Wir betrachten nun die reelle Exponentialfunktion. Es ist klar, dass für $r\in \mathbb R$ auch $\exp(r)$ eine reelle Zahl ist.
Satz 2.3.11. Für alle $r\in \mathbb R$ ist $\exp(r)\gt 0$. Die Funktion $\exp\colon\mathbb R\to\mathbb R_{\gt 0}$ ist stetig, bijektiv und streng monoton wachsend. Es gilt $\lim_{x\to \infty}\exp(x)=\infty$ und $\lim_{x\to -\infty}\exp(x)=0$.
Beweis. Da der Konvergenzradius der Exponentialfunktion $\infty$ ist, ist dies eine auf ganz $\mathbb C$, und damit erst recht auf $\mathbb R$ stetige Funktion. Für positive $x$ sind alle Summanden in der Potenzreihe positiv und folglich gilt $\exp(x)\gt 1+x\gt 1$. Daraus erhält man für $x\lt 0$ die Ungleichungen \[ 0\lt\exp(x)\lt\frac1{1-x}\lt 1.\] Aus diesen Abschätzungen folgt, dass die reelle Exponentialfunktion nur positive Werte annimmt, sowie die Aussagen über das Grenzwertverhalten. Mit dem Zwischenwertsatz folgt $\exp(\mathbb R)=\mathbb R_{\gt 0}$. Für beliebige reelle Zahlen $x\lt y$ gilt $\exp(y)-\exp(x)=\exp(x)\left(\exp(y-x)-1\right)\gt 0$. Demnach ist $\exp$ streng monoton wachsend.
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Definition. Die Umkehrfunktion \[\log\colon\mathbb R_{\gt 0}\to\mathbb R\]der Exponentialfunktion heißt Logarithmusfunktion.
Man spricht auch vom natürlichen Logarithmus (logarithmus naturalis) und schreibt $\ln(x)$ statt $\log(x)$.
Satz 2.3.12. Der Logarithmus $\log\colon\mathbb R_{\gt 0}\to\mathbb R$ ist stetig, bijektiv und streng monoton wachsend. Für alle $a,b\gt 0$ gilt: \[
\log(ab)=\log(a)+\log(b), \quad \text{ und }\quad \log(a^{-1})=-\log(a).
\]
Beweis. Die ersten Aussagen folgen direkt aus 2.3.6. Die Gleichungen folgen aus der Funktionalgleichung der Exponentialfunktion.
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Satz 2.3.13. Für alle $n\in \mathbb N$ gilt:\[\lim_{x\to\infty}\frac{\exp(x)}{x^n}=\infty \quad\text{ und }\quad
\lim_{x\to\infty}\frac{\log(x)}{\sqrt[n]x}=0.\]
Beweis. Es sei $n\in \mathbb N$ gegeben. Für alle $x\gt 0$ gilt \[
\frac{\exp(x)}{x^n}\ge \frac{x}{(n+1)!}.
\]Im Grenzübergang folgt die erste Behauptung. Wählt man $x=\log(y)$, so erhält man $\frac{y}{\log(y)^n}\ge \frac{\log(y)}{(n+1)!}$. Zieht man die $n$-te Wurzel und geht zum Kehrwert über, so bleibt \[
\frac{\log(y)}{\sqrt[n]y}\le\sqrt[n]{\frac{(n+1)!}{\log(y)}}.
\]Im Grenzübergang $y\to\infty$ folgt die zweite Behauptung.
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Satz 2.3.14. Die Funktion $\cos(x)$ besitzt im Intervall $[0,2]$ genau eine Nullstelle $\pi/2$. Es gilt $\sin\left(x+\frac{\pi}2\right)=\cos(x)$ und $\cos\left(x+\frac\pi2\right)=-\sin(x)$.
Beweis. Nach dem Leibniz-Kriterium 2.2.3. liegt der Grenzwert einer alternierenden Reihe zwischen jeweils zwei aufeinanderfolgenden Teilsummen, falls die Absolutbeträge der Reihenglieder monoton fallen. Ist $x$ in dem Intervall $[0,2]$, so gilt $$x\ge \frac{x^2}{2!}\ge\frac{x^3}{3!}\ge \frac{x^4}{4!}\ge \frac{x^5}{5!}\ge \ldots $$ und folglich gelten in diesem Intervall die Abschätzungen \begin{aligned} x-\frac{x^3}6 &\le \sin(x)\le x\cr
1-\frac{x^2}2 &\le \cos(x)\le 1-\frac{x^2}2+\frac{x^4}{24}.
\end{aligned} Im Intervall $(0,2]$ ist $\sin(x)$ also positiv, im Intervall $[-2,2]$ hat der Sinus als ungerade Funktion als einzige Nullstelle $x=0$. Offensichtlich gilt $\cos(0)=1$ und wegen der obigen Abschätzung für den Kosinus ist $\cos(2)\le -\frac13$. Die behauptete Nullstelle folgt aus dem Zwischenwertsatz.
