Wir betrachten nun Abbildungen $f\colon X=X_1\times X_2\to F$, wo $X_j$ eine offene Teilmenge in einem Banachraum $E_j$ ist für $j\in \{1,2\}$. Insgesamt ist $X_1\times X_2$ also eine offene Teilmenge des Produkts $E_1\times E_2$ von Banachräumen. Die Abbildung $f$ sei in $(x_1,x_2)\in X$ differenzierbar. Dann sind auch die eingeschränkten Abbildungen $f(\,.\,,x_2)\colon X_1\to F$ und $f(x_1,\,.\,)\colon X_2\to F$ jeweils differenzierbar. Wir bezeichnen mit $D_1f(x_1,x_2)$ die Ableitung von $f(\,.\,,x_2)$ an der Stelle $x_1$ und analog mit $D_2f(x_1,x_2)$ die Ableitung von $f(x_1,\,.\,)$ an der Stelle $x_2$. Im Spezialfall $E_1=E_2=\mathbb R$ stimmen diese Ableitungen mit den partiellen Ableitungen $\partial_1f$ und $\partial_2f$ überein.
Bemerkung. Es gilt $f\in \mathcal C^q(X_1\times X_2,F)$ genau dann, wenn gilt $D_jf\in \mathcal C^{q-1}(X_1\times X_2,\mathcal L(E_j,F))$ für $j\in \{1,2\}$. Für die Ableitungen gilt $$\partial f (x_1,x_2)(h_1,h_2)=D_1f(x_1,x_2)h_1+ D_2f(x_1,x_2)h_2.$$ Der Beweis ist völlig analog zum Beweis des Satzes 6.1.4', dass stetige Differenzierbarkeit und stetige partielle Differenzierbarkeit übereinstimmen.
6.5.4. Satz über implizite Funktionen. Es seien $X\subset E_1$ und $Y\subset E_2$ jeweils offene Teilmengen und $f\in \mathcal C^q(X\times Y,F)$ für ein $q\in\mathbb N$. Zu einem gegebenen $(x_0,y_0)\in X\times Y$ gelte $$f(x_0,y_0)=0\quad\text{ und }\quad D_2f(x_0,y_0)\in \mathcal Lis(E_2,F).$$ Dann gibt es offene Umgebungen $U\subset X\times Y$ von $(x_0,y_0)$ und $V\subset X$ von $x_0$, sowie eine eindeutig bestimmte Funktion $g\in\mathcal C^q(V,E_2)$ mit $$\left((x,y)\in U \text{ und } f(x,y)=0\right)\iff \left( x\in V \text{ und } y=g(x) \right).$$ Für $x\in V$ gilt außerdem $$\partial g(x)=-\left(D_2f(x,g(x))\right)^{-1}D_1f(x,g(x)).$$
Bemerkungen.
- Der Satz besagt, dass in der Nähe von $(x_0,y_0)$ das Urbild $f^{-1}(0)$ der Graph einer $\mathcal C^q$-Funktion ist.
- Es ist instruktiv, sich zuerst einmal den Spezialfall einer linearen Abbildung $\phi:E_1\times E_2\to F$ anzusehen. In diesem Fall stimmt $D_1\phi:E_1\to F$ mit der Einschränkung von $\phi $ auf den Unterraum $E_1\times \{0\}\subset E_1\times E_2$ überein. Analoges gilt für $D_2\phi$. Nach Annahme ist $D_2\phi:E_2\to F$ ein Isomorphismus. Der Satz besagt in diesem Fall, dass der Kern der Abbildung $\phi$ der Graph der linearen Abbildung $\gamma=\partial \gamma=-(D_2\phi)^{-1}\circ D_1\phi\colon E_1\to E_2$ ist, also $$\ker\phi=\{(x,y)\in E_1\times E_2\mid y=-(D_2\phi)^{-1}(D_1\phi(x))\}.$$ Dies folgt aber offenbar aus der Äquivalenz der Aussagen $$(x,y)\in \ker\phi \iff \phi (x,y)=\partial \phi (x,y)=D_1\phi x+D_2 \phi y=0 \iff y=-(D_2\phi)^{-1}D_1\phi x.$$
