2.2.16. Die Exponentialfunktion. Für alle komplexe Zahlen $z$ und $w$ gilt \[
\exp(z)\cdot\exp(w)=\exp(z+w).
\]Insbesondere ist $\exp(z)\not=0$ für alle $z\in \mathbb C$.
Beweis. Es gilt \begin{aligned}
\exp(z)\cdot\exp(w)&= \sum_{n=0}^\infty\frac{z^n}{n!}\cdot \sum_{n=0}^\infty\frac{w^n}{n!}\\
&=\sum_{n=0}^\infty\left(\sum_{k=0}^n \frac{z^k}{k!} \frac{w^{n-k}}{(n-k)!}\right)\\
&=\sum_{n=0}^\infty\frac1{n!}\left(\sum_{k=0}^n {n \choose k}z^kw^{n-k}\right)\\
&=\sum_{n=0}^\infty\frac{(z+w)^n}{n!}\\
&=\exp(z+w).
\end{aligned} Die zweite Aussage folgt als Spezialfall mit $w=-z$ wegen $\exp(0)=1$.
qed
Satz 2.2.17. Für alle $z\in \mathbb C$ gilt \[
\sum_{n=0}^\infty\frac{z^n}{n!}=\lim_{n\to\infty}\left(1+\frac{z}n\right)^n.
\]
Beweis. Es sei $z\in\mathbb C$. Die Reihe $\sum_{n=0}^\infty\frac{z^n}{n!}$ konvergiert absolut. Zu einer Toleranzgrenze $\varepsilon\gt 0$ finden wir also ein $N$ mit $\sum_{n=N}^\infty\frac{|z|^n}{n!}\lt \frac\varepsilon2$. Wir vergleichen für $n\gt N$ die folgenden Summen: \begin{aligned}
\exp(z)=& 1+z+\frac{z^2}{2!}+\frac{z^3}{3!}+\frac{z^4}{4!}+\frac{z^5}{5!}+\ldots\\
\left(1+\frac{z}n\right)^n =& 1+z+\frac{z^2}{2!}\frac{n(n-1)}{n^2}+\frac{z^3}{3!}\frac{n(n-1(n-2))}{n^3}+\ldots
\end{aligned} Daraus ergibt sich \begin{aligned}
\left\vert\exp(z)-\left(1+\frac{z}n\right)^n\right\vert =&\left\vert\sum_{k=2}^\infty \frac{z^k}{k!}\left(1-\left(1-\frac1n\right)\left(1-\frac2n\right)\cdots\left(1-\frac{k-1}n\right)\right)\right\vert\\
\le &\left\vert\sum_{k=2}^{N-1} \frac{z^k}{k!}\left(1-\left(1-\frac1n\right)\left(1-\frac2n\right)\cdots\left(1-\frac{k-1}n\right)\right)\right\vert\\
& + \sum_{k=N}^{\infty} \frac{|z|^k}{k!}\left(1+\left(1-\frac1n\right)\left(1-\frac2n\right)\cdots\left(1-\frac{k-1}n\right)\right).
\end{aligned} Im zweiten Summanden auf der rechten Seite ist der geklammerte Faktor kleiner als $2$, der gesamte Summand nach Wahl von $N$ also kleiner als $\varepsilon$. Der erste Summand ist eine endliche Summe, die für $n\to \infty$ gegen $0$ geht.
qed
Der Grenzwert $\lim_{n\to\infty}\left(1+\frac{z}n\right)^n$ taucht bei der Diskussion stetiger Verzinsung auf: Ein Kapital $K$ erhöht sich bei einem Zins $z$ nach Ablauf eines Jahres auf $K(1+z)$. Wird halbjählrich verzinst und der Zins wieder mit angelegt, so erhält man statt dessen $K(1+z/2)^2$, bei monatlicher Verzinsung $K(1+z/12)^{12}$, bei stetiger Verzinsung also $K\lim(1+\frac{z}n)^n$. Die Existenz dieses Grenzwertes besagt also insbesondere, dass das Kapital bei stetiger Verzinsung sich wie die Funktion $\exp(z)$ entwickelt. Derselbe mathematische Zusammenhang besteht bei allen Wachstums- oder Zerfallsprozessen, bei denen der Zerfall oder das Wachstum proportional zur vorhandenen Stoffmenge ist. Man denke an radioaktive Stoffe oder an Bakterienkulturen.