Wie wir gerade gesehen haben, ist der Sinus im Intervall $(0,2]$ positiv. Wegen der Gleichung $\cos^2(x)+\sin^2(x)=1$ folgt $\sin\left(\frac\pi2\right)=1$. Aus dem Additionstheorem \[ \cos\left(x+\frac\pi2\right)=cos(x)\cos\left(\frac\pi2\right)-\sin(x)\sin\left(\frac\pi2\right) =-\sin(x)\] folgt, dass $\frac\pi2$ die einzige Nullstelle des Kosinus im Intervall $[0,2]\subset \left[-2+\frac\pi2, 2+\frac\pi2\right]$ ist. Die Gleichung $\sin\left(x+\frac{\pi}2\right)=\cos(x)$ folgt aus den Additionstheorem \[\sin\left(x+\frac\pi2\right)=sin(x)\cos\left(\frac\pi2\right)+\cos(x)\sin\left(\frac\pi2\right).\]qed
Bemerkungen.
- Durch wiederholtes Anwenden der Additionstheoreme erhält man $\cos(\pi+x)=-\cos(x)$ und $\cos(2\pi+x)=\cos(x)$. Entsprechendes gilt auch für den Sinus.
- Daraus folgt, dass die Nullstellen des Sinus genau die ganzzahligen Vielfachen von $\pi$ sind. In der Mitte zwischen je zwei aufeinander folgenden Nullstellen des Sinus liegt jeweils eine Nullstelle des Cosinus.
- Der obige Beweis liefert sogar eine grobe Abschätzung für die Kreiszahl $\pi$. Die Nullstelle des Kosinus muss zwischen den Nullstellen $\sqrt2$ und $\sqrt{6-\sqrt{12}}$ der beiden Polynome $1-\frac{x^2}2$ und $1-\frac{x^2}2+\frac{x^4}{24}$ liegen. Es gilt also \[2.828\lt 2\sqrt2\lt \pi\lt 2\sqrt{6-\sqrt{12}}\lt 3.185.\]
Satz 2.3.15. Die Abbildung \[ [0,2\pi)\to S^1:=\{z\in \mathbb C\mid |z|=1\}, \quad \alpha\mapsto \exp(i\alpha)=\cos(\alpha)+i\sin(\alpha),\] ist stetig und bijektiv.
Beweis. Stetigkeit ist klar. Es sei $z=x+iy\in S^1$ mit $x=\Re(z)\ge 0$ und $y=\Im(z)\ge 0$. Wegen $x^2+y^2=1$ hat man $y\in [0,1]$. Daher existiert nach dem Zwischenwertsatz ein $\alpha\in [0,\pi/2]$ mit $\sin(\alpha)=y$. Dann muss aber wegen $\cos^2(\alpha)+\sin^2(\alpha)=1$ auch $\cos(\alpha)=x$ gelten und somit $\exp(i\alpha)=z$. Ist $z\in S^1$ beliebig, so gibt es eine Potenz $i^m, m\in \{0,1,2,3\}$ mit $\Re(z/i^m)\ge 0$ und $\Im(z/i^m)\ge 0$. Folglich existiert ein $\alpha\in [0,\pi/2]$ mit $z/i^m=\exp(i\alpha)$. Wegen $\exp(i\pi/2)=i$ folgt $z=\exp\left(i(\alpha+m\pi/2)\right)$.
Zur Injektivität: Angenommen, wir haben $\alpha,\beta\in [0,\pi/2)$ mit $\alpha\lt \beta$ und $\exp(i\alpha)=\exp(i\beta)$. Dann gilt für die Differenz $\delta:=\beta-\alpha\in(0,2\pi)$ die Identität $\exp(i\delta)=1$. Folglich gilt $\sin\delta=0$ und folglich $\delta=\pi$. Dann gilt aber $\exp(i\pi)=-1$ im Widerspruch zur Annahme.
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Jede komplexe Zahl $z$ lässt sich somit in der Polardarstellung \[z=r\exp(i\varphi)\] mit reellen Zahlen $r=|z|$ und $\exp(i\varphi)=\frac{z}{|z|}$ darstellen. Für $r\ne 0$ ist $\varphi$ eindeutig bis auf Addition ganzzahliger Vielfacher von $2\pi$ bestimmt. Die Restklasse \[[\varphi]\in \mathbb R/2\pi\mathbb Z\] heißt das Argument von $z$. Diese Polardarstellung reflektiert die bereits besprochene geometrische Deutung der Multiplikation in den komplexen Zahlen: Man multipliziert zwei komplexe Zahlen $z=r\exp(i\varphi)=\exp(\log|z|+i\varphi)$ und $z'=r'\exp(i\varphi')=\exp(\log|z'|+i\varphi')$, indem man ihre Radien multipliziert und ihre Argumente addiert \[zz'=(rr')\exp\left(i(\varphi+\varphi')\right).\] Insgesamt erhält man:
Korollar 2.3.16. Die Exponentialabbildung \[ \exp:\mathbb C\to \mathbb C\setminus |{0|}\] ist ein surjektiver Homomophismus der additiven Gruppe $(\mathbb C,+)$ in die multiplikative Gruppe $ (\mathbb C\setminus\{0\},\cdot)$ mit $\ker(\exp)=2\pi i\mathbb Z$.