Wir kommen zur zentralen Aussage dieses Kapitels:
1.6.4. Satz. Es gibt einen geordneten Körper \(\mathbb R\), der den Körper \(\mathbb Q\) der rationalen Zahlen als geordneten Unterkörper enthält, und der folgende Eigenschaften besitzt:
Der Körper \(\mathbb R\) ist durch diese Eigenschaften bis auf eindeutige, die Struktur erhaltende Bijektion eindeutig bestimmt. Man nennt \(\mathbb R\) den Körper der reellen Zahlen.
Die Eindeutigkeitsaussage erinnert nicht zu Unrecht an die Eindeutigkeitsaussage bei der Definition der natürlichen Zahlen. Sie besagt Folgendes: Sind \(\mathbb R\) und \(\mathbb R'\) geordnete Körper, die jeweils die rationalen Zahlen als Unterkörper enthalten, und die jeweils beide obige Eigenschaften besitzen, so gibt es eine eindeutig bestimmte, bijektive Abbildung \[\Phi:\mathbb R\to \mathbb R',\] welche die Struktur, das heißt Ordnung, Addition und Multiplikation erhält. In Formeln lautet dies: Sind \(r,s\in \mathbb R\), so gelten folgende Aussagen:
- \(\Phi(r+s)=\Phi(r)+\Phi(s)\)
- \(\Phi(r\cdot s)=\Phi(r)\cdot\Phi(s)\)
- \(\Phi(r)\lt \Phi(s)\) genau dann, wenn \(r\lt s\).
Wie die Abbildung \(\Phi\) definiert sein muss, ist offenkundig: Sind \(R,S\subset \mathbb Q\) beschränkte Mengen mit \[r=\sup_\mathbb R(R), \quad s=\sup_{\mathbb R}(S),\] so gilt für die Bilder \[\Phi(r)=\sup_{\mathbb R'}(R),\quad \Phi(s)=\sup_{\mathbb R'}(S).\] Dass die derart definierte Abbildung tatsächlich die Strukturen erhält, ist leicht einzusehen. Ich erspare mir hier die Details und überlasse diese vertrauensvoll dem geneigten Leser.
Bevor wir uns an den Beweis des Satzes machen, sollten wir uns Problem und Lösungsansatz erst einmal an einem Beispiel vergegenwärtigen: Nach dem Satz von Pythagoras gibt es eine Strecke, die Diagonale des Einheitsquadrates, deren Länge $x$ der Gleichung $x^2=2$ genügt.
1.6.5. Satz. Es gibt keine rationale Zahl, deren Quadrat gleich $2$ ist.
Beweis. Angenommen, $x$ wäre eine rationale Zahl mit $x^2=2$. Dann können wir $x$ als gekürzten Bruch $\frac{m}{n}$ darstellen. Wegen $m^2=2n^2$ müsste $m$ gerade sein, also $m=2p$. Es würde deshalb $n^2=2p^2$ gelten und folglich wäre auch $n$ gerade. Dies steht im Widerspruch dazu, dass $\frac{m}{n}$ ein gekürzter Bruch sein sollte. qed
1.6.6. Ein Algorithmus zur Approximation von Quadratwurzeln.
Als Nächstes stelle ich Ihnen ein Verfahren zur näherungsweisen Berechnung von Quadratwurzeln vor. Es sei $c>0$ und $a>0$ ein Näherungswert für $\sqrt{c}$. Dann setzen wir $b=\frac{c}{a}$. Wegen $ab=c$ können nicht beide größer oder kleiner als $\sqrt{c}$ sein. Die Quadratwurzel $\sqrt{c}$ liegt folglich zwischen $a$ und $b$. Tatsächlich ist die gesuchte Wurzel das geometrische Mittel $\sqrt{ab}=\sqrt{c}$ von $a$ und $b$. Man kann also erwarten, dass das arithmetische Mittel $\frac{a+b}{2}$ eine bessere Näherung an $\sqrt{c}$ liefert als $a$. Wir rechnen nach
$$
\left(\frac{a+b}{2}\right)^2=\frac{1}{4}
\left(a^2+2ab+b^2\right)=\left(\frac{a-b}{2}\right)^2+ab\ge ab
$$
und erhalten nach Wurzelziehen die Ungleichung $$\sqrt{a b}\le \frac{a+b}{2}$$ zwischen arithmetischem und geometrischen Mittel. Die Differenz zwischen beiden lässt sich abschätzen:
$$
\left(\frac{a+b}{2}-\sqrt{a b}\right) \left(\frac{a+b}{2}+\sqrt{a
b}\right)=\left(\frac{a+b}{2}\right)^2-a b =\left (\frac{b-a}{2}\right)^2.
$$
Ist $a\lt b$, so sind $\frac{a+b}{2}$ und $\sqrt{a b}$ beide größer als $a$ und
$$
\frac{a+b}{2} - \sqrt{a b} \lt \frac{1}{2a}\left(\frac{b-a}{2}\right)^2.
$$
Zusammenfassend gilt: Aus $0\lt a \lt \sqrt{c} \lt b$ mit $b=\frac{c}{a}$ folgt
$$
a_1 \lt \sqrt{c} \lt b_1\,
$$
wobei die Werte $a_1$ und $b_1$ gegeben sind durch $b_1=\frac{a+b}{2}$ und $a_1=\frac{c}{b_1}$. Es gilt die Abschätzung
$b_1 -\sqrt{c} \lt \frac{1}{2a}\, \left(\frac{b-a}{2}\right)^2$.
