Umordnungssätze

Darf man Reihen umordnen, oder hat die Reihenfolge der Reihenglieder Einfluss auf die Konvergenz oder den Wert der Summe? Das folgende Beispiel von Dirichlet zeigt, dass man im Allgemeinen sehr vorsichtig sein muss:

Beispiel. Nach dem Leibnizkriterium konvergiert die Reihe \[
1-\frac12+\frac13-\frac14+\frac15-\ldots =:\ell.
\] Dann gilt auch \begin{aligned}
\frac\ell{2}&=\frac12-\frac14+\frac16-\frac18+\ldots\\
&=0+\frac12+0-\frac14+0+\frac16+0-\frac18+0+\ldots.
\end{aligned}Addieren wir die beiden Reihen von $\ell$ und $\ell/2$, so heben sich die Hälfte der Terme mit geradem Nenner weg und wir erhalten \[
\frac32\ell = 1+\frac13-\frac12+\frac15+\frac17-\frac14+\ldots
\]Aber rechts stehen jetzt dieselben Reihenglieder wie in der ursprünglichen Reihe von $\ell$, nur in anderer Reihenfolge.

Es sei $I$ eine abzählbare Menge. Eine Abbildung $a:I\to \mathbb C$ nennt man eine von $I$ indizierte Familie von Zahlen und schreibt $a_i$ statt $a(i)$ und $(a_i)_{i\in I}$ anstelle von $a:I\to \mathbb C$. Eine von $\mathbb N$ indizierte Familie ist also dasselbe wie eine Folge. Für jede endliche Teilmenge $J\subset I$ heißt $$s_J:=\sum_{i \in J}a_i$$ eine Partialsumme der Familie $(a_i)_{i\in I}$. Da die Indexmenge $J$ endlich ist, und da in $\mathbb C$ das Kommutativ- und das Assoziativgesetz gelten, kommt es nicht darauf an, in welcher Reihenfolge wir die einzelnen Summanden addieren.

Definition. Eine Familie $(a_i)_{i\in I}$ komplexer Zahlen heißt summierbar mit Summe $s$, wenn für jedes $\varepsilon\gt 0$ eine endliche Teilmenge $I_0\subset I$ existiert, so dass für jede endliche Menge $J$ mit $I_0\subset J\subset I$ gilt: $|s_J-s|\lt \varepsilon$. Wir schreiben dann $$s=\sum_{i\in I}a_i.$$

Mit dieser Definition erhalten wir insbesondere für die Indexmenge $I=\mathbb N$ eine zweite Version des Begriffs einer unendlichen Summe. Summierbarkeit der Familie $(a_n)_{n\in\mathbb N}$ und Konvergenz der Reihe $\sum_{n=1}^\infty a_n$ können nicht äquivalent sein: Wenn eine Familie $(a_n)_{n\in\mathbb N}$ summierbar ist, so ist sie dies a priori unabhängig von jeglicher Reihenfolge, in der die Glieder der Reihe angeordnet sind. Konvergenz dagegen ist abhängig von der Reihenfolge. Im Weiteren untersuchen wir, wie sich die beiden Begriffe zueinander verhalten.

Wir setzen $\sigma_J:=\sum_{i\in J}|a_i|$ für jede endliche Teilmenge $J\subset I$.

Satz 2.2.11. Eine Familie $(a_i)_{i\in I}$ ist genau dann summierbar, wenn die Menge $\{\sigma_J\mid J\subset I \text{ endlich }\}$ beschränkt ist.

