Intervallschachtelungen

Es sei \(\mathbb K\) ein geordneter Körper.

Definition. Eine Intervallschachtelung in \(\mathbb K\) ist eine Menge \(\mathcal S\) von Intervallen der Form \[[a,b]_{\mathbb K}=\{k\in \mathbb K \,|\, a\le k\le b\}\] mit Zahlen $a,b\in \mathbb K$ und \(a\lt b\), die folgende Eigenschaften erfüllt:

  1. Zu je zwei Intervallen $J,J'\in \mathcal S$ gibt es ein $J''\in \mathcal S$ mit $J''\subset J\cap J'$.
  2. Zu jedem Intervall $J=[a,b]_{\mathbb K}\in \mathcal S$ gibt es ein $J'=[a',b']_{\mathbb K}\in \mathcal S$ mit $a\lt a'$.
  3. Zu jeder positiven Zahl $\varepsilon\in\mathbb K$ existiert ein Intervall $J=[a,b]_{\mathbb K}\in \mathcal S$ der Länge $|b-a|\lt \varepsilon$.

Definition. Wir nennen eine Intervallschachtelung generisch, wenn \(\mathrm{ii}\). in verschärfter Form gilt:

  1. (chili) Zu jedem Intervall $J=[a,b]_{\mathbb K}\in \mathcal S$ gibt es ein $J'=[a',b']_{\mathbb K}\in \mathcal S$ mit $a\lt a'$ und $b'\lt b$.

Beispiele.

  1. Für $q\in \mathbb Q$ sind \[
    \left\{\left[q-\frac1n,q+\frac1n\right]_{\mathbb Q}{\large\mid} \,n\in \mathbb N\right\}
    \quad\quad \text{oder}\quad\quad \left\{\left[q-\left( \frac1{2017}\right)^n,q+\left(\frac1{2017}\right)^n\right]_{\mathbb Q}\,{\large\mid}\,n\in \mathbb N\right\}\] Beispiele generischer Intervallschachtelungen. Nicht generische Beispiele sind \[
    \left\{\left[q-\frac1{n^{2017}},q\right]_{\mathbb Q}{\large\mid}\,n\in \mathbb N\right\}
    \quad\quad \text{oder}\quad\quad
    \left\{[a,q]_{\mathbb Q}\mid a\lt q\right\}.\]
  2. Ist $q$ eine rationale Zahl, so beschreibt die Menge $\{[a,b]_{\mathbb Q}\,|\,a\lt q\le b\}$ eine Intervallschachtelung, die Menge $\{[a,b]_{\mathbb Q}\,|\,a\lt q\lt b\}$ eine generische solche.
  3. Die in der iterativen Approximation einer Quadratwurzel $\sqrt{c}$ konstruierten Intervalle $J_n=[a_n,b_n]_{\mathbb Q}$ beschreiben eine generische Intervallschachtelung $\{J_n\,|\,n\in \mathbb N\}$.
  4. Es sei \(0,d_1d_2d_3\dots\) ein nicht abbrechender Dezimalbruch, also \(d_i\in\{0,1,\dots,9\}\) für alle \(i\in\mathbb N\). Wir fordern zusätzlich, dass unendlich viele der \(d_i\) nicht Null sind. Dann ist für eine gegebene ganze Zahl \(D\) die Menge \(\mathcal S= \{E_n\,|\,n\in \mathbb N\} \) mit \[E_n=\left[\left(D+\sum_{i=1}^n\frac{d_i}{10^i}\right), \left(D+\sum_{i=1}^n\frac{d_i}{10^i}\right)+\frac1{10^n}\right]\] eine Intervallschachtelung in \(\mathbb Q\).
    Die Forderung, dass unendlich viele der \(d_i\) nicht Null sind, kann immer erzwungen werden; ein abbrechender Dezimalbruch \(0,d_1d_2\ldots d_n\) mit $d_n\not=0$ kann ersetzt werden durch einen nicht abbrechenden Dezimalbruch der Form \[0,d_1d_2\ldots d'_n99\ldots9\ldots\]mit $d_n'= d_n-1$ und periodischer $9$.
  5. Es sei \(g\ge 2\) eine natürliche Zahl und \(0,h_1h_2h_3\dots\) eine nicht abbrechender $g$-adischer Bruch, also \(h_i\in\{0,1,\dots,(g-1)\}\) für alle \(i\in\mathbb N\). Wir fordern, dass unendlich viele der \(h_i\) nicht Null sind. Dann ist für eine gegebene ganze Zahl \(H\) die Menge \(\mathcal S= \{F_n\,|\,n\in \mathbb N\} \) mit \[F_n=\left[\left(H+\sum_{i=1}^n\frac{h_i}{g^i}\right),\left(H+\sum_{i=1}^n\frac{h_i}{g^i}\right)+ \frac1{g^n}\right]\] eine Intervallschachtelung in \(\mathbb Q\).
  6. Es sei \(I\in \mathcal S\) ein Intervall in einer Intervallschachtelung. Dann ist die Menge \(\mathcal S_I =\{J\in \mathcal S\mid J\subset I\}\) aller Elemente, die Teilintervalle von \(I\) sind, wieder eine Intervallschachtelung.