Diese Verfahren hat den Vorteil, dass man es iterieren kann: Wir setzen rekursiv $$b_{n+1}:=\frac{a_n+b_n}2,\quad a_{n+1}:=\frac{c}{b_{n+1}}$$ und erhalten derart ein Verfahren, das jede gewünschte Genauigkeit sehr schnell erreicht. Sind \(a\) und \(c\) rationale Zahlen, so auch die in der Rekursion konstruierten Zahlen \(a_n\) und \(b_n\). Auf diese Weise haben wir eine Menge \(A=\{a_n\}\) von rationalen Zahlen konstruiert, deren Supremum \(\sqrt{c}\) im Allgemeinen keine rationale Zahl ist.
Beispiel: $$
c=2, \qquad a=1,4=\frac{7}{5}; \qquad b=\frac{10}{7} \qquad
a_1=\frac{140}{99}
$$ $$\begin{align*}
a_1&=1,414\,141\,414\,141\ldots&\phantom{Etwas Platz}\\
b_1&=1,414\,285\,714\,285\ldots&\\
b_2=\frac{a_1+b_1}{2}&=1,414\,213\,564\,213\ldots&\\\\
%\end{align*}
%\begin{align*}
\frac{b_1-a_1}{2}&\lt 0,000\,073&\\
b_2-\sqrt{2}\le \frac{1}{2a_1}
\left(\frac{b_1-a_1}{2}\right)^2&\lt 0,000\,000\,002&
\end{align*}$$ Es gilt also jedenfalls:
$$\sqrt{2}= 1,414\,213\,56\ldots.$$ Das Verfahren konvergiert sehr schnell. In jedem Schritt wird die Anzahl der gültigen Dezimalstellen in etwa verdoppelt. Insbesondere ist die rationale Zahl \[b_3=\frac{768398401}{543339720}\] eine Annäherung an die \(\sqrt{2}\) mit 17 validen Dezimalstellen. Der in Computerprogrammen üblicherweise verwandte Standard IEEE 754 mit doppelter Genauigkeit liefert 15 valide Dezimalstellen.
Was haben wir hier gemacht? Zuerst betrachten wir die Quadratabbildung $$\begin{align}\mathbb Q&\to \mathbb Q\\ q&\mapsto q^2\end{align}$$ und bemerken, dass zum Beispiel keine Primzahl, insbesondere nicht die Zahl $2$, im Bild dieser Abbildung ist. Der Satz des Pythagoras besagt, dass geometrisch so eine Zahl konstruiert werden kann. Wie kann das sein? Ist das nicht ein Widerspruch?
Die Antwort kennen Sie schon. Es ist kein Widerspruch. Die Erklärung ist ziemlich banal: In der Geometrie werden räumliche Objekte betrachtet und vermessen. Wie wir wissen, bekommen wir bei Messungen eben keine exakten Zahlen, sondern nur Intervalle von Zahlen. Und tatsächlich, sobald wir mit Intervallen rechnen statt mit exakten Zahlen, verschwindet unser Problem: Aus den Übungen wissen wir, dass die Multiplikation von Intervallen wieder ein Intervall ergibt. Wenden wir die Quadratabbildung an auf die Intervalle $$J_n:=[a_n,b_n]_{\mathbb Q} =\{q\in\mathbb Q\,|\,a_n\le q\leq b_n\}$$ mit Endpunkten die rationalen Zahlen aus dem $n$-ten Schritt unseres Iterationsverfahrens zur Berechnung der Quadratwurzel, so sehen wir:
- Jedes Intervall $J_n\cdot J_n=[a^2_n,b^2_n]_{\mathbb Q}$ enthält die Zahl $2$.
- Die Intervalle sind ineinander enthalten $J_n\supset J_{n+1}$.
- Die Intervalle $J_n$ werden beliebig klein.
Mit anderen Worten: Für alle praktischen Belange fixieren wir ein geeignetes $n$, so dass jede Zahl im Intervall $J_n$ als vollwertiger Ersatz für die nicht-existente rationale Zahl $\sqrt2$ dienen kann. Sollte ein gegebenes Intervall $J_n$ sich einmal als nicht fein genug herausstellen, gehen wir in unserer Iteration einige Schritte weiter, bis die Annäherung wieder fein genug ist.
Die Grundidee der reellen Zahlen stellt sich also wie folgt dar: Statt mit rationalen Zahlen rechnen wir mit Intervallen rationaler Zahlen. Dabei legen wir uns nicht auf eine Intervallänge fest und halten uns damit die Option offen, die Rechengenauigkeit nach Bedarf zu erhöhen.
Als nächstes schauen wir uns an, wie wir diese Grundidee in handfeste Mathematik verwandeln können.