Definition. Es sei $K$ ein Körper. Ein Polynom $$f=f_nX^n+f_{n-1}X^{n-1}+\ldots+f_0\in K[X]$$ heißt normiert, wenn der Leitkoeffizient $f_n=1$ ist. Ein normiertes, nicht konstantes Polynom $f$ heißt irreduzibel, wenn es keine normierten und nicht konstanten Polynome $g,h\in K[X]$ kleineren Grades gibt mit $f=gh$.
Der Fundamentalsatz der Algebra besagt, dass jedes normierte, nicht konstante Polynom $f\in \mathbb C[X]$ sich zerlegen lässt $$f=(X-z_1)^{n_1}\cdot\ldots\cdot(X-z_s)^{n_s}$$ mit komplexen Nullstellen $z_i$ mit Vielfachheiten $n_i\in \mathbb N$. Die Nullstellen, wie auch die zugehörigen Vielfachheiten sind durch $f$ eindeutig festgelegt. Die einzigen irreduziblen komplexen Polynome sind also vom Grad $1$. Im Reellen ist jedes quadratische Polynom $f=X^2+2uX+v$ mit Diskriminante $D=u^2-v\lt 0$ irreduzibel, denn wäre es zerlegbar $f=gh$, so müssten $g$ und $h$ lineare Polynome sein, d.h. $f$ müsste reelle Nullstellen haben. Die einzigen Nullstellen sind aber bekanntlich $\pm i\sqrt{-D}$. Im Folgenden nehmen wir an, der Fundamentalsatz der Algebra sei schon bewiesen. Im kommenden Semester wird der Beweis bei geeigneter Gelegenheit nachgeholt.
Ist $f=f_nX^n+\ldots+f_0$ ein komplexes Polynom, so bezeichnet man mit $$\overline{f}=\overline{f}_nX^n+\ldots+\overline{f}_0$$ das zu $f$ konjugierte komplexe Polynom. Offensichtlich gilt
- $\overline{f+g}=\overline{f}+\overline{g}$ und $\overline{fg}=\overline{f}\cdot\overline{g}$
- $\overline{f(z)}=\overline{f}(\overline{z})$
- $\overline{f}=f$ genau dann, wenn $f\in\mathbb R[X]$.
Jedes relle normierte Polynom $g\in \mathbb R[X]$ ist natürlich auch ein komplexes und besitzt als solches eine Zerlegeung mit komplexen Nullstellen $$g(X)=(X-z_1)^{n_1}\cdot\ldots\cdot(X-z_s)^{n_s}.$$ Konjugieren wir das Polynom, so erhalten wir $$g(X)=\overline{g}(X)=(X-\overline{z}_1)^{n_1}\cdot\ldots\cdot(X-\overline{z}_s)^{n_s}.$$ Aus der Eindeutigkeit der Faktorzerlegung folgt für jede Nullstelle $z_i$:
- Entweder ist $z_k$ reell,
- oder es gibt einen eindeutig bestimmten Index $l\not=k$ mit $z_l=\overline{z}_k$ und $n_l=n_k$.
Die Nullstellen von $g$ sind also entweder reell oder sie kommen in Paaren $(z_k,\overline{z}_k)$ komplex konjugierter Zahlen. Es gilt $$(X-z_k)(X-\overline{z}_k)=X^2-2\Re(z_k)X+|z_k|^2=X^2+2u_kX+v_k.$$
Insgesamt können wir also aus dem Fundamentalsatz der Algebra folgern:
Korollar 4.5.1. Ist $g\in \mathbb R[X]$ ein normiertes Polynom, so existiert eine Zerlegung $$g(X)=\prod_{k=1}^s(X-x_k)^{n_k}\prod_{l=1}^t(X^2+2u_lX+v_l)^{m_l}$$mit paarweise verschiedenen irreduziblen Faktoren aus $\mathbb R[X]$. Die Zerlegung ist eindeutig bis auf die Anordnung der Faktoren.
Beispiel. Es sei $\tau=\exp(2\pi i/8)=(1+i)/\sqrt{2}$. Das Polynom $X^4+1$ besitzt die vier komplexen Nullstellen $\tau,\tau^3,\tau^5,\tau^7$. Die Zerlegung in reelle irreduzible Faktoren ist $$X^4+1=\left[(X-\tau)(X-\tau^7)\right]\left[(X-\tau^3)(X-\tau^5)\right]=(X^2-\sqrt{2}X+1)(X^2+\sqrt{2}X+1).$$
Es sei im Folgenden $\mathbb K \in \{\mathbb C, \mathbb R\}$.