1.6.7. Satz und Definition. Ist \(\mathcal S\) eine Intervallschachtelung in \(\mathbb Q\), so gibt es höchstens eine rationale Zahl \(s\) im Durchschnitt der Intervalle in \(\mathcal S\). Ist die rationale Zahl \(s\) im Durchschnitt der Intervalle einer generischen Intervallschachtelung \(\mathcal S\), so nennen wir \(\mathcal S\) eine Matrjoschka für \(s\) [1].

Beweis. Wären zwei verschiedene rationale Zahlen \(s\) und \(s'\) im Durchschnitt der Intervalle, so gibt es ein Intervall \( I\in \mathcal S\) einer Länge kleiner als \(\varepsilon=\frac{|s-s'|}2\). Ein solches Intervall kann nicht beide Zahlen enthalten.
qed.

Im Allgemeinen ist der Durchschnitt der Intervalle einer Intervallschachtelung in \(\mathbb Q\) die leere Menge. Gäbe es nämlich im Beispiel der iterativen Approximation der \(\sqrt2\) ein Element \(s\) im Durchschnitt aller Intervalle, so müsste dessen Quadrat gleich \(2\) sein, im Widerspruch zu (1.6.5). Dort, wo in den rationalen Zahlen die \(\sqrt2\) stehen sollte, ist, umgangssprachlich gesprochen, ein Loch. Letztlich beschreiben wir die Lage des Loches mittels einer Intervallschachtelung und stellen uns dann auf den Standpunkt, diese Beschreibung fülle das Loch.

Formal geschieht das, wie sollte es anders auch gehen, mittels des Konzeptes einer Äquivalenzrelation.

Definition. Für Intervallschachtelungen \(\mathcal S\) und \(\mathcal S'\) schreiben wir \(\mathcal S' \prec \mathcal S\) wenn für jedes Intervall \(I\in \mathcal S\) ein Intervall \(I'\in \mathcal S'\) existiert mit \(I'\subset I\).

Warum sollte so eine Definition sinnvoll sein? Gehen wir davon aus, dass eine Intervallschachtelung jeweils eine Messreihe darstellt, welche eine reelle Zahl beliebig genau bestimmt, so ist die Messreihe \(\mathcal S'\) offenbar präziser als die Messreihe \(\mathcal S\), falls gilt \(\mathcal S' \prec \mathcal S\). Wenn bereits \(\mathcal S\) eine reelle Zahl beliebig genau bestimmt, so sollte eine präzisere Messreihe die gleiche reelle Zahl bestimmen.

1.6.8. Satz. Gilt für Intervallschachtelungen die Relation \(\mathcal S' \prec \mathcal S\) und ist \(\mathcal S'\) generisch, so gilt auch die umgekehrte Relation \(\mathcal S \prec \mathcal S'\).