Definition. Die Zahl \[e:=\sum_{n=0}^\infty\frac{1}{n!}=\lim_{n\to\infty}\left(1+\frac{1}n\right)^n\] heißt Eulersche Zahl.
Satz 2.2.18. Die Eulersche Zahl $e$ ist irrational.
Beweis. Angenommen, es gälte $e=\frac{p}q$ mit natürlichen Zahlen $p$ und $q$. Multiplikation von \[
0\lt e- \sum_{n=0}^q\frac{1}{n!}=\sum_{n=q+1}^\infty\frac{1}{n!}
\]mit $q!$ erhält man: \begin{aligned}
0&\lt N:= p(q-1)!-\sum_{n=0}^q\frac{q!}{n!}\\
&= \frac1{q+1}+\frac1{(q+1)(q+2)}+\frac1{(q+1)(q+2)(q+3)} +\ldots\\
&\lt \frac1{q+1}+\frac1{(q+1)^2}+\frac1{(q+1)^3} +\ldots\\
&=\frac1q\le 1.
\end{aligned} Nach Konstruktion ist $N$ einerseits eine ganze Zahl. Andererseits liegt diese Zahl echt zwischen $0$ und $1$. Das ist unmöglich. Die Annahme, $e$ wäre rational, war falsch.
qed
2.2.19. Die trigonometrischen Funktionen.
Für $z\in \mathbb C$ sind die Sinusfunktion \[
\sin(z):= \frac1{2i}\left(\exp(iz)-\exp(-iz)\right)=\sum_{n=0}^\infty (-1)^n\frac{z^{2n+1}}{(2n+1)!}
\] und die Kosinusfunktion \[
\cos(z):= \frac1{2}\left(\exp(iz)+\exp(-iz)\right)=\sum_{n=0}^\infty (-1)^n\frac{z^{2n}}{(2n)!}
\] definiert. Beide Reihen haben Konvergenzradius $\infty$. Offenbar ist $\sin(z)$ eine ungerade und $\cos(z)$ eine gerade Funktion, d.h. es gilt \[
\sin(-z)=-\sin(z)\quad \text{ und }\quad \cos(-z)=\cos(z).
\]Weiterhin gilt die Eulersche Formel
\[\exp(iz)=\cos(z)+\sin(z)i
\] Die Multiplikativität der Exponentialfunktion liefert die Additionstheoreme
\begin{aligned}
\sin(z+w)=&sin(z)\cos(w)+\cos(z)\sin(w)\\
\cos(z+w)=&cos(z)\cos(w)-\sin(z)\sin(w)
\end{aligned} indem man beide Enden der Gleichungskette\begin{aligned}
\cos(z+w)+\sin(z+w)i=&\exp(i(z+w))=\exp(iz)\cdot\exp(iw)\\=&\left(\cos(z)+\sin(z)i\right)\left(\cos(w)+\sin(w)i\right)\\=&\left(cos(z)\cos(w)-\sin(z)\sin(w)\right)+\left(sin(z)\cos(w)+\cos(z)\sin(w)\right)i
\end{aligned} jeweils in geraden und ungeraden Teil zerlegt. Zuletzt erhält man die Identität \[
\cos(z)^2+\sin(z)^2=\exp(iz)\cdot\exp(-iz)=1.