Lemma 4.5.2. Es sei $g\in \mathbb K[X]$ ein nicht konstantes, normiertes Polynom, $z\in \mathbb K$ eine Nullstelle von $g$ der Vielfachheit $n$ und $h\in \mathbb K[X]$ so, dass gilt $g(X)=(X-z)^nh(X)$. Zu jedem Polynom $f\in \mathbb K[X]$ existieren eindeutig bestimmte $b\in \mathbb K$ und ${\phi}\in \mathbb K[X]$ derart, dass $$\frac{f(X)}{g(X)}=\frac{b}{(X-z)^n}+\frac{{\phi}(X)}{(X-z)^{n-1}h(X)}.$$
Beweis. Wenn es überhaupt $b$ und $\phi$ mit den verlangten Eigenschaften gibt, so muss gelten $$f(X)=bh(X)+(X-z)\phi(X).$$ Dadurch ist $b$ eindeutig festgelegt: $b=f(z)/h(z)$. Definiert man umgekehrt $b$ auf diese Weise, so hat das Polynom $f(X)-bh(X)$ bei $z$ eine Nullstelle. Durch Polynomdivision erhalten wir das eindeutig bestimmte Polynom $$\phi(X)=\frac{f(X)-bh(X)}{(X-z)}.$$qed
Lemma 4.5.3. Es sei $g\in \mathbb R[X]$ ein nicht konstantes, normiertes Polynom, $z\in \mathbb C\setminus \mathbb R$ eine komplexe, nicht reelle Nullstelle von $g$ der Vielfachheit $n$ und $(X-z)(X-\overline{z})=X^2+2uX+v$. Ferner sei $h\in \mathbb R[X]$ so, dass gilt $g(X)=(X^2+2uX+v)^nh(X)$. Zu jedem Polynom $f\in \mathbb R[X]$ existieren eindeutig bestimmte $b,c\in \mathbb R$ und $\phi\in \mathbb R[X]$ derart, dass $$\frac{f(X)}{g(X)}=\frac{bX+c}{(X^2+2uX+v)^n}+\frac{\phi(X)}{(X^2+2uX+v)^{n-1}h(X)}.$$
Beweis. Wenn es überhaupt $b,c$ und $\phi$ mit den verlangten Eigenschaften gibt, so muss gelten $$f(X)=(bX+c)h(X)+(X^2+2uX+v)\phi(X).$$ Dadurch sind $b$ und $c$ eindeutig als Lösungen des Gleichungssystems festgelegt: \begin{aligned}f(z)/h(z)&=&bz+c\\f(\overline{z})/h(\overline{z})&=&b\overline{z}+c\end{aligned} festgelegt: $$b=\frac{f(z)/h(z)-f(\overline{z})/h(\overline{z})}{z-\overline{z}},\quad c=\frac{\overline{z}f(z)/h(z)-zf(\overline{z})/h(\overline{z})}{\overline{z}-z}.$$Definiert man umgekehrt $b$ und $c$ auf diese Weise, so sind $b$ und $c$ reell und das Polynom $f(X)-(bX+c)h(X)$ hat bei $z$ und $\overline{z}$ je eine Nullstelle, spaltet also einen reellen Faktor $(X^2+2uX+v)$ ab $$f(X)-(bX+c)h(X)=(X^2+2uX+v)\phi(X).$$qed
Satz über die Partialbruchzerlegung 4.5.4. Es seien $f,g\in \mathbb R[X]$, und $g$ normiert. Es sei $$g(X)= \prod_{k=1}^s(X-x_k)^{n_k}\prod_{l=1}^t(X^2+2u_lX+v_l)^{m_l}$$ die Zerlegung von $g$ in irreduzible Faktoren, also $u_l^2-v_l\lt 0$. dann gibt es eindeutig bestimmte reelle Zahlen $a_{kj}$, $b_{lp}$ und $c_{lp}$ und ein eindeutig bestimmtes reelles Polynom $r\in\mathbb R[X]$ mit $$
\frac{f}g=r+\sum_{k=1}^s\sum_{j=1}^{n_k}\frac{a_{kj}}{(X-x_k)^j}+\sum_{l=1}^t\sum_{p=1}^{m_l}\frac{b_{lp}X+c_{lp}}{(X^2+2u_lX+v_l)^p}.$$
Beweis. Wir beweisen Existenz und Eindeutigkeit durch Induktion nach dem Grad von $g$. Ist der Grad von $g$ gleich $0$, also $g=1$, so ist nichts weiter zu zeigen.