Beweis. Es sei \(I'=[a',b']_{\mathbb K}\in \mathcal S'\) vorgegeben. Da \(\mathcal S'\) generisch ist, existiert in \(\mathcal S'\) ein Intervall \[[c',d']_{\mathbb K}\subset [a',b']_{\mathbb K} \quad\quad\text{so dass gilt }\quad\quad a'\lt c', \quad d'\lt b'.\] Es sei \(\varepsilon\) eine Zahl in \(\mathbb K\) mit \(0\lt\varepsilon\lt \min(c'-a', b'-d')\). Zu \(\varepsilon\) gibt es ein Intervall \(I=[a,b]_{\mathbb K}\in \mathcal S\) mit \(b-a\lt \varepsilon.\) Wir wollen zeigen, dass gilt \(I\subset I'\). Damit wäre der Satz bewiesen.

Wegen \(\mathcal S' \prec \mathcal S\) gibt es zu \(I\in \mathcal S\) ein Intervall \(J'\in \mathcal S'\) mit \(J'\subset I \). Da \(\mathcal S'\) eine Intervallschachtelung ist, gibt es in \(\mathcal S'\) ein Intervall \([e',f']_{\mathbb K} \subset J'\cap [c',d']_{\mathbb K}\).

Aus dieser Konstruktion folgern wir eine Kette von Ungleichungen \[a'\le c'-\varepsilon \le e'-\varepsilon \le (a+\varepsilon)-\varepsilon = a.\] Die erste Ungleichung in dieser Kette gilt nach Definition von \(\varepsilon\). Die zweite Ungleichung gilt wegen \([e',f']_{\mathbb K} \subset [c',d']_{\mathbb K}\). Die dritte Ungleichung erhält man aus der Inklusion \( [e',f']_{\mathbb K} \subset J'\subset I=[a,b]_{\mathbb K}\) wegen \(e'\le b=a+(b-a)\le a+\varepsilon\).

Ebenso erhält man eine analoge Kette von Ungleichungen \[b'\ge d'+\varepsilon \ge f'+\varepsilon \ge (b-\varepsilon)+\varepsilon = b.\] Die erste Ungleichung in dieser Kette gilt nach Definition von \(\varepsilon\). Die zweite Ungleichung gilt wegen \([e',f']_{\mathbb K} \subset [c',d']_{\mathbb K}\). Die dritte Ungleichung erhält man aus der Inklusion \([e',f']_{\mathbb K} \subset J'\subset I=[a,b]_{\mathbb K}\) wegen \(f'\ge a=b-(b-a)\le b-\varepsilon\).

Die beiden Ungleichungen \(a'\le a\) und \(b\le b'\) beweisen die behauptete Inklusion \(I\subset I'\) und damit den Satz. qed

1.6.9. Korollar. Die Relation \( \prec\) ist eine Äquivalenzrelation auf der Menge der generischen Intervallschachtelungen in \(\mathbb K\) .

Beweis. Die Reflexivität ist offensichtlich, wie auch die Transitivität. Die Symmetrie folgt aus (1.6.8.). qed

Wir präzisieren den Existenzsatz (1.6.4) für die reellen Zahlen.

1.6.4$_p$. Satz. Es bezeichne \(\mathbb R\) die Menge der Äquivalenzklassen generischer Intervallschachtelungen in \(\mathbb Q\) bezüglich der Äquivalenzrelation \( \prec\). Addition und Multiplikation von Intervallen induzieren Addition und Multiplikation auf \(\mathbb R\), die Anordnung auf \(\mathbb Q\) induziert eine Anordnung auf \(\mathbb R\). Ist \(\mathcal O\) eine Matrjoschka für die Null, so induziert die Zuordnung \(q\mapsto \overline{q+\mathcal O}\) eine Inklusion \(\iota:\mathbb Q\to \mathbb R\), welche Addition, Multiplikation und Anordnung respektiert. Es gilt:

  • Jede nach oben beschränkte Menge \(X\subset \mathbb R\) besitzt ein Supremum.
  • Jedes Element \(r\in\mathbb R\) ist Supremum einer in \(\mathbb Q\) beschränkten Teilmenge von \(\mathbb Q\).

Man nennt \(\mathbb R\) den Körper der reellen Zahlen.

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[1] Der hier benutzte Begriff Matrjoschka ist kein gängiger mathematischer Begriff und wird nur im Rahmen dieser Vorlesung benutzt.

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