Beweis. Wir betrachten die Abbildung $$F=\left(\mathrm{pr}_X, f\right)\colon X\times Y\to X\times F,\quad\quad (x,y)\mapsto (x,f(x,y)).$$ Für die Ableitung von $F$ gilt $$\partial F(x,y)=\left(\begin{matrix}1&0\\D_1f(x,y)&D_2f(x,y)\end{matrix}\right)\in \mathcal L(E_1\times E_2,E_1\times F).$$ Ist $D_2f(x,y)\in \mathcal Lis(E_2,f)$, so ist auch $\partial F\in \mathcal Lis(E_1\times E_2,E_1\times F)$ mit Inversem $$\left(\partial F(x,y)\right)^{-1}=\left(\begin{matrix}1&0\\-\left(D_2f(x,y)\right)^{-1}D_1f(x,y)&\left(D_2f(x,y)\right)^{-1}\end{matrix}\right).$$ Der Satz über die Umkehrabbildung liefert offene Umgebungen $U_1\subset X\times Y$ von $(x_0,y_0)$ und $V_1\subset X\times F$ von $(x_0,0)$ und eine Umkehrfunktion $G\colon V_1\to U_1$ von $F$ mit $G\in \mathcal C^q(V_1,E_1\times E_2)$. Wir wählen offene Umgebungen $V\subset X$ von $x_0$ und $V'\subset F$ von $0$, so dass $V\times V'\subset V_1$ gilt und definieren $U:=F^{-1}(V\times V')\subset U_1$. Die Funktion $g\in \mathcal C^q(V, E_2)$ definieren wir als die Einschränkung von $G$ auf $V\times \{0\}$, gefolgt von der linearen Projektion auf den zweiten Faktor $E_2$ $$g:=\mathrm{pr_{E_2}}\circ G(\,.\,,0)\colon x\mapsto \mathrm{pr_{E_2}}(G(x,0)).$$ Es gilt nun \begin{aligned}(x,y)\in U \text{ und } f(x,y)=0&\iff (x,f(x,y))=F(x,y)=(x,0)\in V\times V'\\
&\iff x\in V\text{ und } (x,g(x))=G(x,0)=(x,y)\\ &\iff x\in V \text{ und } g(x)=y.\end{aligned} Die Formel für $\partial g$ liest man ab aus dem linken unteren Eintrag in der Matrix-Beschreibung von $$\left(\partial F(x,g(x))\right)^{-1}=\partial G(x,f(x,g(x))).$$qed
Beispiele.
- Wir betrachten die Funktion $$f\colon \mathbb R^2\to \mathbb R,\quad (x,y)\mapsto x^2-y^3+y.$$ Die elliptische Kurve $f^{-1}(0)$ ist im folgenden Bild graphisch dargestellt.
Für $x_0=0$ gibt es drei Punkte $y_j\in \{-1,0,1\}$ mit $f(x_0,y_j)=0$. Wegen $\partial_2 f(x_0,y_j)=-2y_j^2+1\not=0$ lässt sich der Satz über implizite Funktionen anwenden: Es gibt drei lokal definierte Funktionen $g_j\colon I_j\to \mathbb R$ welche der Gleichung $$\left(g_j(x)\right)^3-g_j(x)=x^2$$ genügen. Jede dieser Funktionen ist unendlich oft differenzierbar. Der maximale Definitionsbereich der jeweiligen Funktion ist $I_{-1}=I_0=\left(-\frac2{\sqrt3},\frac2{\sqrt3}\right)$ und $I_1=\mathbb R$. Jede der Funktionen löst die Gleichung $x^2=y^3-y$ nach $y$ auf. Versuchen Sie mal, explizite Formeln für die $g_j$ zu finden! - Allgemeiner sei $X$ offen in $\mathbb R^{m+n}$ und $f\in \mathcal C^q(X,\mathbb R^n)$. Es sei $(a,b)\in X$ eine Nullstelle von $f$, löse also das Gleichungssystem \begin{aligned}f^1(x^1,\ldots,x^m,y^1,\ldots,y^n)&=0\\&\vdots\\f^n(x^1,\ldots,x^m,y^1,\ldots,y^n)&=0.\end{aligned} Ist die Determinante der Teil-Jacobischen $$
\det\left(\frac{\partial f^i}{\partial y^j}(a,b)\right)_{i,j}\not=0$$ an der Stelle $(a,b)$ nicht Null, so besagt der Satz über implizite Funktionen, dass es eine Umgebung $V$ von $a\in \mathbb R^m$ gibt, so dass das obige Gleichungssystem für jedes $x=(x^1,\ldots,x^m)\in V$ genau eine Lösung \begin{aligned}y^1&=g^1(x^1,\ldots,x^m)\\&\vdots\\y^n&=g^n(x^1,\ldots,x^m)
\end{aligned} in der Nähe von $b=(b^1,\ldots,b^n)$ besitzt. Das Gleichungssystem lässt sich also lokal um $(a,b)$ eindeutig nach den Variablen $y^j$ auflösen. Darüber hinaus besitzen die Funktionen $g^j$ dieselbe Differenzierbarkeitsordnung wie die Ausgangsfunktionen $f^i$.