Beweis. 1. Zuerst eine Vorüberlegung: Ist die Familie $(a_i)_{i\in I}$ summierbar, so gilt dies auch für die Familien $(\Re(a_i))_{i\in I}$ und $(\Im(a_i))_{i\in I}$ und umgekehrt. Da ferner $|z|\le |\Re(z)|+|\Im(z)|$, können wir im Folgenden ohne Einschränkung annehmen, dass die Familie $(a_i)_{i\in I}$ reell ist.
2. Es sei zunächst $(a_i)_{i\in I}$ eine summierbare Familie reeller Zahlen mit Summe $s$. Es existiert eine endliche Teilmenge $I_0\subset I$ derart, dass für jede endliche Menge $J$ mit $I_0\subset J\subset I$ gilt $|s-s_J|\lt 1$. Ist nun $K\subset I$ eine beliebige endliche Teilmenge, so gilt $K=(K\cup I_0)\setminus (I_0\setminus K)$ und folglich $$s_K=s_{K\cup I_0}-s_{I_0\setminus K}.$$ Damit erhalten wir eine Abschätzung \[
|s_K|=\left\vert(s_{K\cup I_0}-s)+(s-s_{I_0})+(s_{I_0}-s_{I_0\setminus K})\right\vert \lt 1+1+ |s_{I_0\cap K}|\le 2+\sigma_{I_0}.
\]Wendet man diese Abschätzung speziell auf die Teilmengen $K_+:=\{ i\in K\mid a_i\ge 0 \}$ und $K_-:=\{ i\in K\mid a_i\lt 0 \}$ von $K$ an, so folgt \[
\sigma_K=s_{K_+}-s_{K_-}\le 4+2\sigma_{I_0}.
\]Das ist die gesuchte Beschränktheitsaussage.
3. Es sei nun umgekehrt die Menge $\{\sigma_K\mid K\subset I \text{ endlich }\}$ beschränkt mit Supremum $\sigma$. Zu jedem $n\in \mathbb N$ existiert dann eine endliche Teilmenge $I_n\subset I$ mit $\sigma-\frac1n \lt \sigma_{I_n}$. Für jede endliche Teilmenge $J\subset I$ mit $J\cap I_n=\emptyset$ folgt nun \[
\sigma_{I_n}+\sigma_J=\sigma_{I_n\cup J}\le \sigma\lt \sigma_{I_n}+\frac1n
\] und somit \[
|s_J|\le \sigma_J\lt \frac1n.
\] Für $m\le n\in \mathbb N$ folgt daher \[
|s_{I_m}-s_{I_n}|=|s_{I_m\setminus I_n}-s_{I_n\setminus I_m}|\lt \frac1m+\frac1n\le \frac2m.
\] Das zeigt, dass $(s_{I_n})_{n\in \mathbb N}$ eine Cauchyfolge ist. Es sei $s=\lim(s_{I_n})$. Wir zeigen nun $s=\sum_{i\in I}a_i$. Dazu sei $\varepsilon \gt 0$ vorgegeben und $n_0\in \mathbb N$ so gewählt, dass für alle $n\ge n_0$ gilt: $|s-s_{I_n}|\lt \frac\varepsilon2$. Wir wählen $m_0\in \mathbb N$ mit $m_0\gt \max\{n_0,\frac2\varepsilon\}.$ Jetzt gilt für jede endliche Menge $J$ mit $I_{m_0}\subset J\subset I$:\[
|s-s_J|=|(s-s_{I_{m_0}})-s_{J\setminus I_{m_0}}|\lt \frac\varepsilon2+\frac1{m_0}\le \frac\varepsilon2+\frac\varepsilon2=\varepsilon.
\]qed

Korollar 2.2.12. Eine Familie $(a_n)_{n\in \mathbb N}$ ist genau dann summierbar, wenn die Reihe $\sum_{n=1}^\infty a_n$ absolut konvergiert, und in diesem Falle gilt \[\sum_{n=1}^\infty a_n=\sum_{n\in\mathbb N}a_n.
\].