\]
2.2.20. Die Binomialreihe.
Der Konvergenzradius der Binomialreihe \[
B_\alpha(z)=\sum_{n=0}^\infty{\alpha \choose n}z^n
\] ist $\infty$ für $\alpha\in \mathbb N_0$ und ansonsten gleich $1$.
Satz 2.2.21. Für beliebige $\alpha,\beta\in \mathbb C$ und für alle $z\in U_1(0)$ gilt \[
B_\alpha(z)\cdot B_\beta(z)=B_{\alpha+\beta}(z).\]
Beweis. Ist $|z|\lt 1$, so ist die Produktreihe von der Form \[B_\alpha(z)\cdot B_\beta(z)=\sum_{n=0}^\infty z^n\left(\sum_{k=0}^n{\alpha \choose k}{\beta \choose {n-k}}\right).
\] Zum Beweis der Behauptung müssen wir folgende Identität nachweisen: \[\sum_{k=0}^n{\alpha \choose k}{\beta \choose {n-k}}={{\alpha+\beta} \choose n}.
\] Dies geschieht durch Induktion nach $n$. Für $n=0$ oder $n=1$ ist die Behauptung offensichtlich richtig. Für den Induktionsschluss gehen wir von der Gültigkeit der Formel für $n$ aus und folgern: \begin{aligned}
{{\alpha+\beta} \choose {n+1}} &= \frac{\alpha+\beta-n}{n+1}{{\alpha+\beta} \choose n}= \frac{\alpha+\beta-n}{n+1}\sum_{k=0}^n{\alpha \choose k}{\beta \choose {n-k}}\\
&=\sum_{k=0}^n \left[ \frac{\alpha-k}{n+1} {\alpha \choose k}{\beta \choose {n-k}} + \frac{\beta-n+k}{n+1} {\alpha \choose k}{\beta \choose {n-k}}\right] \\
&=\sum_{k=0}^n \left[ \frac{k+1}{n+1} {\alpha \choose {k+1}}{\beta \choose {n-k}} + \frac{n+1-k}{n+1} {\alpha \choose k}{\beta \choose {n+1-k}}\right] \\
&=\sum_{k=0}^{n+1} \left[ \frac{k}{n+1} {\alpha \choose {k}}{\beta \choose {n+1-k}} + \frac{n+1-k}{n+1} {\alpha \choose k}{\beta \choose {n+1-k}}\right] \\
&=\sum_{k=0}^{n+1}{\alpha \choose k}{\beta \choose {n+1-k}}.
\end{aligned}qed
Korollar 2.2.22. Es sei $z\in\mathbb C$ und $n\in \mathbb N$. Dann gibt es ein $w\in \mathbb C$ mit $w^n=z$.
Beweis. Für $z=0$ ist die Aussage klar. Ist $\Re(z)\gt 0$, so ist $|z-1|\lt |z+1|$. Folglich liegt $u:=\frac{z-1}{z+1}$ in $U_1(0)$. Daher sind die Zahlen $B_{\frac1n}(u)$ und $B_{\frac1n}(-u)$ definiert und haben wegen 2.2.21 die Eigenschaft \[
B_{\frac1n}(u)^n=1+u, \quad B_{\frac1n}(-u)^n=1-u\not=0.
\]Für die Zahl $w:=B_{\frac1n}(u)/B_{\frac1n}(-u)$ gilt dann \[w^n=\frac{1+u}{1-u}=z.\]Ist $z\not=0$ eine beliebige komplexe Zahl, so wissen wir (vgl. 1.7.4), dass es ein $v\in \mathbb C$ gibt mit $v^4=z$. Jede der Zahlen $v_k:=v\cdot i^k$ hat die Eigenschaft $v_k^4=z$. Unter diesen ist auch ein $v'$ mit $\Re(v')\gt 0$. Nach dem bereits Bewiesenem gibt es ein $w'\in \mathbb C$ mit $(w')^n=z'$. Mit der Wahl $w:=(w')^4$ folgt $w^n=z$.
qed