Wir nehmen an, die Behauptung sei wahr für alle rationalen Funktionen mit einem Nenner vom Grad kleiner als dem Grad von $g$. Hat $g$ eine reelle Nullstelle in $x_1$ der Multiplizität $n_1$, so gibt es nach Lemma 4.5.2 ein eindeutig bestimmtes $b=:a_{1,{n_1}}$ derart, dass $$\frac{f}g=\frac{b}{(X-x_1)^{n_1}}+\frac{\phi(X)}{g(X)/(X-x_1)}.$$ Subtrahieren wir $\frac{b}{(X-x_1)^{n_1}}$ von $\frac{f}g$, so hat der Rest einen Nenner kleineren Grades als $g$.
Hat $g$ ein Paar konjugierter, nichtreeller Nullstellen, so benutzen wir Lemma 4.5.3 in analoger Weise.
qed
Der Beweis liefert zugleich einen Algorithmus, wie man die Partialbruchzerlegung einer rationalen Funktion wirklich durchführt. In jedem Falle braucht man dazu zunächst die Faktorzerlegung des Nenners. Ist diese gegeben, so kann man entweder dem Algorithmus des Beweises folgen, oder man macht den Ansatz aus der Gleichung im Satz mit Unbestimmten $a$'s, $b$'s und $c$'s. Bringt man alles auf den Hauptnenner, so fürht Koeffizientenvergleich auf ein lineares Gleichungssystem, die man nach den üblichen Regeln der linearen Algebra löst.
Satz 4.5.5. Reelle rationale Funktionen lassen sich geschlossen integrieren.
Das soll heißen, dass rationale Funktionen Stammfunktionen besitzen, die sich durch elementare Funktionen beschreiben lassen. Nach dem Satz über die Partialbruchzerlegung muss man folgende Integranden betrachten:
- Polynome. Es ist klar, wie man diese integriert.
- Rationale Funktionen der Form $$\frac1{(X-a)^n}$$ mit $a\in \mathbb R$ und $n\in \mathbb N$. Die Stammfunktionen sind von der Form $$\int\frac{dx}{(x-a)^n}=-\frac1{(n-1)(x-a)^{n-1}}$$ falls $n\gt 1$ und $$ \int\frac{dx}{(x-a)}=\log|x-a|.$$
- Rationale Funktionen der Form $$\frac{bX+c}{(X^2+2uX+v)^n}$$ mit reellen Koeffizienten und $u^2-v\lt 0$. Mit der Substitution $x=\sqrt{v-u^2}t-u$ bekommt man $$x^2+2ux+v=(v-u^2)(t^2+1).$$ Diese Substitution führt also auf die Integrale $$\int\frac{t}{(1+t^2)^n}dt\quad\text{ und }\quad \int\frac{1}{(1+t^2)^n}dt.$$ Das erste Integral hatten wir bereits durch Substitution gelöst $$
\int\frac{t}{(1+t^2)^n}
dt=
\begin{cases}
\frac{1}{2}\log(1+t^2)=\log\sqrt{1+t^2} & \text { für}\; \;n=1\\\\
\frac{1}{2}\,\frac{1}{1-n}\,\frac{1}{(1+t^2)^{n-1}} & \text
{ für}\;\; n\in \mathbb {N}\setminus\{1\}.
\end{cases}$$Durch partielle Integration erhält man weiter \begin{aligned}\int\frac{dt}{(1+t^2)^n}&=\frac{t}{(1+t^2)^n}+2n\int\frac{t^2dt}{(1+t^2)^{n+1}}\\&=
\frac{t}{(1+t^2)^n}+2n\int\frac{dt}{(1+t^2)^{n}}-2n\int\frac{dt}{(1+t^2)^{n+1}}.\end{aligned} Daraus ergibt sich die Rekursionsgleichung $$
\int\frac{dt}{(1+t^2)^{n+1}}=\frac1{2n}\frac{t}{(1+t^2)^n}+\frac{2n-1}{2n}\int\frac{dt}{(1+t^2)^{n}}.$$ Die Rekursion endet mit dem Integral $$\int\frac{dt}{1+t^2}=\arctan(t).$$