Beweis. Ist die Reihe $\sum a_n$ absolut konvergent und $J\subset\mathbb N$ eine endliche Teilmenge, so gilt\[
\sigma_J=\sum_{i\in J}|a_i|\le \sum_{n=1}^{\max J}|a_n|\le \sum_{n=1}^\infty |a_n|.
\]Somit ist die Familie summierbar.
Ist umgekehrt die Familie summierbar und $s=\sum_{n\in \mathbb N}a_n$. Dann bleibt nach dem obigen Satz 2.2.11 zunächst einmal $\sum_{\nu=1}^n|a_\nu|=\sum_{\nu\in\{1,2,\ldots,n\}}|a_\nu|$ für alle $n$ beschränkt, die Reihe konvergiert also absolut. Es bleibt zu zeigen, dass die beiden Summen gleich sind. Sei dazu $\varepsilon \gt 0$ vorgegeben, so exisitiert eine endliche Teilmenge $I_0\subset \mathbb N$ derart, dass für jede endliche Menge $J$ mit $I_0\subset J\subset \mathbb N$ gilt $|s-s_J|\lt \varepsilon$. Speziell gilt das für jede Menge $J:=\{1,2,\ldots,N\}$ mit $N\ge \max(I_0)$. Es folgt\[
\left\vert s-\sum_{n=1}^Na_n\right\vert =|s-s_J|\lt \varepsilon.
\]qed

Umordnungssatz 2.2.13. Es sei $(a_i)_{i\in I}$ eine summierbare Familie komplexer Zahlen und $I=\coprod_{\mu\in M}I_\mu$ eine Zerlegung der Indexmenge $I$ in eine disjunkte Vereinigung von Teilmengen $I_\mu\subset I$. Dann ist für jedes $\mu\in M$ die Familie $(a_i)_{i\in I_\mu}$ summierbar. Ist $s_\mu=\sum_{i\in I_\mu}a_i$, so ist auch die Familie $(s_\mu)_{\mu\in M}$ summierbar, und es gilt \[\sum_{i\in I}a_i=\sum_{\mu\in M}s_\mu=\sum_{\mu\in M}\left(\sum_{i\in I_\mu}a_i\right).
\]

Beweis. Mit Satz 2.2.11 ist klar, dass für jedes $\mu\in M$ die Familie $(a_i)_{i\in I_\mu}$ summierbar ist. Um zu zeigen, dass die Familie $(s_\mu)_{\mu\in M}$ summierbar ist, müssen wir die Beschränktheit der Menge \[
\left\{\sum_{\mu\in L}|s_\mu|\mid L\subset M \text{ endlich }\right\}
\]nachweisen. Sei dazu $\sigma_\mu:=\sum_{i\in I_\mu}|a_i|$ für jedes $\mu\in M$. Ist $L\subset M$ eine endliche Teilmenge, so existiert zu jedem $\mu\in L$ eine endliche Teilmenge $I'_\mu\subset I_\mu$ derart, dass $$\sigma_\mu-\frac1{|L|}\lt \sum_{i\in I'_\mu}|a_i|\le \sigma_\mu.$$ Daraus folgt die Beschränktheit \[
\sum_{\mu\in L}|s_\mu|\le \sum_{\mu\in L}\sigma_\mu\le \sum_{\mu\in L}\left(\sum_{i\in I'_\mu}|a_i|+\frac1{|L|}\right)\le 1+\sum_{i\in I}|a_i|.
\]Es bleibt zu zeigen, dass die beiden Summen $s:=\sum_{i\in I}a_i$ und $s':=\sum_{\mu\in M}s_\mu$ gleich sind. Sei dazu ein $\varepsilon\gt 0$ vorgegeben.

  • Auf Grund der Summierbarkeit der Familie $(a_i)_{i\in I}$ existiert eine endliche Menge $I_0\subset I$ derart, dass für jede endliche Teilmenge $I'\subset I$ mit $I_0\subset I'$ gilt $|s-\sum_{i\in I'}a_i|\lt\frac\varepsilon3.$
  • Auf Grund der Summierbarkeit der Familie $(s_\mu)_{\mu\in M}$ existiert eine endliche Menge $M_0\subset M$ derart, dass für jede endliche Teilmenge $M'\subset M$ mit $M_0\subset M'$ gilt $|s'-\sum_{\mu\in M'}s_\mu|\lt\frac\varepsilon3.$ Wir können durch etwaiges Vergrößern der Menge $M_0$ erreichen, dass gilt $I_0\subset \coprod_{\mu\in M_0}I_\mu$.
  • Auf Grund der Summierbarkeit der Familie $(a_i)_{i\in I_\mu}$ existiert für jedes $\mu\in M_0$ eine endliche Menge $I_{\mu,0}\subset I_\mu$ derart, dass für jede endliche Teilmenge $I'_\mu\subset I_\mu$ mit $I_{\mu,0}\subset I'_\mu$ gilt $|s_\mu-\sum_{i\in I'_\mu}a_i|\lt\frac\varepsilon{3|M_0|}.$ Durch etwaiges Vergrößern der Mengen $I_{\mu,0}$ können wir erreichen, dass gilt $I_0\subset \coprod_{\mu\in M_0}I_{\mu,0}=:I'$.

