich \(x=(2+i)+\frac{5}{2+i}=(2+i)+(2-i)=4\). In diesem Beispiel findet man eine reelle Lösung über den Umweg über komplexe Zahlen.
Man kann sich nun fragen, ob man zum Finden von Nullstellen anderer polynomialer Gleichungen den Körper der komplexen Zahlen noch mehr erweitern muss. Dies ist nicht der Fall. Das ist die Aussage des folgenden, berühmten Satzes, der später im Laufe der Vorlesung bewiesen werden soll.
Fundamentalsatz der Algebra 1.7.5 Jedes Polynom $$X^n+a_1X^{n-1}+\ldots+a_n=0$$ mit komplexen Koeffizienten $a_1,\ldots,a_n$ und $ n\in \mathbb N$ besitzt mindestens eine komplexe Nullstelle.
Anders als im Fall von quadratischen oder kubischen Gleichungen lassen sich für polynomiale Gleichungen von Ordnung größer oder gleich 5 keine geschlossenen Formeln für die Lösung angeben. Mehr noch kann man beweisen, dass es keine derartigen geschlossenen Formeln geben kann. Aber das ist eine andere Geschichte und soll in einer anderen Vorlesung erzählt werden.