Damit gilt \begin{aligned}
|s-s'|=&\left\vert \left(s-\sum_{i\in I'}a_i\right)+\sum_{\mu\in M_0}\left(\sum_{i\in I_{\mu,0}}a_i -s_\mu\right)+\left( \sum_{\mu\in M_0}s_\mu - s' \right)\right\vert\\
\le&\left\vert s-\sum_{i\in I'}a_i\right\vert +\sum_{\mu\in M_0}\left\vert\sum_{i\in I_{\mu,0}}a_i -s_\mu\right\vert +\left\vert \sum_{\mu\in M_0}s_\mu - s' \right\vert\\
\lt&\frac\varepsilon3+|M_0|\cdot\frac\varepsilon{3|M_0|}+\frac\varepsilon3 =\varepsilon.
\end{aligned}qed

Korollar 2.2.14. Konvergieren die Reihen $\sum_{m=0}^\infty a_m=a$ und $\sum_{n=0}^\infty b_n=b$ absolut, so ist die Doppelreihe $\sum_{(m,n)\in \mathbb N_0\times\mathbb N_0}a_mb_n$ summierbar mit Summe $ab$. Es gelten die folgenden Identitäten: \[
\sum_{(m,n)\in \mathbb N_0\times\mathbb N_0}a_mb_n=\sum_{m=0}^\infty\left(\sum_{n=0}^\infty a_mb_n\right)=\sum_{n=0}^\infty\left(\sum_{m=0}^\infty a_mb_n\right)
=\sum_{m=0}^\infty\left(\sum_{k=0}^m a_{m-k}b_k\right)
\]Insbesondere sind alle auftretenden Reihen absolut konvergent.

Beweis. Jeweils beschränkte Teilsummen von Absolutbeträgen sind beschränkt, also $\sum_{\mu=0}^m|a_\mu|\le M$ und $\sum_{\nu=0}^n|b_\nu|\le N$ für alle $m,n$. Dann ist aber jede endliche Summe von Gliedern $|a_\mu b_\nu|$ durch $MN$ beschränkt. Insbesondere ist die Doppelreihe summierbar. Die verschiedenen Doppelsummen entstehen jeweils durch Zerlegungen der Indexmenge $\mathbb N_0\times\mathbb N_0$ in disjunkte Teilmengen.
qed

Korollar 2.2.15. Es seien $A(z)=\sum a_nz^n$ und $B(z)=\sum b_nz^n$ Potenzreihen mit Konvergenzradien $R_A$ und $R_B$. Dann hat die Potenzreihe $AB(z)=\sum c_nz^n$ mit $c_n=\sum_{k=0}^n a_{k}b_{n-k}$ einen Konvergenzradius $R_{AB}\ge \min(R_A,R_B)$. Für $z\in \mathbb C$ mit $|z|\lt \min(R_A,R_B)$ gilt $AB(z)=A(z)\cdot B(z)$.

Beweis. Ist $z$ eine komplexe Zahl mit $|z|\lt \min(R_A,R_B)$, so konvergieren die Potenzreihen $A(z)$ und $B(z)$ absolut und nach dem obigen Korollar konvergiert die Potenzreihe $AB(z)$ gegen $A(z)\cdot B(z)$.
qed

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